Die Entscheidung
Vilya konnte nicht stillsitzen. Ihr Fuß schlug immer wieder gegen das Tischbein und ihre Finger tippten nervös auf den Armlehnen. Faenen hatte sich schon an das rhythmische Geräusch gewöhnt, sodass es ihn nicht mehr groß störte. Mîthtan dagegen fixierte sie inzwischen mit hasserfüllten blauen Augen. Er konnte Kinder nicht leiden, nervige Kinder noch weniger. Auch wenn Vilya schon fast erwachsen war, würde sie in seinen Augen noch für eine ganze Weile ein Kind bleiben, so wie Faenen eines war.
„Du kennst Maethorn am besten, was wird er mit Valaina anstellen?", fragte Vilya plötzlich und hörte auf gegen das Tischbein zu schlagen. Die Leibwache Maethorns sah sie etwas überrascht an. Warum sollte sie glauben, dass er ihr etwas Derartiges verraten würde?
„Auch wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen", brummte er schlecht gelaunt.
„Du hast keine Geschwister, hm?" Mîthtan entschied, dass ihm diese Frage nicht einmal eine ähnliche Antwort, wie seine letzte wert sei. Er senkte seinen Blick wieder auf seine Hände, in denen er inzwischen mit dem kurzen Dolch herumspielte, und ignorierte die Elbin.
Vilya seufzte und stand auf.
„Was hast du vor?", fragte Faenen und fuhr herum.
„Meine Mutter suchen. Mein Vater ist tot und Maethorn droht mir nun auch noch meine kleine Schwester zu nehmen, also werde ich den letzten Teil meiner Familie suchen, der noch am Leben ist", erklärte die Elbin, doch erstarrte noch im selben Moment.
Durch die Tür kam nämlich endlich eine lang erwartete Person, eine Person mit Antworten.
„Legolas!", rief Vilya erleichtert und kam ihm einige Schritte entgegen, um ihn zu umarmen. In seiner Hand waren einige Papiere und sein Gesicht war merkwürdig gleichgültig oder zufrieden.
Nun stand auch Mîthtan auf und streckte sich kurz.
„Sind die Verhandlungen vorbei?", fragte er mit seiner tiefen, ernsten Stimme.
„Das Waldlandreich zieht sich aus dem Krieg der Nanór und Eglath zurück. Den Nanór wurde eine sichere Passage zurück in ihr Reich versichert", verkündete Legolas und hielt seine Freundin weiterhin fest in den Armen. Sie musste den Blick abwenden. Mîthtan dagegen nickte bloß als Zeichen, dass er verstanden hatte.
„Das heißt, dass ich gehen muss", murmelte Vilya niedergeschlagen.
„Nein, heißt es nicht", lächelte Legolas sanft und blätterte kurz durch die Papiere in seiner Hand, bevor er eines herauszog und ihr überreichte. Sie überflog es und sah verwirrt auf.
„Was heißt das?" Sie war nicht vertraut mit den hochgestochenen Worten eines solchen Dokumentes.
„Dass du bleiben darfst, solange wir nicht offiziell heiraten", erklärte der Prinz und strich ihr über den Arm. Ihr fiel ein mächtiger Stein vom Herzen.
„Und meine Mutter und Valaina?", fragte sie schnell nach. Legolas schüttelte bloß leicht den Kopf. Bevor sie weitersprechen konnten, erhob sich nun auch Faenen und ging einen Schritt zu Mîthtan. Er hatte genug Zeit gehabt, um sich über sein Schicksal klarzuwerden.
„Faenen", hielt Legolas seinen Cousin auf und blätterte abermals durch die Papiere, bis er auch ihm eines davon gab. Er überflog es ebenso schnell wie Vilya, doch schien um einiges mehr dabei zu verstehen. Ungläubig sah er auf. „Wie?", fragte er mit verrauchter Stimme.
„Dein Vater", antwortete der Prinz ihm mit einem sehr ernsten Ausdruck im Gesicht. Faenen nickte langsam und hielt Mîthtan das Dokument hin, welcher es ihm wütend aus der Hand riss. Als seine Augen die Zeilen lasen, drückte er einige Falten in das Papier vor Zorn. Vilya kam nicht umhin, sich etwas in Legolas' Mantel zu krallen.
„Gehen wir", bellte die Wache und packte Faenen grob am Arm, um ihn mit sich zu ziehen.
„Was stand auf dem Papier?", fragte Vilya eingeschüchtert.
„Er ist frei, solange er sich in keinem der drei Königreiche aufhält. Weiteres muss er einen Eid leisten, niemandem davon zu erzählen, was er über die Eglath und die Nanór weiß. Sein Vater nimmt dafür seinen Platz in den Verließen der Eglath ein", erzählte Legolas dumpf. Seine Freundin seufzte und sah Faenen und Mîthtan hinterher.
„Sind das Nachrichten, über die man sich freuen kann?", fragte sie besorgt, denn sie kannte diesen Ausdruck auf dem Gesicht des Prinzen inzwischen sehr gut.
„König Daeron ist ungewöhnlich schnell auf diesen Vorschlag eingegangen. Da muss noch mehr dahinterstecken, doch ich kenne mich nicht gut genug aus mit Glânaew, seinen beiden Söhnen und ihrer Verbindung zu diesem Krieg, um sagen zu können was."
„Aber Faenen ist frei, das ist gut zu hören", murmelte Vilya leise.
„Ja, verhasst von zwei Völkern und in das eine Reich, das ihm Schutz bieten würde, darf er nicht zurückkehren", vervollständigte Legolas grimmig.
„Ich dachte, dass er auf der Seite der Nanór wäre?", fragte sie verwirrt nach.
„Ist er, aber auch sie sind der Ansicht, dass er ein Spion ist. Niemand darf ihr Reich verlassen und er hat sich ungefragt über ihre Grenzen geschlichen, soweit ich weiß. Aber mehr kann dir wahrscheinlich nur Faenen selbst sagen."
Er wandte sich ihr wieder vollends zu und legte sanft eine Hand an ihre Wange. Einige Sekunden sah er ihr tief in die Augen, dann küsste er sie.
„Mein Vater war nicht begeistert", lächelte er amüsiert und nahm mit der anderen Hand die ihre in seine. Sie musste ebenfalls leise lachen und nickte, doch in ihrem Kopf hatte sie noch nicht vergessen, was sie zuvor besprochen hatten.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Mutter und Schwester so einfach zurücklassen kann", sagte sie bedrückt.
„Ich weiß", erwiderte Legolas ernst. „Du solltest mit ihnen reden. Die meisten von ihnen werden noch vor dem Morgengrauen aufbrechen, nehme ich an."
Sie nickte stumm und umarmte ihn noch einmal. Seine Berührung gab ihr so viel Sicherheit. Sie wollte noch gar nicht richtig realisieren, dass sie nun mit ihm zusammen sein konnte, dass sie glücklich sein konnte, denn es stand zu viel auf dem Spiel. Sie musste sich von ihrer Schwester und Mutter verabschieden, musste sich gegen den Widerwillen des Königs wappnen und dann war da auch noch die Nacht mit Elrohir in Bruchtal, von der sie Legolas noch nicht erzählt hatte. Es war so viel geschehen in den letzten Monaten, dass sie das alles noch nicht hatte verarbeiten können. Sie wollte bloß Ruhe, wollte Nachdenken, wollte, dass alles so wie früher war, als sie noch nie etwas von den Nanór oder den Eglath oder Maethorn gehört hatte.
Vilya holte tief Luft und trennte sich von Legolas. „Dann werde ich meine Mutter suchen gehen", sagte sie leise und ließ seine Hände nur langsam los, bevor sie ging. Der Prinz sah ihr einige Sekunden hinterher, dann folgte er ihr auf den Gang hinaus und machte sich langsam auf den Weg in Richtung Eingangshalle.
Bevor er allerdings viele Schritte tun konnte, wurde er bereits von Valaina abgefangen, die ihn in eine stille Ecke schob.
„Ich werde dir etwas erzählen, aber du musst mir versprechen, dass du es Vilya nicht sagst", sprach sie eindringlich und zog nervös an Legolas' Ärmel. Dieser sah sie verwirrt und überrumpelt von der fehlenden Begrüßung an.
„Was?", fragte er bloß.
„Ich brauche deine Hilfe, oder Vilya braucht deine Hilfe, um genauer zu sein. Du musst mir helfen ihr zu helfen!" Legolas lachte und hob eine Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen.
„Schon gut, schon gut, ich werde Vilya nichts sagen, was ist denn passiert?"
Valaina holte tief Luft. „Meine Mutter ist tot. Maethorn hat sie umgebracht." Legolas' Lächeln verblasste im Bruchteil einer Sekunde. Zuerst starrte er ihr in die blauen Augen, wartete, dass sie aufsprang und rief, dass es nur ein Witz gewesen war (ein schlechter Witz, zugegeben), doch als das kleine Mädchen keine derartigen Anstalten machte, begann er ihre Worte wirklich zu realisieren.
„Du musst dich dafür einsetzten, dass sie hier im Palast bleiben kann", fuhr sie fort.
„Das habe ich, sie kann hier verweilen, aber Valaina..."
„Perfekt!", unterbrach sie ihn schnell und ihr Kinn reckte sich einige Fingerbreit in die Höhe. „Ich habe mich schon darum gekümmert, dass mich jemand mitnimmt. Ich brauche nur deine Hilfe, um Vilya zu überzeugen hierzubleiben. Sie ist bei dir viel besser aufgehoben. Ich will, dass sie glücklich ist."
„Valaina, deine Mutter", versuchte Legolas wieder ans Wort zu kommen.
„Ist tot, daran kann man nichts ändern. Und ich muss dieses Reich verlassen, daran kann man genauso wenig ändern. Versprich mir, dass du sie überzeugst hierzubleiben, damit sie glücklich ist, bei dir ist."
Dem Elben blieben die Worte im Halse stecken. Was sollte er tun? Er konnte Vilya doch nicht ihr restliches Leben anlügen!
„Sie wird dir folgen wollen", brachte er schließlich hervor.
„Deswegen wirst du ihr nichts davon sagen, was wir gerade besprechen. Ich werde so schnell wie möglich verschwinden und du wirst ihr ausrichten, dass unsere Mutter und ich sie nicht vor die Wahl stellen wollten, dass wir wollten, dass sie hier mit ihrem eigenen Volk glücklich ist, in dem Reich, in dem sie aufgewachsen ist."
„Aber du kannst nicht alleine gehen."
„Wie gesagt, darum habe ich mich bereits gekümmert. Ich werde nicht alleine sein."
Seine Gedanken wirbelten. Er war gerade noch in den wohl wichtigsten Verhandlungen seines Lebens gewesen und nun wurde er schon wieder in Intrige hineingezogen? Konnte Valaina nicht einfach selbst mit ihrer Schwester sprechen?
„Ach, wie dem auch sei, vergiss nicht, dass du versprochen hast, Vilya nichts von unserer Mutter zu erzählen. Ich werde jetzt gehen. Du wirst schon erkennen, dass ich recht habe", seufzte Valaina etwas genervt als er nicht antwortete, machte auf der Stelle kehrt und spazierte schon davon.
Legolas fuhr sich durch die Haare und schüttelte den Kopf. Valanya durfte nicht tot sein. Die beiden konnten nicht auch noch ihr zweites Elternteil verlieren.
Wie konnte Valaina so gut damit umgehen? Und wie lange wusste sie es schon?
Er atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Wie sehr konnte er darauf vertrauen, dass sie sich wirklich um ihre eigene Begleitung kümmern würde?
Ein paar Ecken später – vermutlich hatte es etwas mit Valainas Anwesenheit in diesem Trakt zu tun – sah er plötzlich Maethorn mit seinen beiden Wachen vor sich.
„Ihr!", rief er wütend und legte eine Hand auf das Heft seines Schwertes, welches er eigentlich nicht vorhatte zu ziehen, doch er spürte solch einen Zorn in sich aufsteigen, dass er sich nicht sicher war, ob er sich würde kontrollieren können.
Maethorn drehte sich herum und sah den Prinzen auf sich zukommen. „Ah, ich nehme an, Valaina hat mit Euch gesprochen", sagte er und machte keine Anstalten auch seine Waffen zu ziehen als Verteidigung.
Legolas antwortete nicht, bis er vor ihm stand, und schlug ihm einfach mit der Faust ins Gesicht. Er war selbst überrascht von seinem Mut. Entschlossen sah er ihm in die Augen, auf alles vorbereitet.
Doch Maethorn fasste sich einfach ans Kinn, knurrte kurz und sah wieder zu ihm, als hätte der Schlag ihm nicht viel angehabt.
„Das werde ich Euch durchgehen lassen, weil Ihr der Sohn des Königs seid, in dessen Palast wir uns gerade befinden, doch ein zweites Mal nicht mehr", sagte er bedrohlich und ließ sein Kinn wieder los.
„Damit werdet Ihr nicht so einfach davonkommen", erwiderte Legolas bloß grimmig.
„Sieht ganz danach aus, als würde ich es. Oder wollt Ihr nun, nach den Verhandlungen, doch noch Krieg beginnen?"
Legolas ballte seine Hand wieder zur Faust, doch konnte sich zurückhalten.
„Legolas!", rief jemand hinter ihm. Er erkannte die Stimme sofort. Es war Vilya. Sie wollte nicht, dass er sich mit jemand so gefährlichem stritt.
Ohne ein Wort des Abschieds, drehte der Prinz sich um und ging davon zu seiner Freundin.
„Ich hätte zurückgeschlagen", knurrte Mîthtan mit verschränkten Armen.
„Eines Tages wirst auch du verstehen, dass man sich nicht leichtfertig königliche Feinde macht", seufzte Maethorn und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Außerdem habe ich das leise Gefühl, dass wir uns wiedersehen werden – und vielleicht sogar auf dem Schlachtfeld. Dann werde ich keine Gnade mehr walten lassen." Mit diesen Worten machten sich die drei auf den Weg zu ihren Leuten. Es gab nichts mehr zu tun für sie, zumindest jetzt noch nicht.
Legolas hatte Vilya indessen erreicht und ging neben ihr in die entgegengesetzte Richtung der Eglath.
„Ich kann meine Mutter und Valaina nicht finden", erzählte Vilya besorgt. Legolas blieb stehen und zögerte einen Moment. Sollte er wirklich Valainas Plan verfolgen? Er konnte sein Wort nicht brechen, aber anlügen wollte er Vilya auch nicht.
„Valaina hat sich vorhin von mir verabschiedet. Ich dachte, dass sie schon bei dir gewesen wäre", sagte er schließlich, ohne ihr in die Augen zu sehen.
„Warum hast du gezögert?"
Er sah sie begriffsstutzig an.
„Bevor du mir das gesagt hast, warum hast du so lang gezögert? Was hat Valaina noch gesagt?"
Er machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu.
„Legolas!" Sie fasste ihn aufgeregt am Arm.
„Dass sie dich nicht vor die Wahl stellen wollte. Sie ist schon abgereist", gestand er endlich. Er konnte sie nicht anlügen, das hatte sie nicht verdient.
Sie taumelte einen Schritt zurück und sah ihn aus panisch weit aufgerissenen Augen an.
„Wenn... wenn ich sie nicht mehr aufhalten kann, mich nicht verabschieden kann, dann werde ich dir das niemals verzeihen, niemals!", rief sie und stob schon davon.
Legolas schluckte schwer und senkte den Blick. Er wusste, dass sie Valaina nicht mehr finden würde und konnte nur hoffen, dass sie niemals nicht ernst gemeint hatte.
(Die Story geht im zweiten Teil „Das Herz einer Schwester" weiter)
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