Bruchtal

Elrohir baute Vilya überraschend oft in seine Gespräche mit Faenen ein. Sie hatte erwartet nicht groß beachtet zu werden auf der restlichen Reise in das Tal, doch hatte nun fast das Gefühl selbst wie eine Prinzessin behandelt zu werden.
Man merkte Elrohir an, dass er der Sohn eines sehr schlauen und erfahrenen Elben war. Er reagierte niemals impulsiv oder unüberlegt. Die Leute, die er anführte, waren niemals unzufrieden mit seinen Entscheidungen, obwohl viele von ihnen vermutlich zehn Mal so alt wie er waren. Er hatte alles unter Kontrolle und ließ es nach keiner großen Mühe aussehen.
In der Nacht stand er Wache und wollte auf keinen Fall zulassen, dass Faenen oder Vilya sich zu ihm gesellten. Sie hatten nur selten nach Pausen gefragt und er war aufmerksam genug, um zu sehen, dass die beiden sehr erschöpft waren.
Doch so müde Vilya auch war, sie wehrte sich dagegen einzuschlafen. Sie wurde von Albträumen geplagt und wollte nicht, dass Faenen sich Sorgen machte.

Darum war sie umso erleichterter als sie endlich aus einem schmalen Pfad zwischen dichten Bäumen hervortraten und das wunderschöne Tal vor sich sehen konnten. Es entsprach allen Liedern und Geschichten, die Vilya jemals über Imladris gehört hatte. Viele rauschende Wasserfälle brachen aus den umliegenden Bergen herein und umspielten die weißen, graziös verzierten Häuser. Die schwache Wintersonne ließ kleine Regenbögen in dem aufgewirbelten Nebel spielen.
„Vilya?", holte Faenen sie aus dem Staunen. Sie zuckte kurz zusammen und sah schnell auf.
„Tut mir leid", lachte sie etwas peinlich berührt und holte zu ihm auf.
„Wir alle haben so geschaut als wir das Tal zum ersten Mal gesehen haben", lächelte Faenen und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Zumindest die, die nicht hier geboren wurden", fügte er leiser mit einem Blick zu Elrohir hinzu, der ganz vorne ging und den Kommentar sehr wohl gehört hatte. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Der Pfad wurde breiter und führte über einige Brücken auf den weißen Hauptplatz der Stadt.
„Ich werde meinem Vater von eurer Ankunft berichten. Faenen kann euch beiden einstweilen die Stadt zeigen. Fühlt euch wie zu Hause", lächelte Elrohir und entließ gleichzeitig die Wachen mit einer Handbewegung.
„Wie ich sehe habt ihr doch eine andere Führerin", ergänzte der Elb noch, als er sich wieder zum Gehen wandte. Aus einem der Häuser lief eine junge Frau, jünger als Faenen, doch älter als Vilya.
Ihre langen dunkelbraunen Haare wehten im Wind, als sie auf die Besucher zulief. Ihre Haut war schneeweiß und das klare Gesicht makellos und glatt. Die Augen strahlten wie zwei Sterne im Grau einer wolkenlosen Nacht. Ihr helles Gewand hatte keinen Schmuck außer einem Gürtel aus silbergetriebenen Blättern.
Wieder kam Vilya aus dem Staunen nicht heraus. Nicht einmal die Königin des Waldlandreiches hätte diese Schönheit übertreffen können.
„Arwen Undómiel, dein Anblick erfreut mein Herz", begrüßte Faenen sie mit einem breiten Lächeln und öffnete die Arme, sodass die kleinere Elbin ihn stürmisch umarmen konnte.
„Ich bin froh dich zu sehen, Faenen. Wie geht es dir? Wie ist die Schlacht ausgegangen?", fragte Arwen etwas außer Atem und warf einen Blick zu ihrem Bruder, der die beiden amüsiert beobachtet hatte.
„Es geht mir gut, doch die Schlacht wurde verloren", lächelte Faenen und ließ sie los.
Ihre leuchtenden Augen weiteten sich schockiert ein Stück.
„Du musst mir alles erzählen."
Elrohir hob kurz die Hand zum Abschied, dann warf er Vilya noch einen vielsagenden Blick zu und ging davon in Richtung eines großen Hauses am Rande der Stadt.
„Zuerst muss ich dir meine Wegbegleiterin vorstellen: Vilya, Tochter von Maruvan", wehrte Faenen ab und deutete auf die etwas verlorene Elbin ein Stück hinter ihm. „Sie hat ebenso in der Schlacht mitgekämpft."
Die Prinzessin sah Vilya etwas ehrfürchtig an. Sie selbst hätte nicht im Traum in Erwägung gezogen in solch eine Schlacht zu ziehen.
„Dann bist du sehr mutig", sagte sie fast atemlos.
„Ich danke Euch, Prinzessin", lächelte Vilya höflich und neigte den Kopf. Inzwischen dachte sie ganz anders darüber. Die Bilder und Eindrücke jagten sie immer noch. Besonders, da ihre Zukunft mit Legolas nun kein Stück besser als zuvor aussah, hätte sie im Nachhinein lieber nicht mitgekämpft.

„Dann lasst uns durch die Stadt spazieren und ihr beide erzählt mir genau, was passiert ist", sprach Arwen, deren Laune sich augenblicklich wieder aufgehellt hatte.
Faenen nickte und wandte sich schon zum Gehen, doch Vilya zögerte.
„Wenn Ihr erlaubt, Prinzessin, werde ich mich lieber zur Ruhe begeben. Die Reise war lang und die Schlacht anstrengend", hielt sie die bildhübsche Elbin auf. Diese drehte sich sofort zurück und weitete die Augen ein Stück.
„Natürlich, bitte, ruhe dich aus. Führt sie in eines der Zimmer im Hause meines Vaters, sie ist ein Ehrengast." Der letzte Satz war an eine der Wachen, die an der Brücke standen, gerichtet gewesen. Diese verneigte sich sofort und trat einige Schritte näher zu Vilya, welche sich mit einer knappen Bewegung von ihrem Freund und Arwen verabschiedete. Sie wusste nicht, ob zwischen den beiden eine besondere Anziehung herrschte und wollte sie nicht unnötig stören. Außerdem war sie nicht erpicht darauf, über die Schlacht zu sprechen. Das würde bloß unschöne Erinnerungen hervorrufen, die sie sowieso nicht in Ruhe zu lassen schienen.

Elronds Haus war über eine geländerlose Brücke zu erreichen. Sie war schmal und gewunden, unter ihr führte ein schneller Strom sein Wasser, was für manche Menschen wohl einschüchternd wirken mochte, doch für eine Elbin keinesfalls eine Schwierigkeit darstellte.
Es war mehrstöckig und lag an einem Flussufer. Vilya erhaschte noch einen Blick auf einige Terrassen mit steingehauenen Sitzbänken, bevor sie auch schon durch die breite Tür traten.
Wärme und der Duft nach gutem Essen schlugen ihr entgegen. Sofort merkte sie die Leere ihres Magens und das Brummen der Müdigkeit in ihrem Schädel.
Von dem mit rotem Teppich ausgelegten Gang, auf dem sie sich befanden, führten einige Treppen nach oben. Zwischen ihnen befanden sich geschlossene Türen, die den winzigen Beschriftungen nach zu urteilen, zu Festsälen, Besprechungszimmern oder Kaminzimmern führten.

Die dunkelhaarige Wache wollte sie gerade über eine der Treppen in den ersten Stock bringen, da kam ihnen ein bekanntes Gesicht entgegen.
„Ich dachte du würdest deinem Vater Bericht erstatten?", fragte Vilya und blieb stehen. Die Wache nahm sofort Haltung an, als ihr Herr sich ihnen näherte.
„Er wollte, dass ich Prinz Faenen hole. Die Frage ist eher, was du hier ohne ihn tust?", lächelte Elrohir und sah zu der Wache neben ihr.
„Ich wollte mich etwas ausruhen von der Reise, außerdem haben die beiden nicht so ausgesehen, als ob sie gestört werden wollten." Vilya hob die Brauen und sah ihn fragend an. Er musste lachen.
„Die beiden sind wie Bruder und Schwester. Sie eifert ihm nach und er sieht in ihr die kleine Schwester, die er nie hatte", erklärte er amüsiert. „Aber es sieht so aus, als müsste ich sie sowieso stören. Dich betreffend hat mein Vater nichts gesagt, doch ich werde dich gerne vorstellen, wenn du dich ausgeruht hast."
Vilyas Augen weiteten sich angsterfüllt ein Stück. Sie konnte inzwischen mit Prinzen und Prinzessinnen umgehen, doch Könige waren für sie immer noch unerreichbar.
„Wenn du willst", ergänzte Elrohir schnell mit einem breiten Lächeln.
„Danke", brachte die Elbin etwas holprig hervor.
„Dann hoffe ich, dass du hier mehr Schlaf bekommst als in den Nächten unserer Reise", verabschiedete der Prinz sich mit einem netten Zwinkern und ging schon an ihr vorbei.
Vilya sah ihm überrascht einige Sekunden hinterher. Er hatte ihre Albträume bemerkt?

Sie wurde in ein geräumiges, rustikal eingerichtetes Zimmer geführt, von dem eine Tür in ein Badezimmer führte, das von weißem Marmor fast zu leuchten schien. In ihm stand ein Pool von etwa drei Meter Durchmesser. Das Wasser war bereits eingelassen und dampfte leicht. Vilya war sich nicht sicher, ob es das immer tat, oder bloß für ihre Ankunft vorbereitet wurde. Auf den Verdacht, dass letzteres zutraf, nahm sie sofort ihre verhärteten, geschwärzten, stinkenden Kleider ab, die nur von dem neuen Mantel, den Faenen ihr im Lager ihrer Leute hatte besorgen können, bis jetzt verdeckt worden waren.
Das warme Wasser fühlte sich fast heilend an auf ihrer glatten, blassen Haut, obwohl sie keine oberflächlichen Wunden mehr hatte. Zum ersten Mal seit einigen Tagen fühlte sie sich durch und durch warm. Die Kälte des eisigen Wasserfalles war ihr bis jetzt immer in den Knochen gesessen.

Als sie bis zum Hals hineinsank, blitzten plötzlich Bilder in ihrem inneren Auge auf. Schwarze Wassermassen, die sie hinunterdrückten, ihr die Luft zum Atmen raubten. Sie war sich fast sicher eine Hand um ihre Kehle spüren zu können.
Schon schreckte sie auf und fasste sich an den Hals. Es war niemand hier, niemand, der sie hätte ertränken können.
Schwer atmend krallte sie sich an den keramischen Rand des Pools. Er gab ihr etwas Sicherheit zurück, doch das Wasser schien immer noch erdrückend auf ihrem Körper.
Sie beruhigte sich einige Sekunden, dann machte sie sich daran sich einfach zu waschen. Sie konnte die Augen nicht mehr schließen, wollte so wenig Zeit wie nötig in dem Bad verbringen.

Wenig später stand sie auch schon vor einem der Schränke in ihrem großen Schlafzimmer, das gleichzeitig auch das Wohnzimmer war, und starrte die blumig duftenden Kleidungsstücke an. Sie würden wohl kaum hier sein, wenn sie sie nicht anziehen durfte. Außerdem konnte ihr niemand verübeln, dass sie nicht zurück in die versifften Kleider, die sie in der Schlacht getragen hatte, wollte.
Kurz entschlossen nahm sie sich ein cremig-weißes Hemd, eine schwarze Leinenhose und dunkelbraune weiche Stiefel heraus. Alle drei waren von einer Art Stoff, die sie erst bei ihrem Besuch im Palast des Waldlandreiches kennengelernt hatte. Sie lagen samtig auf der Haut, kühlten im Sommer und wärmten im Winter.

Der Schreck im Bad hatte sie so wachgeschüttelt, dass sie beschloss, sich doch noch etwas im großen Haus Elronds umzusehen. Schlaf war etwas, das sie gerne vermied, wenn es möglich war.
Kurz betrachtete sie sich noch in dem Ganzkörperspiegel, ihre feuchten dunklen Haare richtend, dann drehte sie sich um und verließ ihre Gemächer.

Das Haus war tatsächlich noch größer, als es von außen ausgesehen hatte. Vilya traute sich nicht in jede Tür zu schauen, doch betrat sie neugierig den großen Festsaal und die Halle des Feuers, deren Ruf bis zu ihrem kleinen Dorf vorgedrungen war. Das ganze Jahr brannte dort ein Feuer. Außerhalb der Feiertage wurde sie genutzt, um dort Ruhe zum Nachdenken zu finden. Einige wenige Elben saßen auf den Holzbänken um das knisternde Feuer herum.
Vilya wollte sie nicht stören, weshalb sie mit ihrer Erkundungstour fortfuhr.

Irgendwann kam sie zu einer breiten Fensterbank, auf der zwei flauschige Decken lagen. Sie ließ sich darauf nieder und sah nachdenklich nach draußen. Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Das Fenster führte in den Osten hinaus und offenbarte den Blick auf einen Wintergarten mit vielen bunten Blumen. Die Blüten waren bereits geschlossen in der hereinbrechenden Nacht.
Nun fielen ihr doch langsam die Augen zu und bevor sie sich versah, war sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

So tief, dass sie nicht aufwachte, als sie ein Albtraum heimsuchte. Sie zuckte und schlug um sich, während leise Laute ihren Mund verließen. Auf ihrem Gesicht stand die Entsetzung geschrieben.
Elrohir war auf dem Weg in seine Gemächer von einer langen Besprechung mit seinen Eltern, Faenen und seinem Bruder. Es war inzwischen Nacht geworden und in dem Haus seines Vaters standen nur mehr am Eingang Wachen. Darum war er der einzige, der um diese Uhrzeit auf den Gängen war.
Schwach hörte er etwas murmeln. Es klang hilflos und verzweifelt.
Mit gerunzelter Stirn ging er dem nach und erkannte Vilya auf der Fensterbank, geplagt von einem Albtraum.
Er setzte sich neben sie und legte sanft eine Hand an ihren Arm.
Sofort schreckte zusammen und riss die Augen weit auf.
„Alles ist gut, du bist in Bruchtal", versuchte er sie zu beruhigen und hielt ihren Arm vorsichtig, doch bestimmt fest. Sie beruhigte sich etwas, musterte Elrohir und sah hinaus aus dem Fenster in den mondbeschienen Garten und die glitzernden Wasserfälle dahinter.
„Willst du mir davon erzählen? Was am Gundabad passiert ist, meine ich?", fragte Elrohir einfühlsam. Sie fuhr sich über das verschlafene Gesicht und zögerte lange.

„Es wird einfacher, wenn du darüber redest", fuhr er fort. Sie sah ihm in die grauen Augen und merkte, wie deren Gutmütigkeit ihr die Angst nahm.
„Ich war allein. Als ich Faenen zwei Elben übergeben habe, die ihn zu Heilern gebracht haben, war ich allein. Sie haben mich zurück in die Schlacht geschickt", begann sie langsam und wandte den Blick ab. Ein bitteres Lachen entwich ihr. „Ich wurde durch den halben Berg gejagt, bis ich schließlich vor der Entscheidung stand mich auszuliefern oder einen großen eiskalten Wasserfall hinunterzuspringen."
„Und du bist gesprungen", schlussfolgerte Elrohir und strich sanft über ihren Arm. Sie zögerte und nickte schließlich schwach.

„Und jetzt träume ich davon, was gewesen wäre, wenn ich gekämpft hätte."
„Das ist egal, du hast die richtige Entscheidung getroffen, du bist hier."
Sie schaute überraschend ernst auf.
„Nein, habe ich nicht. Ich wäre gestorben, ich hätte ertrinken sollen", sagte sie verzweifelt und sprang auf die Beine.
„Warum sagst du so etwas?", fragte Elrohir und erhob sich ebenfalls, um sie aufzuhalten.
„Es war nicht meine eigene Kraft, die mir das Leben gerettet hat. Ich war am Grund von diesem See, ich wäre gestorben", presste sie aus zugeschnürter Kehle hervor.
Er trat vorsichtig näher.
„Wer hat dich gerettet?", fragte er mit rauer Stimme.
Sie brachte kein Wort mehr hervor und musste den Blickkontakt brechen.
„Ich weiß es nicht", hauchte sie leise.
„Ich denke, dass du es sehr genau weißt, doch du willst es dir nicht eingestehen."
Mit Tränen in den Augen sah sie wieder zu ihm auf. Er breitete bloß seine Arme aus und umarmte sie.
Damit war es um Vilya geschehen. Die Tränen kullerten ihr über die heißen Wangen und ihre Finger gruben sich in den weichen Stoff an seiner Brust.
Er war einen Kopf größer als sie und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die ebenholzfarbigen Haare.

Einige Minuten standen sie so da, bis Vilya sich etwas beruhigt hatte und sich von ihm trennte.
„Danke", sagte sie leise. Er lächelte und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Hast du schon einmal bei einer derartigen Schlacht mitgekämpft?", fragte sie und wischte sich die Tränen weg.
„Nein und ich bin froh darüber", antwortete er ruhig und hielt sie immer noch leicht in seinen Armen, was ihr das starke Gefühl von Sicherheit gab. Nicht jenes, das sie bei Legolas erfahren hatte, doch trotzdem ein Gutes.
„Prinz Legolas wollte unter allen Umständen mitkämpfen, um die Erfahrung zu erhalten", sagte sie und räusperte ihre belegte Stimme.
„Das kann ich verstehen, aber für mich würde es keinen Sinn machen mein Leben dafür aufs Spiel zu setzen, nicht in so jungen Jahren", erklärte der Prinz. Vilya nickte und wandte den Blick ab.
„Ich soll dir von Faenen ausrichten, dass er mit dir sprechen will, aber ich bin mir nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist", murmelte er leise.
„Es geht mir gut", widersprach die Elbin sofort und rümpfte die Nase. Er hielt sie noch schnell am Arm fest, bevor sie abhauen konnte.
„Ich bin immer für dich da, wenn du reden willst." Sie sah überrascht auf. Wie konnte er so nett sein, wenn er sie doch kaum kannte? Oder sagte er es nur aus Höflichkeit?
„Danke."

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