6. Kapitel
Kurz nach dem Mittagessen betrat Jace Alecs Zimmer, auf der Schulter einen schwarzen Rucksack. „Hey, Alec. Alles klar?", begrüßte er ihn lässig und kam zu seinem Bett. „Ich habe dir Nachschub an Filmen mitgebracht.", teilte er ihm freudig mit und hielt ihm den Rucksack vor die Nase, bevor er ihn abstellte. „Hi, Jace. Ich danke dir. Den Nachschub kann ich gut gebrauchen. Ich habe viel zu viel Zeit die ich rumkriegen muss." „Wenn das so ist, dann habe ich deine ultimative Rettung dabei.", grinste Jace ihn an. Er setzte sich zu ihm und öffnete den Rucksack. Nach ein paar Augenblicken zog er einen Laptop daraus hervor und stellte ihn auf Alecs Schoß. Dann öffnete er einen der vorderen Reißverschlüsse und beförderte einen weißen USB-Stick und einen kleinen gefalteten Zettel zu Tage, die er Alec nacheinander entgegenstreckte. „Das ist ein Surf-Stick und hier drauf stehen meine Netflix Zugangsdaten.", verkündete er feierlich. Alec konnte nicht anders und prustete los. Jace sah aus wie ein Kind am Weihnachtstag, das sich mit leuchtenden Augen über die Geschenke unter dem Baum freute. Leider verging ihm das Lachen wieder sehr schnell, weil er schmerzhaft an seinen Muskelkater erinnert wurde. Er keuchte und hielt sich mit zusammengebissenen Zähnen seinen linken Arm. „Alles okay, Alec?" Jace sah ihn etwas hilflos an. Alec nickte und ließ seinen Arm los. So schnell wie der Krampf gekommen war, ging er auch schon wieder. Nur das Pochen spürte er nun deutlicher. „Alles ist gut, Jace. Ich habe nur einen schlimmen Muskelkater von meiner ersten Physiotherapie." „Oh, gut.", sagte er erleichtert. „Oder...gar nicht gut.", korrigierte er sich schnell, als er Alecs Blick sah. „Also, gut, dass deine Therapie angefangen hat, aber gar nicht gut, dass du Muskelkater hast." Jace wirkte so hilflos, dass Alec sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Ist schon okay, Jace. So lange ich den Arm nicht all zu viel bewege, tut es auch nicht weh. Und ja, es ist wohl gut, dass meine Therapie endlich begonnen hat." Jace nickte und schien dann zu überlegen. „Ich glaube, ich habe mal wieder nicht nachgedacht.", sagte er dann und zuckte mit den Schultern. „Wobei denn diesmal?", wollte Alec wissen und konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Jace war bekannt dafür Entscheidungen zu treffen ohne vorher darüber nachzudenken. „Ich habe meine Switch mitgebracht, weil ich dachte, 'ne Runde Mario Kart wäre genau die richtige Ablenkung für dich. Irgendwie habe ich nicht daran gedacht, dass du dich nicht richtig bewegen kannst." Betreten schaute er Alec an. Der musste abermals grinsen. Jace war normalerweise die selbstbewussteste Person die er kannte, bis auf Isabelle vielleicht. Aber erneut kam er ihm wie ein kleines Kind vor, das diesmal auf die Strafe für seine Missetat wartete. „Ist schon okay, Jace. Ich freue mich darüber, dass du sie mitgebracht hast. Ich wünschte, ich könnte es auch vergessen, dass ich körperlich eingeschränkt bin. So wie du." Alec sagte es nicht vorwurfsvoll. Er freute sich wirklich darüber, dass Jace nicht weiter darüber nachdachte. Jace nickte und wusste wohl nicht was er darauf antworten sollte. „Hey, jetzt pack sie schon aus. Probieren können wir es ja. Es wird schon irgendwie gehen." Aufmunternd sah er Jace an, der zu seiner typischen, aufrechten Haltung zurückkehrte, den Laptop beiseite stellte und sich dann wieder am Rucksack zu schaffen machte.
Schnell brachte Jace die Switch ans Laufen. Er klappte das Tablett an Alecs Tisch aus, stellte die Konsole mit dem Display darauf und schob sie so, dass sie beide einen guten Blick auf das Spiel hatten. Dann drückte er ihm einen Controller in die Hand und nahm sich den zweiten. Leider musste Alec sehr schnell feststellen, dass das Ganze doch nicht so einfach war wie er sich das vorstellte. Zuerst mussten sie sein Bett in eine aufrechte Position bringen, weil er sonst den Controller nicht mit beiden Händen festhalten konnte. Es war auch anstrengend und ziemlich schnell schmerzhaft so zu sitzen, da seine Muskeln die Belastung nicht mehr gewohnt waren. Außerdem machte ihm auch der Muskelkater weiterhin zu schaffen, weshalb er nach der zweiten Runde frustriert aufgab. Jace nahm es ihm nicht übel. Stattdessen schloss er den Laptop an und richtete ihm ein Netflix-Profil ein. Da die Spielekonsole erst einmal hinfällig war, starteten sie direkt einen Film. Es kam überhaupt nicht die Frage auf welcher es sein sollte. Beide liebten die Batman-Triologie mit Christian Bale und somit schauten sie, vermutlich zum hundertsten Mal, Batman begins.
Kurz vor dem Ende des Films kam Clary ins Zimmer, die wieder die Mittagsschicht absolvierte. „Hey, Alec. Es wird Zeit dich umzulagern." Sie lächelte ihn an und kam zu seinem Bett. Jace, der bisher wie ein nasser Sack auf seinem Stuhl saß, richtete sich plötzlich auf und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. „Hi, ich bin Jace und mit welcher hübschen Frau habe ich das Vergnügen?" Alec musste schon wieder grinsen. Irgendwie hatte er das vermisst und er war Jace wirklich dankbar dafür, dass er es heute mehrfach ungewollt geschafft hatte ihn zum Lachen zu bringen. Deshalb sagte er auch nichts, sondern sah sich das weitere Schauspiel einfach an. Jace schien im absoluten Flirtmodus zu sein und er war gespannt wie Clary reagieren würde. „Redet dein Kumpel immer so geschwollen, Alec?", fragte sie ihn grinsend, man konnte aber eine leichte Röte erkennen, die sich auf ihre Wangen legte. Jetzt musste Alec lauthals lachen. „Ja, aber er ist mein Bruder.", teilte er ihr glucksend mit. Clary schaute zwischen den beiden hin und her, um wahrscheinlich eine Ähnlichkeit zu entdecken, konnte aber wohl keine finden. „Wir sind Adoptivbrüder.", mischte Jace sich jetzt ein. „Und ich rede nicht immer so geschwollen. Nur bei hübschen Frauen kann ich mich einfach nicht zurückhalten." Er stand auf und hielt Clary seine Hand hin. „Hi. Verrätst du mir jetzt deinen Namen?" Alec beobachtete die beiden. Er konnte nicht abstreiten, dass Jace' Selbstbewusstsein eine anziehende Aura um ihn legte. Vielleicht war er deshalb auch immer so fasziniert von ihm gewesen. Er schien auf jeden Fall zu wissen wie man mit Frauen umging, denn Clary errötete, als sie seine Hand nahm. „Ich bin Clary. Hi.", sagte sie aber nicht weniger selbstbewusst. Mit einem kleinen Lächeln im Gesicht schauten sie sich tief in die Augen und hielten länger gegenseitig ihre Hand, als es nötig gewesen wäre. Alec überlegte, ob so wohl die Liebe auf den ersten Blick aussah. Clary wirkte auf jeden Fall sehr angetan von Jace, aber ob es bei ihm das Gleiche war? Jace war immer schnell dabei, wenn es um hübsche Frauen und Abenteuer ging und Alec wollte Clary gerne eine Enttäuschung ersparen.
„Hey, Jace. Clary ist hier um ihren Job zu machen, okay? Lass' sie in Ruhe." Diese Unterbrechung brachte beide wieder in die Realität zurück. Sie zuckten auseinander und Clary begann sogleich damit ihn umzulagern. „Alles gut, Alec. Ich tue ihr schon nichts. Nicht, wenn sie es nicht will.", beschwichtigte er Alec und schenkte Clary dann ein fast anzügliches Lächeln. Die errötete wieder und beeilte sich offensichtlich mit ihrer Arbeit, entgegnete aber erst mal nichts. „So, das war's, Alec. Ich komme später nochmal, um dir das Abendessen zu bringen.", ließ sie ihn dann wissen, als sie fertig war. „Ich danke dir, Clary. Bis später." Sie ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu ihnen um. „Auf Wiedersehen, Jace.", sagte sie mit einem Augenklimpern, bevor sie das Zimmer verließ.
„Man, Alec. Warum hast du mir nicht erzählt, dass du so eine heiße Krankenschwester hast?" Jace schien völlig aus dem Häuschen zu sein. „Das könnte vielleicht daran liegen, dass ich nicht auf Frauen stehe, Jace.", antwortete Alec trocken. „Ach, ja. Entschuldige, daran muss ich mich erst noch gewöhnen." Jace zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Schon gut, aber versprich mir, dass du Clary nicht verletzen wirst. Sie ist wirklich nett.", forderte er dann von ihm. „Ich weiß nicht, ob ich dir das versprechen kann. Sie ist echt heiß." Jace zeigte ein süffisantes Grinsen, was ihm aber schnell wieder verging, als er Alecs vernichtenden Blick sah. „Schon gut. Ich versprech's dir. Können wir jetzt den Film zu Ende schauen? Ich muss mir noch Clarys Nummer besorgen." Breit grinsend sah er ihn an. „Jace.", sagte Alec streng. „Was denn?", erwiderte er unschuldig. „Ein Date wird ja wohl noch erlaubt sein." Alec stöhnte resigniert und konnte nur noch den Kopf schütteln. Hoffentlich würde Clary ihn abblitzen lassen.
Nachdem Batman Ra's al Ghul besiegt und den Hochgeschwindigkeitszug gestoppt hatte, schien Jace es sehr eilig zu haben. „Mach's gut, Alec. Ich schau' die Woche noch mal rein.", verabschiedete er sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nachdem er die gesehenen Filme und Serien gegen die neuen ausgetauscht hatte. „Ciao, Jace. Und danke für die Filme und das Netflix-Profil. Und sei nett zu Clary.", rief er ihm hinterher, weil Jace sehr schnell die Tür hinter sich zuzog.
Jetzt war er wieder allein. Okay, nicht so ganz, da Chris und Martin in ihren Betten lagen, aber beiden steckten Kopfhörer in den Ohren und sie starrten auf ihre Bildschirme. Alec war wieder allein mit seinen Gedanken.
Der Nachmittag mit Jace hatte ihn ziemlich gut abgelenkt und tat ihm auch gut. Lange musste er nicht mehr so viel grinsen und er konnte auch nicht mehr sagen, wann er das letzte Mal lauthals gelacht hatte. Clarys Reaktion war aber auch einfach nur göttlich.
Alec wurde wieder mal bewusst wie gerne er seine Zeit mit seinem Stiefbruder verbrachte. Man konnte nicht nur mit ihm lachen, sondern auch wunderbar mit ihm Schweigen, ohne dass es unangenehm wurde. Er war Jace auch sehr dankbar dafür, dass er sich schon fast rührend um seinen Nachschub an Filmen kümmerte, damit er sich nicht langweilte. Zusammen mit dem Netflix Account verfügte er nun über genügend Möglichkeiten sich die Zeit zu vertreiben.
Alec dachte an Jace' unbeholfene Art und musste schmunzeln. Normalerweise war er immer sehr selbstbewusst und man konnte meinen, dass ihn nichts aus der Bahn warf. Sein Unfall setzte ihm aber wohl ganz schön zu, denn er hatte ihn noch nie so verlegen und hilflos erlebt.
Er würde Jace immer lieben, da war Alec sich sicher. Allerdings nur wie einen Bruder. Er strotzte nur so vor Testosteron und schon lange war ihm klar, dass er wohl der heterosexuellste Typ auf diesem Planeten sein musste. Es fiel ihm schwer sich das einzugestehen, aber er war sich sicher, dass seine Gefühle für Jace sorgfältig in seinem Herzen verschlossen waren.
Alec sah auf seine Beine und seufzte. Trotz der Bettdecke konnte man deutlich sehen wie dünn sie geworden waren. Im Allgemeinen hatte er einiges an Gewicht verloren, was vielleicht aber auch gar nicht so schlecht war. So hatte er nicht so viele Kilos die er bewegen musste.
Schon vor einer Weile gab er es auf seine Beine mit Gewalt bewegen zu wollen. Es brachte einfach nichts und, so schwer es ihm fiel, irgendwann hatte er das auch kapiert. Er hob seinen linken Arm, um eine Falte auf seiner Bettdecke glatt zu streichen, und verzog vor Schmerz das Gesicht. Sein Muskelkater meldete sich unangenehm zurück und erinnerte ihn auch wieder an seine nächste Physiotherapie die am nächsten Tag anstand. Er hatte keine Ahnung wie er die überleben sollte, außer es geschah über Nacht ein Wunder und sein Muskelkater löste sich in Luft auf.
Er wusste auch noch immer nicht warum Magnus ihn so verwirrte. Wahrscheinlich stellte er sich unter einem Physiotherapeuten einfach nur etwas ganz anderes vor. Auf jeden Fall nicht so eine schillernde Erscheinung. Außerdem war er sich nicht ganz sicher wie er mit ihm umgehen sollte. Er war nicht gut darin Freundschaften zu schließen und meistens wollte er das auch gar nicht. Vielleicht sollte er einfach versuchen ein bisschen offener und aufgeschlossener zu sein, schließlich wollte Magnus ihm nur helfen.
Der Sonntag endete wie der Samstag, bis auf das nervöse Bauchgefühl das Alec plagte. Die Sorge um seine nächste Therapie ließ ihn lange nicht einschlafen und das Grübeln über Magnus bereitete ihm Kopfschmerzen. Völlig erschöpft übermannte ihn irgendwann ein unruhiger Schlaf.
Alec erwachte aus einem verwirrenden Traum und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die sich in seinen Augen sammelten. In seinen Träumen war er nicht an den Rollstuhl gefesselt, sondern konnte immer noch laufen. Beim Aufwachen jedes Mal daran erinnert zu werden, dass die Realität ganz anders aussah, war äußerst niederschmetternd für ihn. Diesmal irritierte ihn aber noch etwas anderes.
Er joggte durch den Park und genoss dabei die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Einige Leute waren unterwegs, die mit ihren Hunden spazieren gingen, ebenfalls joggten oder einfach nur den schönen Tag auf einer Parkbank verbrachten. Alec interessierte sich nicht für sie. Er genoss jeden Schritt den er machte und konzentrierte sich voll und ganz auf seine Atmung und seinen Herzschlag. Der Schweiß tropfte ihm bereits von der Stirn, aber auch das interessierte ihn nicht. So fühlte er sich lebendig.
Er bog in ein kleines Waldstück ein, um die Ruhe dort zu genießen, und bemerkte plötzlich eine Gestalt neben sich. Er sah nach rechts und erblickte Magnus, der neben ihm herlief und ihn fröhlich anlächelte. „Ich wusste, dass du es schaffen wirst, Alexander." Sein Lächeln wurde breiter. Dann legte er anerkennend eine Hand auf seine Schulter. Alec war völlig perplex. Diese Geste kannte er nicht, noch nicht einmal von seinem Vater. Die ungewohnte Berührung brachte ihn ins Straucheln. Er stolperte, doch bevor er auf dem Boden aufschlug wurde er aus dem Schlaf gerissen.
Alec rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Wieso träumte er von Magnus? Und wieso, verdammt, bekam er ein Gefühl von Hoffnung, wenn er an seine Worte dachte? Vermutlich, weil er sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder Laufen zu können. Leider musste wohl auch hier ein Wunder geschehen, damit sein Wunsch in Erfüllung ging. Traurig seufzend atmete er aus und wischte sich dann die letzen Tränenspuren aus den Augen.
Er hatte sich wohl so viele Gedanken um seine Therapie gemacht, dass Magnus nun auch in seinen Träumen auftauchte. Lustig war allerdings, dass er beim Joggen dieselbe Kleidung trug wie bei der Arbeit. Alec schmunzelte und versuchte sich mit der linken Hand die Haare aus der Stirn zu streichen. Auf halbem Wege gab er es auf. Den Schmerz spürte er zwar kaum noch, aber dafür hatte sich zu der Tonne Blei in seinem Arm noch eine zweite hinzugesellt. Alec stöhnte resigniert. Vermutlich würde die Therapie noch schlimmer werden als er befürchtete.
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