1. Kapitel
Der Fahrtwind peitschte den Regen unerbittlich gegen das Visier von Alecs Motorradhelm und erschwerte ihm die Sicht. Das interessierte ihn aber nicht. Er war wütend. Wütend auf seinen Vater und wütend auf sich selbst. Er biss die Zähne zusammen und beschleunigte seine schwarze Honda. Nachdem er fluchtartig sein Elternhaus verlassen hatte, war er durch die Dunkelheit auf den Highway gerast und versuchte nun nicht mehr an die vorangegangenen Ereignisse zu denken. Er war so dumm gewesen und jetzt war sein Leben zusammengebrochen wie ein Kartenhaus.
Schon immer wusste Alec, dass er anders war. Er wusste es schon, bevor er sich in seinen blonden Stiefbruder Jace verliebte. Das hatte er natürlich penibel versucht geheim zu halten, was ihm bis jetzt auch gut gelungen war.
Jace war zehn Jahre alt, als seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen und die Lightwoods ihn adoptierten. Alecs Eltern waren schon lange mit den Herondales befreundet und er und Jace kannten sich schon seit dem Babyalter. Ein gutes Verhältnis hatten sie schon immer zueinander, aber nachdem Jace bei Ihnen einzog, wurden sie praktisch unzertrennlich. Obwohl sie komplett verschiedenen waren, vom Äußerlichen bis hin zu ihrem Charakter, verstanden sie sich fast blind. Das bekam auch seine ein Jahr jüngere Schwester Isabelle des Öfteren zu spüren, wenn sie sie mal wieder von ihren Geheimniskrämereien ausschlossen.
Alec musste lächeln, als er an Izzy dachte. Auch sie waren unzertrennlich, schließlich war sie seine kleine Schwester. Das sah man auch an ihren schwarzen Haaren, obwohl Isabelles länger und nicht so widerspenstig waren wie seine. Er passte immer auf sie auf und normalerweise war sie auch die Einzige, der er alles erzählte. Bis auf diese eine Sache. Nämlich, dass er schwul war.
Manchmal glaubte er, dass Izzy ihn längst durchschaute und sie nur nichts sagte, weil sie wusste, dass er von alleine mit ihr reden würde, wenn der richtige Zeitpunkt da war. Und damit hatte sie Recht, so war Alec schon immer. Er redete sehr wenig, vor allem über seine Gefühle und wollte möglichst unauffällig sein. Auch jetzt viel es ihm schwer daran zu denken. Wieso konnte er nicht so sein wie alle anderen? Er würde sich in ein Mädchen verlieben, heiraten, Vater werden und seine Eltern stolz machen, aber das war ihm wohl nicht vergönnt.
Alec schüttelte den Kopf. Er wollte nicht an Izzy denken und daran was sein könnte. Eigentlich wollte er an überhaupt nichts denken und schon gar nicht an das wutverzerrte Gesicht seines Vaters Robert, was ihm gerade wieder durch den Kopf ging. Er überholte einen Transporter und blieb dann einfach auf der linken Spur, denn er hatte nicht vor so schnell wieder sein Tempo zu drosseln.
Er dachte an den Tag, als ihm bewusst wurde, dass er mehr als nur brüderliche Gefühle für Jace hegte. Sie waren 14 Jahre alt und mitten in der Pubertät. Alec hatte verschlafen und stürzte hastig in das Badezimmer, in dem Jace gerade, mit dem Rücken zu ihm, unter der Dusche stand. Er blieb wie erstarrt stehen und sein Blick wanderte wie hypnotisiert von seinem Nacken, über seinen Rücken, bis zu seinem Po. Er konnte überhaupt nichts dagegen tun. Jace hatte schon immer viel Sport getrieben und Alec gefiel, was er da sah, obwohl sie so jung waren. Sein Herzschlag beschleunigte sich und ein verräterisches Kribbeln ging durch seinen Unterleib. Er musste sich förmlich zwingen den Blick abzuwenden, als Jace sich pfeifend zu ihm umdrehte. „Guten morgen, Alec.", sagte er grinsend. Er stellte das Wasser ab, öffnete die Glaskabine und schnappte sich ein Handtuch. „Alles okay?", fragte er nach, als Alec sich nicht rührte und ihm schweigend den Rücken zudrehte. „Nein, ich habe verpennt. Ich muss mich beeilen.", antwortete er schnell und schnappte sich seine Zahnbürste und die Zahnpasta, sah Jace aber nicht an. Alec war knallrot und sein Herz raste mittlerweile vor Scham, denn in seiner Boxershorts zeigte sich deutlich was Jace Anblick in ihm auslöste. „Okay, dann beeil dich. Ich muss mir noch die Haare machen.", wies Jace ihn gut gelaunt an und verließ das Badezimmer. Alec atmete erst einmal tief durch und kühlte sein erhitztes Gesicht, bevor er sich die Zähne putzte und sich dann beeilte in die Schule zu kommen.
Seit diesem Tag hatte er regelmäßig Herzklopfen, wenn Jace in seiner Nähe war und je älter sie wurden, desto attraktiver wurde er für ihn. Mit der Zeit wurde aber auch klar, dass Jace niemals so empfinden würde wie er und Alec begann seine Gefühle zu verstecken. In jeglicher Hinsicht.
Jetzt waren sie achtzehn und in ein paar Wochen würden sie aufs College gehen. Ein wenig mulmig wurde ihm schon bei dem Gedanken daran. Er hatte nie viele Freunde gehabt und würde sich wahrscheinlich auf das Lernen konzentrieren müssen, weil ihm auch nichts anderes übrig blieb.
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als Alec daran dachte. Es wurde ihm schlagartig bewusst, dass er keine Ahnung hatte wo er überhaupt hin sollte. Seine engsten Vertrauten waren in dem Haus aus dem er gerade geflüchtet war. „Du bist eine Schande. Du bist nicht mehr mein Sohn.", dröhnte die Stimme seines Vaters durch seine Gedanken.
In Alecs Augen bildeten sich Tränen, als er an diese Worte zurückdachte, was ihm zusätzlich die Sicht erschwerte. Er blinzelte sie schnell weg und biss wieder die Zähne zusammen, als die Wut auf seinen Vater ihn erneut überrollte. Gleichzeitig kehrte auch die Wut auf sich selbst zurück. Wenn er nicht so dumm gewesen wäre, hätte er das Bild von dem schüchternen, introvertierten Jungen aufrechterhalten können, der sich mehr um seine Geschwister kümmerte, als um sich selbst. Aber das war jetzt vorbei. Obwohl er sexuell völlig unerfahren war, hatte auch er seine Bedürfnisse. Deshalb kaufte er sich so ein Schwulenmagazin, in der Hoffnung etwas lernen zu können. Er musste es auf seinem Nachttisch vergessen haben, denn kurz vor dem Abendessen knallte es ihm sein Vater mit hochrotem Kopf auf den Tisch. „Sag mir, dass das nicht wahr ist, Alexander.", hatte er mit dieser ruhigen Stimme gesagt, der man anhörte, dass er ganz und gar nicht ruhig war und jeden Moment explodieren konnte. Alec war zu perplex um irgendetwas zu antworten und ihm schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Er starrte nur auf das Magazin, dass vor ihm auf dem Tisch lag. „Sag mir, dass das nicht wahr ist.", wiederholte sein Vater mit zusammengebissenen Zähnen. „Sag mir, dass du keine Schwuchtel bist." Bei diesen Worten spürte Alec Wut in sich aufsteigen und er konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Das kann ich nicht.", erwiderte er mit trotziger Stimme und sah seinen Vater herausfordernd an. Der riss die Augen auf und explodierte förmlich. „Was?", schrie er ihn an. „Du willst mir also wirklich erzählen, dass mein Sohn eine Schwuchtel ist?"
„Dad!", schaltete sich in diesem Moment Isabelle ein, die mit Jace das Esszimmer betreten und mit Sicherheit die letzten Worte ihres Vaters gehört hatte. „Lass ihn in Ruhe." Robert wirbelte herum und funkelte seine Tochter wütend an. „Hast du es etwa gewusst?", fuhr er sie an. „Nein, aber ich habe es geahnt. Und was ist jetzt schlimm daran?", fragte sie ihren Vater und verschränkte störrisch ihre Arme vor der Brust. In diesem Moment hätte Alec sie küssen können. „Was schlimm daran ist?", schrie Robert und begann nun unkontrolliert zu gestikulieren. „Alec sollte mal die Firma übernehmen, aber das kann er jetzt vergessen. Was die Leute nur denken, wenn so etwas..." Er blickte angewidert zu Alec, bevor er fortfuhr. „...eine Firma leitet. Das ist doch völlig gegen die Natur und dazu haben wir dich nicht erzogen." „Aber Dad...", wollte Izzy ansetzen, bevor ihr Vater sie unterbrach. „Ich will nichts hören, Isabelle. Geh mit Jace nach oben und lasst uns allein." „Aber..." „Nein, geht nach oben.", sagte er im Befehlston, dem sich die beiden nicht widersetzen wollten. Izzy schnaufte, drehte sich dann wutentbrannt um und stapfte mit lauten Schritten die Treppe hinauf. Jace folgte ihr, nachdem er Alec noch ein mitfühlendes Lächeln geschenkt hatte.
Alecs Blick glitt wieder zu seinem Vater, der jetzt mit hochrotem Kopf vor ihm stand und schnaufte, wie ein Büffel. „Ich kann das nicht zulassen, Alec...", sagte er verdächtig ruhig. Jetzt platzte Alec der Kragen und er sprang auf. „Was kannst du nicht zulassen, Dad? Dass ich schwul bin? Darauf hast du leider keinen Einfluss, genauso wenig wie ich." Seine Stimme war immer lauter geworden und sein Blut raste durch seine Adern. „Tut mir Leid, dass ich nicht der perfekte Sohn bin den du dir immer gewünscht hast.", rief er und ballte die Fäuste.
„Ja, das tut mir auch Leid, aber ich werde nicht zulassen, dass du unseren Namen in den Dreck ziehst. Ich will dich nicht mehr sehen, Alexander. Ich will nicht jeden Tag daran erinnert werden, was für eine Missgeburt ich in die Welt gesetzt habe. Du wirst dir schnellstmöglich eine Wohnung suchen und dann ziehst du aus.", sagte er völlig ungerührt. In Alec zerbrach etwas und die Wut übermannte ihn in diesem Augenblick. „Wenn du diese Missgeburt nicht ertragen kannst, dann geh' ich wohl am besten jetzt gleich. Ich könnte keine Nacht mehr mit dir unter einem Dach ertragen.", schrie Alec ihn an, drehte sich um und rannte in den Flur, um seine Jacke und seinen Helm zu holen. „Du bist eine Schande. Du bist nicht mehr mein Sohn.", schrie Robert ihm hinterher und dann hörte Alec seine Mutter, die bisher in der Küche das Abendessen zubereitet hatte. „Robert!", rief sie empört. „Was denn, Maryse. Unser Sohn ist eine verdammte Schwuchtel." Das war das Letzte was er hörte, bevor er die Tür hinter sich zuschlug und zu seinem Motorrad lief.
Die Tränen rannen nun ungebremst Alecs Wangen hinab und er krallte schmerzhaft seine Finger in den Lenker. Er wusste, dass sein Vater bestimmt nicht gut auf sein Outing reagieren würde, deshalb hatte er ja auch alles daran gesetzt es vor allen zu verheimlichen, aber dass er so reagierte brach ihm das Herz. Wieder stieg Wut in ihm auf und er beschleunigte erneut sein Motorrad.
Dann ging alles ganz schnell. Alec sah noch verschwommen rote Rücklichter, die von rechts in sein Blickfeld wanderten. Er war so überrumpelt, dass er weder ausweichen, noch bremsen konnte. Er spürte einen Ruck und einen alles verzehrenden Schmerz, als er mit einer schwarzen Limousine kollidierte und durch die Luft geschleudert wurde. Dann wurde alles schwarz um ihn herum.
Als Alec wieder zu sich kam fühlte er nichts. Die Helligkeit erschwerte ihm das Sehen und er versuchte dagegen anzublinzeln. Er lag am Boden und um ihn herum herrschte hektisches Treiben. Das verschwommene Gesicht eines Mannes tauchte in seinem Blickfeld auf. Dann fielen ihm wieder die Augen zu und er hörte eine Stimme weit entfernt rufen: „Bleib bei uns, Junge. Nicht aufgeben, hörst du?" Er versuchte die Augen wieder zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Es fühlte sich an, als ob ein großes Gewicht ihn nach unten drücken würde und machte es ihm unmöglich sich zu bewegen.
Das Nächste was er wahrnahm war ein grelles Licht, was abwechselnd seine Augen streifte. „Keine Pupillenreaktion. Das sieht nicht..." Mehr hörte er nicht mehr, weil die Dunkelheit ihn erneut gefangen nahm. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er nahm verschiedene Stimmen und ein lautes Motorengeräusch wahr. „Fliegt ihn so schnell wie möglich in die Klinik. Der Junge hatte verdammtes Glück, aber er muss dringend in den OP." Diese Worte und ein lauter werdendes Motorengeräusch waren das Letzte was Alec hörte, bevor er komplett das Bewusstsein verlor.
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