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Jemanden vergessen wollen heißt an ihn denken.

Jean de La Bruyère

Es gab einfach Momente im Leben, in denen man etwas brauchte, um sich daran festzuhalten. In Damians Fall war es ein Glas Rum. Die Sorte Alkohol war dabei nicht wesentlich. Nachdem Talia aus seiner Praxis geflüchtet war, hatte er nach der Flasche »Don Papa» gegriffen, die ihm sein Bruder letztes Jahr von den Philippinen mitgebracht und die seitdem im Büro auf ihn gewartet hatte.

Wer hätte auch damit rechnen können, dass gerade Talia Friedrich sich in seine Praxis verirren würde?

Draußen gingen die Straßenlaternen an und beleuchteten den blühenden Kastanienbaum vor seinem Fenster.

Wie lange war das jetzt her? Zwölf Jahre? Vielleicht mehr, wenn er die Schulzeit mit einberechnete. Genug Zeit jedenfalls für sein Studium und die Weiterbildung zum psychologischen Psychotherapeuten.

Damian schwenkte die braune Flüssigkeit und nahm einen weiteren Schluck. Es schmeckte nach Alkohol und Eichenholz. Ein bisschen wie Urlaub.

Picasso hatte sich kaum verändert. Es war nicht schwer gewesen, die schlanke Fünfzehnjährige zu erkennen, die damals seine Klasse und später einige der Kurse mit ihm geteilt hatte. Englisch, wenn er sich nicht irrte. Natürlich Kunst. Physik und Sport. Sie hatte immer noch diesen Zug um die Augen, als ob sie alles was er tat, in Frage stellen würde.

Ein weitere Schluck rann seine Kehle hinab. Seine Finger trommelten auf die massive Tischoberfläche und er zwang sie zur Ruhe, als er es bemerkte.

Ihr Anblick hatte ihn direkt in seine Vergangenheit katapultiert. Zurück in ein Leben, das er im Schatten seines Bruders geführt hatte. Der perfekte Linus und der rebellische Damian. Sie waren so gefangen in diesem Spiel aus Cliché und Wirklichkeit gewesen. Und Talia dazwischen.

Ein Schlüssel klickte im Schloss der Praxis und Damian stellte sein Glas auf den Tisch. War es wirklich schon Zeit für die Reinigung?

Die Tür öffnete sich und Damian erkannte den blonden Schopf seines Partners Felix Feld, der sich wie ein Dieb hinein schlich. Erst der Kopf, bevor sich langsam auch der restliche Körper zeigte.

Doch dann musste seinem Freund das Licht aufgefallen sein, das aus Damians Büro drang. »Was machst du denn noch hier?«, fragte Felix, während er seine breite Schulter gegen den Türrahmen lehnte.

Eigentlich sah sein Freund mehr wie ein Bodybuilder als, als jemand, der sein Geld durch Therapien verdiente. Nicht, dass es Damian störte. Widersprüchliche Menschen waren immer die interessantesten Zeitgenossen. »Das könnte ich dich auch fragen, Effeff.«

Sein Partner runzelte die Stirn, während er Damian und »Don Papa» musterte. Doch behielt er seine Gedanken für sich.

»Warst du nicht mit deiner Freundin verabredet?«, hakte Damian nach. Am Nachmittag noch hatte Nina ein gelbes Post-it an Effeffs Flasche geklebt. Sie war wirklich eine gute Mitarbeiterin, die auch private Termine auf dem Schirm hatte.

Effeff löste sich vom Türrahmen und kam näher. Mit einem Seufzen sank er in einen der Holzstühle vor Damians Schreibtisch und griff nach einem leeren Glas. »Ich hatte eine Akte vergessen.«

»Und jetzt?«

Effeff tippte an sein Glas. »Jetzt warte ich darauf, dass du mir was einschenkst.«

Mit einem Grinsen kam Damian der Aufforderung nach. »Wie in alten Tagen, hm?«

Während sein Freund einen Schluck probierte und genießerisch die Augen schloss, lehnte sich Damian in seinem Sessel zurück und legte seine Füße auf die Tischkante.

»Willst du drüber reden?«, fragte Effeff schließlich.

Schwer zu sagen. »Was meinst du?«, murmelte Damian ausweichend und hielt sich davon ab, die Arme vor der Brust zu verschränken.

»Also nicht?«

Damian zuckte mit den Schultern. »Ich hatte heute einen interessanten Termin.«

»Pathologisch interessant?«

Wind kam auf und schüttelte die Zweige vor seinem Fenster. Blütenflocken stoben umher, als sei plötzlich der Winter eingebrochen. »Nein.« Mit zwei Fingern massierte er seine Schläfe. »Eher Besuch aus meiner Vergangenheit.«

»Oh, Gott. Ist sie schwanger?« Effeff wirkte ehrlich schockiert.

»Was? Nein!« Das Glas auf seinem Tisch wackelte, als sich Damian ruckartig aufsetzte. »Wie kommst du denn darauf?«

Effeff ließ die Flüssigkeit in seinem Glas rotieren, bevor er sich in Ruhe einen weiteren Schluck genehmigte. Dann blickte er Damian aus seinen flaschengrünen Augen an. »Offenbar hat dich eine Frau besucht, sonst wärst du nicht so dramatisch. Es wäre immerhin möglich gewesen.«

»Ich bin nicht dramatisch!« Wäre Effeff kein guter Freund gewesen, hätte Damian ihm sein Glas »Don Papa» entrissen. So ballte er nur einmal kurz seine Faust. »Ich bin nur etwas überrascht.«

»Soso«, erklärte sein Freund.

Damian schnaubte, bevor er sich zu einer Erklärung herabließ. »Es war nur ein Mädchen, mit dem ich zur Schule gegangen bin. Picasso.«

»Du und deine dämlichen Spitznamen.« Effeff nahm einen weiteren Schluck. »Das ist übrigens wirklich gutes Zeug«, fügte er hinzu und hob sein Glas.

»Es ist ein Talent, den Menschen immer genau den Namen zu geben, der zu ihnen passt.« Damian nahm die Beine von der Tischkante und goss ihnen nach. Ein zweites Glas würde nicht schaden.

»Mhh. Sieht sie bestimmt auch so?«

Damian zuckte mit den Schultern.

Manchmal neigte Effeff dazu, sich an einem Thema regelrecht festzubeißen. Leider war gerade so ein Moment. »Nun, was hat das arme Mädchen denn getan, um diesen Spitznamen zu verdienen?«

Irgendwann im Laufe des Abends hatte Damian wohl einen Tropfen Rum verschüttet. Ein kleiner Fleck prangte an seinem Ärmel und forderte seine Aufmerksamkeit. Und wieder war Talia dafür verantwortlich, dass ein Hemd in die Reinigung musste. Zumindest indirekt.

Statt ungeduldig zu werden, wartete sein Freund einfach ab. Eine Eigenschaft, die Damian an anderen Tagen mehr schätzte als heute.

»Naja. Sie malt«, erklärte er schließlich das Offensichtliche.

Effeff kicherte.

Ein Handy vibrierte, aber Damian war nicht in der Stimmung nachzusehen. »Du verträgst echt keinen Alkohol, oder?«

»Sie malt ... «, wiederholte Effeff, während er nach Luft schnappte. »Lass mich raten. Sie malt. Und Picasso ist ein Maler.« Ein Hicksen. »Das ist dein großartiges Namensgebungstalent?«

Irgendwie klang es so ausgesprochen nur halb so schlau, wie es sich seinerzeit angefühlt hatte. »So ungefähr.« In Damians Bauch breitete sich eine angenehme Wärme aus. »Es waren halt andere Zeiten gewesen.«

»Du hast echt Probleme. Hast du dir mal überlegt, eine Therapie zu machen?«

Damian bedachte seinen Freund mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Schon oft. Wenn ich doch nur einen guten Therapeuten kennen würde ...«

»Wem sagst du das!«, stimmte Effeff zu und hob sein Glas.

Damian beugte sich vor und stieß mit ihm an.

Man konnte sich an einem Glas Rum nicht festhalten, zumindest wenn man keine dauerhaften Probleme suchte. Aber dafür immer an einem guten Freund.

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