Zurück im Käfig
„Wir waren krank vor Sorge!", donnerte ihr Vater. „Weißt du, wie viel Gesindel sich bei solchen Anlässen auf den Märkten herumtreibt? Diebe, Gauner und auch Mörder."
Bei seinem anklagenden Vortrag verspürte Lanessa tatsächlich Scham und Schuldgefühle. Sie hatte nur eine Weile unbeschwert sein wollen, um sich frei umsehen zu können ohne sich ständig vor ihren Brüdern rechtfertigen zu müssen und beaufsichtigt zu werden. Doch es war nie ihre Absicht gewesen, ihrer Familie Kummer zu bereiten.
„Was wird das Haus Tejudis von uns denken, wenn sie von dem Vorfall hören!" Lairgnen ging unruhig hin und her. „Was das für einen Eindruck am Königshaus hinterlässt ... Ein Aufgebot, als seist du entführt worden, dabei bist du nur kopflos umhergerannt. Sie werden denken Haus Freveyier habe einen widerspenstigen jungen Wolf aufgezogen und keine Prinzessin."
Lanessa spürte, wie Tränen in ihren Augen brannten, doch sie blinzelte sie fort. Es war nicht die Beleidigung ihres Vaters, der den Schmerz in ihrer Brust verursachte, sondern die Erkenntnis, dass der Ruf der Familie ihnen allen wichtiger waren, als ihr eigenes Glück.
Nach der Predigt ihres Vaters brachte sie Lamont zurück auf ihr Zimmer. Doch bevor sie den Raum verließ, begegnete sie Leifs Blick und dieser traf sie wie eine Ohrfeige. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht nur selbst in Schwierigkeiten gebracht hatte, sondern auch den Bruder, dem sie weggelaufen war – ihren liebsten Bruder.
Flehend sah sie ihn an, als sie an ihm vorbeischritt. Doch in seinem Gesicht war keine Vergebung zu sehen.
Die Gänge waren fast alle verlassen, als sie zum Turm schritten, in der Lanessa untergebracht war.
„Wer war der Mann, der dich begleitete?", fragte Lamont direkt heraus, nachdem sie den Korridor der Gemächer ihres Vaters hinter sich gelassen hatte.
Lanessa lief es eiskalt den Rücken herab.
„Niemand hat mich begleitet", log sie und gab sich besonders viel Mühe dabei glaubhaft zu wirken.
„Man hat dich gesehen Lanessa. Wie du umtriebig auf dem Kirchplatz in der Begleitung eines Mannes warst!"
„Wer soll mich gesehen haben?", fragte sie trotzig.
„Ruppert."
„Dann hat er sich versehen."
„Lüg mich nicht an!" Er packte sie am Arm, dass es schmerzte.
„Er hat mir nur den Weg zurück gezeigt!", antwortete sie laut und versuchte, sich loszureißen. „Lass mich los, oder ich erzähle es Vater!"
Lamont ließ sie gehen, doch seine Augen hatten sie weiterhin festgenagelt.
„Ich hoffe, du hast unserem Haus keine Schande bereitet."
„Das würde ich nie!", verteidigte sie sich schwach.
Ihr Bruder lachte höhnisch und sagte: „Ich glaube, dir ist nicht so ganz klar, wie wichtig diese Angelegenheit für uns alle ist, oder?"
„Und ich glaube, dir ist nicht klar, was es für mich bedeutet!", wütete sie zornig.
„Niemanden interessiert es, was es für dich bedeutet!"
Es war ein weiterer Schlag in ihre Seele und augenblicklich bereute Lanessa zurückgekommen zu sein. Hier war niemand, der sich für sie interessierte. Wütend wandte sie sich von Lamont ab und lief voraus. Vor ihrer Zimmertür war bereits eine Wache postiert und sie hörte, wie ihr Bruder ihm Anweisungen erteilte, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Weinend warf Lanessa sich auf das Bett.
Wie konnte so ein schöner Abend bloß so bitter enden?
Sie fand in jener kurzen Nacht jedoch keinen ruhigen Schlaf mehr. Zwar war das Fenster geöffnet und die kühle Nachtluft ergoss sich in ihr Zimmer, doch sie brachte auch das freudige Gelächter des Marktes mit. Lanessa drehte sich von einer Seite auf die andere.
Ob Grischa noch dort unten war?
Vielleicht war er in eine Taverne eingekehrt, nahm an den Glücksspielen teil oder plauderte mit Fremden, die man in den Gassen traf.
Wie schön war so ein unbeschwertes und freies Leben, dachte Lanessa. Heute nicht zu wissen, was der Morgen brachte.
Und dann war da noch der Kuss. Lanessa hätte nie geglaubt, dass sie sich je auf einen solch anstößigen Vorschlag einlassen würde. Was war nur in sie gefahren?
Aber eigentlich war es schön gewesen. Sie schauderte bei der bloßen Erinnerung daran, doch es war ein angenehmes Gefühl. Ihr Herz klopfte schneller und sie konnte beinahe wieder seine Nähe spüren. Eine Nähe, nach der sie sich jetzt sehnte. Für jemanden an ihrer Seite, der sie beschützte und sie schätzte, hätte Lanessa ein Königreich gegeben. Doch der Moment war vorbei. Die Gelegenheit verpasst.
Morgen schon würde sie Tigran Tejudis, den Kronprinzen des Südens und ihr zukünftiger Gemahl kennen lernen. Und damit starben all ihre Träume und all ihre Hoffnung. Wenn sie erst einmal verheiratet war, würden auch solche Ausflüge enden. Jederzeit wäre sie von Zofen, Hofdamen oder Wachen begleitet. Es war wie ein Gefängnis ohne Mauern. Ein Gefängnis, dem sie nie wieder entkommen konnte.
Ein letztes Mal drehte sie sich im Bett herum. Bis zum Morgengrauen lag sie noch wach und dachte an Grischa. Der Mond wanderte an ihrem Fenster vorbei und ließ alles in ihrem Zimmer im silbernen Glanz schimmern. So viel Unbeschwertheit und Selbstbestimmtheit hatte sie in all den vergangenen Jugendjahren im Norden nicht verspürt. Grischa hatte ihr eine fremde Welt gezeigt. Eine Welt die für einen Abend greifbar nah schien und nun für immer verschlossen bleiben würde.
❖ ❖ ❖
Am nächsten Morgen kamen die Zofen früh in ihr Zimmer, um Lanessa für den Empfang hübsch zu machen. Sie nahm ein Bad mit duftenden Blüten, ihr Haar wurde kunstvoll auf ihrem Kopf geflochten und man kleidete sie in das teuerste und unbequemste Gewand, das sie besaß. Es war aus fließender, silbergrauer Seide an den Säumen mit Hermelin besetzt. Lanessa hasste es.
„Ihr wirkt etwas abwesend, Mylady", sagte Ylvie, die versuchte sie erneut in ein Gespräch zu verwickeln.
„Ich habe schlecht geschlafen", erklärte sie schlicht, „diese andauernde Hitze raubt mir den Schlaf."
Das war nur die halbe Wahrheit gewesen. Schließlich hatte sie die halbe Nacht über an die vergangenen Ereignisse und auch an Grischa denken müssen. Unweigerlich dachte sie an das verwegene Lächeln, die Behutsamkeit in seiner Stimme und den Geschmack seiner Lippen. Es zauberte ihr unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht, bis sie wieder in ihrer eigenen Realität ankam.
„Manchmal wünschte ich", sagte sie leise, „ich wäre nur eine einfache Tochter eines Kaufmanns ..."
Ylvie sah sie prüfend von der Seite an, bevor sie weiter an ihrem Haar flocht.
„Und all das, was ihr habt aufgeben Mylady? Wozu?"
„Um gehen zu können, wohin ich möchte", erklärte sie.
„Als Königin könnt ihr das tun", sagte die Zofe naiv.
Lanessa widersprach nicht. Ylvie würde nie verstehen, wie sie sich fühlte. Für sie war sie vermutlich nur ein verwöhntes Mädchen.
„Freut Ihr Euch schon auf die Bekanntmachung mit dem Prinzen?", fragte sie aufgeregt und steckte die letzte rote Locke unter die Rise.
Es schien beinahe so, als sei sie aufgeregter, als Lanessa selbst. Die nordische Prinzessin fürchtete sich vor dem Moment. Fürchtete sich davor, zu sehen wie der Mann war, den sie ehelichen musste. Es machte die Sache endgültig und unausweichlich.
„Nicht so, wie ich es vielleicht sollte", sagte Lanessa nur.
Dabei hätte sie nichts lieber getan, als ohne Umwege zurück zum Markt zu laufen, Grischa zu suchen und ihn zu bitten sie mit sich zu nehmen – egal, wohin sein Weg führen würde. Das Sehnen ihres Herzens wurde mit jedem Schlag eindringlicher. Es brachte sie schier zum Verzweifeln.
Ylvie hielt ihr einen silbernen Spiegel vor und hauchte: „Ihr seht bezaubernd aus!"
Lanessa war da vollkommen anderer Meinung. Sie sah aus wie das unbedarfte brave Mädchen ihres Vaters. Es war gezwungen und scheinheilig. Sie hasste es.
„Ihr werdet dem Kronprinzen sicher gefallen."
Und wenn nicht? Spielte es eine Rolle?
Die nordische Prinzessin zwang sich zu einem Lächeln und bedankte sich bei ihrer Zofe. Kurz darauf wurde sie von ihren Brüdern abgeholt und ging mit ihnen hinab in die Halle, wo ihr Vater bereits auf sie wartete. Leif hatte den ganzen Weg nicht ein freundliches Wort für sie übrig.
Lanessa spürte die Blicke der Dienerschaft auf sich, als sie die Korridore hinabgingen. Sie waren befremdlich. Einige waren neugierig, doch alle waren verwundert.
Vermutlich deshalb, weil sich die Geschichte ihrer Abwesenheit schon herumgesprochen hatte. Hofklatsch verbreitete sich rasend schnell. Es war die Essenz der Adelsfrauen, die sie am Leben hielt.
Lanessa hasste solcherlei Gerede.
Sie hasste heute alles!
Ihr Vater hingegen begrüßte sie herzlich und schien seiner Tochter den Fauxpas verziehen zu haben. Seine und die Roben ihrer Brüder waren aus dem gleichen schimmernden Stoff, wie Lanessas Kleid. Es zeigte ihre Zusammengehörigkeit.
Während sie auf die Vasallen ihres Vaters warteten, stieg die Aufregung in Lanessa.
Die flüchtigen Begegnungen, die Begrüßungen und Komplimente der Vorbeiziehenden, ließ sie über sich ergehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Nur der mahnende Blick von Lamont rief ihr wieder ins Gedächtnis, dass sie sich unangemessen und unfreundlich verhielt.
Sie dachte an all die Förmlichkeiten, die man nun von ihr erwarten würde, und sehnte sich an die ungezwungene Zeit auf dem Markt zurück. Als sie Barfuß über das warme Pflaster getanzt war. Sie in Grischas Armen lag und seine Zärtlichkeit spürte. Abwesend begann sie zu lächeln.
Wo er nun war?
„Lanessa!", Lamonts Unterton war schneidend scharf wie eine Klinge und sie sah ihn an. „Ruppert hat gefragt, wie es dir geht!"
Erst jetzt nahm sie den Vasallen von Hohenstein wahr, knickste kurz und antwortete knapp. Es schien Lamont nicht zu besänftigen, denn nachdem er gegangen war, lehnte er sich zu ihr herüber und zischte: „Reiß dich heute zusammen!"
Zum Glück wurde sie nur einen Augenaufschlag später von ihrem Vater einem südländischen Pascha vorgestellt und entkam der Aufsicht ihres älteren Bruders für eine kurze Zeit.
Dann erklangen die Fanfaren und kündigten die Anwesenheit des Königs an und sie bereiteten sich darauf vor, den Saal zu betreten.
Am Arm ihres Vaters betrat sie eine lichtdurchflutete Halle. Die hohen Fenster waren mit bunter Bleiverglasung verziert und die Sonnenstrahlen warfen bunte Flecken auf den glänzenden Boden. Der Mittelgang war mit einem funkelnden goldenen Teppich ausgelegt der vor der Königstafel endete.
Der König und sein Sohn hatten sich für den Empfang erhoben, als sie eintraten. Nervös senkte Lanessa wieder ihren Blick und versuchte, das aufdringliche Herzklopfen zu ignorieren. Eine nordische Prinzessin zeigte keine Angst, doch mit jedem Schritt wurden ihre Beine weicher.
Sie betrachtete die Schuhe der Edelleute, die sie umsäumten, und lenkte sich mit einem Zählspiel ab, als die Fanfaren wieder ertönten und man ihre Namen ausrief.
Zitternd hielt sich Lanessa an dem Arm ihres Vaters fest. Doch es gab ihr keinerlei Sicherheit. Als sie die Königsfamilie erreichten, kamen sie ihnen ein Stück entgegen, um ihre Gäste angemessen zu empfangen. Der König war ein alter Mann. Dünn und hager. Sein Bart und das Haar waren weiß wie der Marmor zu ihren Füßen, doch der prüfende Blick, mit der er sie betrachtete, war ihr unangenehm. Sie knickste und senkte den Blick.
„Eine nordische Schönheit, so wie ihr berichtet habt", sprach der König tonlos zu ihrem Vater. „Und wild, wie wir hörten."
Lanessa spürte, wie sie errötete, aber ihr Vater wusste die Situation zu retten: „Wild wie der Norden selbst, Euer Hoheit, doch zweifellos auch so reizend und lieblich, wie der erste Schneefall am Morgen."
Tilon nickte nur und stellte Lairgnen seinen Sohn vor: „Dies ist mein Sohn Tigran, der erste seines Namens, Drachenreiter und Eroberer der Westmarken."
Der nordische König begrüßte den Kronprinzen und trat einen Schritt zur Seite, um seiner Tochter platz zu schaffen. Widerwillig hob Lanessa den Blick, nachdem sie ihre Hand für einen Handkuss dargereicht hatte. Als der Kronprinz wieder den Kopf hob, sah sie in ein dunkles Paar Augen, in denen der Glanz eines tiefen Feuers glühte und die Überraschung in ihrem Gesicht zeichnete ein schiefes Lächeln auf seine schmalen Lippen.
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