Wein ...
Lanessa war vollkommen durcheinander.
Erst als sie an der Tafel neben ihrem Verlobten saß, nahm sie allmählich die Umgebungen wieder wahr. Ihre Gedanken überschlugen sich so rasant, dass sie jedoch nichts davon mitbekam. Die Gespräche, die Geräusche und die Musik um sie herum waren nur ein einziger rauschender Ton in ihren Ohren und Lanessa fühlte sich wie versteinert.
Sie traute sich nicht einmal, den Prinzen anzusehen.
Verzweifelt versuchte sie, sich an die Konversations- und Umgangsformen zu erinnern, die ihr die alte Kindermuhme und auch ihre Mutter jahrelang versucht hatten einzutrichtern. Lanessa hatte daran nie viel Interesse gehegt und während der Stunden über andere Dinge sinniert, zum Beispiel, wo sie eine neue Sehne für ihren Bogen herbekommen würde. Es war wie jetzt. Sie war der Situation entschwunden und dachte über Belangloses nach.
Doch der Schock saß ihr noch immer im Nacken.
Dabei wusste Lanessa nicht einmal mehr genau, was sie eigentlich erwartet hatte. Sie war in den vergangenen Wochen so sehr damit beschäftigt, den Barbaren – das Phantom in ihrem Kopf – zu hassen, dass sie nie den Gedanken zugelassen hatte, dass es sich dabei um einen Menschen handelte. Und dass es sich dabei auch noch um diesen Menschen handelte, brachte ihre ganze Überzeugung durcheinander.
„Ihr wirkt überrascht", begann der Kronprinz nach einer Weile ein Gespräch.
Lanessa konnte nur nicken, auch wenn sie wusste, dass das völlig unhöflich war. Sie fing die Blicke ihrer Brüder auf und es war, als konnte sie Lamonts zischende Stimme in ihrem Geist hören. Immer wieder sahen sie zu ihr herüber. Lanessa kam sich vor, wie auf einem Präsentierteller. Tigran, war ihrem starren Blick gefolgt.
„Eure Brüder haben Euch im Blick", sagte er leise und lehnte sich etwas zu ihr herüber.
Sein Atem berührte ihre Wange.
„Das haben sie ständig", gab Lanessa etwas steif zurück.
„Nicht an allen Tagen, wie ich hörte." Amüsement schwang in seiner Stimme mit.
Vielleicht war es der lockere Tonfall, der ihr ein wenig Mut gab. Unsicher sah sie ihn an. Seine dunklen Augen glühten vor Belustigung und er hatte die linke Braue etwas angehoben. Zum ersten Mal stellte sie fest, dass sich eine schmale Narbe durch sie hindurchzog. Das schulterlange, dunkle Haar trug er heute offen und es fiel ihm in sanften Wellen ins Gesicht. Der schmalen Krone aus Rotgold schenkte sie keine Beachtung. Lanessa wusste nicht so Recht, was sie von all den Geschehnissen halten sollte.
„Ihr hättet mir sagen müssen, wer Ihr seid", sprach sie leise, aber ernst.
Sein Lächeln wurde breiter. „Und Ihr hättet Euch mit Eurem wahren Namen vorstellen müssen."
Sie wich seinem Blick aus, damit er nicht die aufsteigende Röte auf ihren Wangen sehen sollte. Sie fühlte sich plötzlich entblößt und beschmutzt. Das Rot auf ihren Wangen färbte sich unvermeidbar dunkler, als sie sich an die Verabschiedung erinnerte.
„So etwas habe ich zuvor noch nie getan", gelobte sie pflichtbewusst.
Der Kronprinz lachte leicht und zog damit wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Das glaube ich Euch nicht!"
„Wie bitte?", fragte sie empört und sah ihn an.
„Nein". Sein Lächeln wurde breiter und er gab dem Mundschenk ein Zeichen. „Mehr Wein?"
Er wartete keine Antwort ab und die rote Flüssigkeit ergoss sich in ihren Kelch. Lanessa griff mit zittrigen Fingern danach und führte ihn an ihre Lippen.
„Schämt Euch nicht", sagte Tigran schließlich und sein Lächeln war milde und freundlich, „ich fand Eure Gesellschaft sehr angenehm und unterhaltsam. Ich hatte den Eindruck, Euch erginge es ebenso."
Lanessa konnte abermals nur nicken, doch sie erwiderte sein Lächeln zaghaft. Dann trat ein Mann zu ihnen an den Tisch und forderte ihre Aufmerksamkeit.
„Lady Lanessa", sprach er nach einer förmlichen Begrüßung, „ich muss gestehen, die Geschichten Eurer Schönheit werden Euch nicht gerecht!" Er verneigte sich vor ihr und Tigran erklärte: „Darf ich Euch Ramón Majore vorstellen, Mylady. Er ist mein getreuer Hauptmann, Mitglied der Leibgarde und ein treuer Freund."
„Und ein Schmeichler", rutschte es ihr frech heraus, bevor sie darüber nachgedacht hatte.
Der Kronprinz lachte auf.
„Sie hat Euch bereits durchschaut, Ramón", sprach er belustigt.
Sie wechselten ein paar höfliche Worte und Ramón versprach ihr seine andauernde Dienstbereitschaft, bevor er wieder ging. Im Laufe des Vormittags wurden der nordischen Prinzessin weitere bedeutende Gefolgsleute vorgestellt und Tigran stellte ihr die Zofe Mira Monjen zur Seite, die sie die südländischen Brauchtümer, Sprache und Traditionen lehren würde.
„Ihr seid sehr freundlich zu mir", sagte sie, als die hübsche Zofe wieder verschwunden war.
„Es ist mein Wunsch, dass Ihr Euch wohlfühlt", beteuerte Tigran ernst und sah sie an. „Und wenn es Euch an irgendetwas mangelt, dann lasst es mich wissen."
Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brustgegend aus und es war aufrichtige Dankbarkeit, die sie empfand. Doch im nächsten Moment, fühlte sie sich furchtbar beschämt, als sie sich daran erinnerte, was sie all die Wochen über die Königsfamilie und dessen Reich gedacht hatte. Lanessa versuchte sich, mit einem Gespräch von diesen Gedanken abzulenken.
„Ich hörte, Ihr nehmt an den Kampfspielen teil", sagte sie einleitend.
„Das ist richtig."
„In welcher Disziplin, tretet Ihr an?"
„Zweikampf mit dem Schwert", sagte er. „Es findet erst am vorletzten Tag statt."
„Seid Ihr denn gut in der Schwertkunst?", wollte Lanessa wissen.
Tigran grinste und meinte zwinkernd: „Ich bin gut in allem, was ich tue."
Lanessa musste über so viel Überheblichkeit aufrichtig lachen und es schien ihm zu gefallen.
„Ich bin gespannt darauf, mich davon selbst zu überzeugen", sagte sie munter.
„Ich werde mir Mühe geben, Euch nicht zu enttäuschen!"
❖ ❖ ❖
Am Mittag fanden sie sich in einer überdachten Halle ein, um der Eröffnung der Turnei beizuwohnen. Die Königsfamilie hatte einen kühlen Platz auf einem Balkon. Dienstboten am Rande der Sitzplätze fächerten ihnen mit großen Papierfächern Luft entgegen, damit die Hitze nicht zum Stehen kam.
Gemeinsam sahen sie sich eine kleine Parade an, die prunkvoll die Teilnehmer ehrte. Lanessa fand Gefallen an den temperamentvollen feingliedrigen Pferden der Südländer. Die großen, wachsamen Augen und die schlanken Köpfe verliehen diesen Tieren einen edlen Ausdruck. Auch fiel ihr auf, dass die Rüstungen der Südländer viel leichter wirkten und etliche Lücken aufwiesen, wohingegen die Panzer ihrer Heimat hauptsächlich aus Stahl und Leder bestanden. Das hatte auch Auswirkungen auf die Waffen. Die Schwerter der Nordländer waren schwerer und breiter und die meisten von ihnen mussten zweihändig geführt werden, während die Südländer scheinbar vorzugsweise oft mit Einhandwaffen kämpften.
Nachdem das Spektakel geendet hatte, begann der friedliche Buhurt; einem Gruppenkampf mit stumpfen Waffen.
Zu Beginn fand Lanessa es interessant, die Unterschiede der nordländischen und südländischen Kampfkunst zu beobachten. Sie hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu, wie sich ihr Vater und der König über die differierenden Taktiken unterhielten. Schon bald war Lanessa derer müde und ihre Gedanken drifteten immer wieder ab.
„Ihr langweilt Euch", stellte Tigran nach einer Weile fest, ohne seinen Blick von den Kämpfen zu nehmen.
Mittlerweile standen nur noch etwa zehn Männer auf dem Platz.
„Nicht doch", tat Lanessa seine Feststellung ab, senkte jedoch die Stimme, „ich sehe mir gerne an, wie Männer aufeinander eindreschen. Es ist so erfrischend." Der Schalk in ihren Augen strafte sie Lügen und Tigran hatte Mühe, sein Lächeln zu verbergen.
„Vielleicht kann ich die Lady mit einem kleinen Spaziergang erquicken?", schlug er vor.
„Das könntet Ihr durchaus!", bestätigte Lanessa.
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Einer der Männer ging nach einer Verletzung zu Boden. Zwei Knappen eilten herbei, halfen ihm beim Aufstehen und brachten den Verletzten in ein Zelt, wo ihn medizinische Versorgung erwartete.
Tigran entschuldigte sich derweil bei den Königen. Dann bot er Lanessa eine Hand dar und gemeinsam verließen sie die Tribünen.
„Das ist sehr aufmerksam von Euch", bedankte sich die nordische Prinzessin, als sie die Gesellschaft hinter sich gelassen hatten. „Tatsächlich bin ich heute zu erschöpft, um mich auf diese langen Kämpfe zu konzentrieren."
„Ja ... man flüstert hinter vorgehaltener Hand, dass Ihr erst zur späten Stunde in die Festung zurückgekehrt seid."
„Man flüstert es?", wiederholte Lanessa mit großen Augen.
Tigran verkniff sich ein Grinsen, doch sie bemerkte, dass er sie eigentlich necken wollte. Sie passierten den Innenhof und kamen in einen hübschen Garten. Wasser floss zwischen den Wegen hindurch und Zikaden zirpten in den Bäumen.
Die Sonne schien auf sie herab und unter der Rise war es furchtbar heiß. Lanessa warf einen prüfenden Blick über die Schulter, bevor sie den Kronprinzen ansah.
„Wenn Ihr erlaubt, dann würde ich mich gerne meiner Kopfbedeckung entledigen."
„Dafür braucht Ihr nicht um Erlaubnis zu bitten!", sagte er sofort.
Sie lächelte dankbar und zog sich den hellen Stoff von Kopf und Schultern. Es fühlte sich so an, wie die erste warme Frühlingsluft nach einem langen Winter einzuatmen. Lanessa seufzte zufrieden und löste noch ein paar Haarbänder, damit es nicht mehr so fest an ihrem Kopf saß. Die roten Locken fielen flüssig in den Nacken und auf ihren Rücken herab. Im Schein der Südsonne glühten sie förmlich.
„Euer Haar ist viel zu prächtig, als dass es hinter einem Schleier versteckt werden sollte."
Lanessa errötete bei dem Kompliment und schlug die Augen nieder. „Ich muss Ramón Recht geben, Ihr seid viel hübscher als in allen Erzählungen."
Sie schritten ein wenig den Weg entlang und Lanessa gab nach einer Weile zu: „Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls durchaus erleichtert war, nach unserer Vorstellung."
„Was habt Ihr denn erwartet?", fragte er leise.
„Einen Barbaren", gab Lanessa unbesonnen zurück. „Jemanden mit Schlangenaugen, wie die Bestie auf der Ihr reitet. Jemand, der Kinder im Feuer verbrennt."
Der Kronprinz lachte herzhaft und legte den Kopf leicht in den Nacken, doch ihre Ehrlichkeit und die Unerschrockenheit beeindruckten ihn auch.
„Wer hat Euch solcherlei Geschichten erzählt?", fragte er schließlich.
„Dieses Bildnis ziert Euer Wappen. Warum?"
„Eine lang verblichene Tradition", sagte Tigran nach kurzer Überlegung ernst. „Jahrhunderte her."
Lanessa musterte ihn kritisch. Dann fragte sie neugierig: „Und welche Erwartungen habt Ihr gehegt?"
Tigran fasste sich ans Kinn und machte eine Geste, als würde er sich über langes Gesichtshaar streichen.
„Mehr Bart", sagte er schmunzelnd.
Lanessa sah ihn entsetzt an, musste jedoch selbst lachen.
„Bart?", wiederholte sie ungläubig. „Wir stammen nicht vom Zwergenvolk ab!"
„Nicht?", fragte er und grinste nun genauso frech zurück.
Dann ging sein Blick auf etwas hinter ihr und Lanessa wandte sich um und sah Leif. Als sie sich Tigran wieder zuwandte, sagte sie ernst: „Er hat seit gestern nicht mehr mit mir gesprochen ..."
„Der besagte Bruder?", fragte er neugierig.
Sie nickte nur.
Er kam zögerlich herbei, blieb bei Ihnen stehen und neigte kurz den Kopf.
„Eure Hoheit", grüßte er respektvoll. „Lanessa, Vater vermisst dich bei den Spielen."
„Verzeiht mir, Lord Leif, dass ich Eure Schwester entführte", sprach Tigran mit einem entschuldigenden und unglaublich charmantem Lächeln. „Ich wollte ihr den Garten zeigen, ich dachte, er könnte Ihr gefallen."
„Das tut er", bestätigte Lanessa sofort.
Leif sah von seiner Schwester zu Tigran und schien nicht ganz zu wissen, wie er den Auftrag seines Vaters – seine Schwester zurückzuholen – ausführen sollte, ohne den Prinzen zu beleidigen.
„Unser Vater", sprach er schließlich ernst, „ist in Sorge, seit dem gestrigen Tag. Der Verlust seiner einzigen Tochter hat ihn großen Kummer bereitet."
„Wohl wahr, ich hätte Euch informieren müssen", sagte Tigran frei heraus.
Leif sah von ihm zu Lanessa und wieder zurück.
„Ich ...", meinte er zögernd, „ich verstehe nicht ..."
„Als wir uns gestern auf dem Markt begegneten, da lud ich die Lady Lanessa ein, um sie herumzuführen. Sie erzählte, sie wäre in Begleitung ihres Bruders da, doch sie hatte Euch scheinbar verloren."
Leif sah Lanessa ernst an, aber er konnte seine Zweifel nicht aussprechen, ohne den Kronprinzen als Lügner darzustellen. Seine Schwester wusste darum und während sie seiner unergründlichen Miene begegnete, hielt sie kurz den Atem an.
„Lord Ruppert hat uns gesehen, wie Lamont mir mitteilte", sagte sie schließlich zur Bekräftigung.
„Verzeiht mir Hoheit, ich wollte nicht ..." Ihr Bruder senkte demütig den Blick.
„Ich bin es, der um Verzeihung bitten sollte", unterbrach ihn der Kronprinz, „ich hatte Euch eures Schatzes beraubt. Es wäre angebracht gewesen einen Diener zu schicken, um Euch zu informieren."
Dem konnte Leif nichts entgegensetzen.
„Vielleicht wärt Ihr so nett, Euren Vater darüber zu unterrichten", sprach der Prinz weiter, „falls Ihr uns gestattet, den Spaziergang fortzusetzen. Ich versichere Euch, ich werde die Lady Lanessa wohlbehalten wieder zurückbringen."
Überrascht und auch etwas widerwillig stimmte Leif zu, wandte sich um und ging davon. Verblüfft sah Lanessa ihm nach und als er verschwunden war, blickte sie mit einem anerkennenden Blick zu Tigran auf.
„Ich danke Euch!", sagte sie ernst.
Tigran lächelte zufrieden, bot ihr erneut den Arm an und sprach: „Doch nicht für die Wahrheit."
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