Reisen

Auf dem Hügel wendete Tigran sein Ross und blickte zurück. Sein Vater hatte den halben Hof mobilisiert. Ein beeindruckendes Gefolge, welches dem Norden ihre Macht demonstrieren sollte. Nur ein Bruchteil ihrer Streitmacht folgte ihnen, aber immerhin zogen sie nicht in die Schlacht, sie reisten zu einer Verlobungsfeier. Seit Wochen liefen die Vorbereitungen für die Turniere und die Feste bereits. Der König hatte in die Nordfestung geladen. Kap Drachenstein wurde schon lange nicht mehr als Festung genutzt. Vor Jahrhunderten, bevor es die Waffenruhe zwischen den beiden Königreichen gab, diente der Sitz zur Kontrolle über die Landzunge, die den Norden und Süden Eunobas miteinander verband. Heute war dies nur noch ein prunkvoller Landsitz, der für seinen Unterhalt Unmengen an Gelder verschlang.

Der Rotfuchs wölbte den Hals und scharrte ungeduldig mit den Hufen und Tigran gab seinem Verlangen schließlich nach und schloss zu seinen Kameraden auf.

Der Kronprinz ritt nicht oft zu Ross, doch er genoss die Kameradschaft seiner Männer. Und diese Kameradschaft hatte er gerade bitternötig. Trotzdem war Aeris allgegenwärtig und hielt ein Auge auf ihn. Ab und an verdunkelte der Schatten ihres gewaltigen Körpers die Sonne.

„Ich hörte, die Frauen des Nordens seien von Kopf bis Fuß behaart wie Kaninchen", sagte Grigori unter dem Gelächter seiner Begleiter.

Die Männer ringsherum lachten schallend.

„Kindermär", tat Xander diese Bemerkung ab. „Als man mich oben in Karbelya stationierte, da hatte ich mal eine Nordfrau und sie war nicht mehr und nicht weniger behaart, wie die im Süden."

„Ich hab mal eine kennen gelernt, die trug einen Bart", meinte einer der Knappen, der sie begleitete.

„Junge", rief Xander schallend, damit es auch jeder im Umkreis hören konnte, „da hast du's mit einer Zwergin getrieben!"

Das Gesicht des Knappen färbte sich dunkelrot und er begann zu stammeln: „Aber ... also ... n-n-nur ... nur kennen gelernt ..."

Der Grünschnabel war eine willkommene Abwechslung für die Männerrunde während des langen Ritts und sie fielen gleich wie die Geier über ihn her.

Tigran gab seinem Hengst die Sporen und ritt einige Pferdelängen voraus. Nach Spott und Hohn stand ihm derzeit nicht der Sinn. Er maßregelte seine Kameraden, aber auch nicht. Schließlich konnte Tigran sich bei der morgendlichen Trainingsroutine revanchieren. Jedem dieser Männer hatte er bereits mehr, als einmal sein Leben zu verdanken, er würde ihnen nur den Mund verbieten, wenn es notwendig war.

Ramón schloss zu ihm auf und der Rotfuchs drohte dem näherkommenden Hengst kurz.

„Es ist noch ein langer Ritt bis zum Kap", sagte er und parierte durch. „Wollt Ihr den ganzen Weg über Trübsal blasen?"

„Nicht den ganzen Weg", gab er rau zurück und sah gen Himmel, wo Aeris über sie hinweg glitt, „vielleicht fliege ich den Rest einfach."

Ramón seufzte leise und ritt eine Weile neben dem Prinzen – neben seinem Freund – her, ohne ein Wort zu wechseln. In Gedanken bei den Abenteuern, die sie während der Kriegsführung zusammen erlebt hatten. Nicht alles davon war schlecht gewesen. Zwischen den Schlachten hatte es auch gute Zeiten für sie beide gegeben.

Diese gemeinsamen Erlebnisse hatten sie wie Brüder zusammengeschweißt und wie Brüder sahen sie einander in die Herzen. Ramón wusste, dass die Zukunft viel schwerer auf den Schultern des Kronprinzen lastete, als alle Kämpfe, die sie je ausgefochten hatten. Die Vorahnung niemals wieder die Freiheit zu verspüren, die für das Überleben in der Kriegsführung notwendig war, sie zu verlieren, ängstigte Tigran. Die Vorstellung, im Thronsaal gefangen zu sein und sich Tag für Tag die Leiden seiner Untertanen anzuhören – das gegen ein Leben unter freiem Himmel einzutauschen – war ihm ein Gräuel. Doch es war auch sein Schicksal als Thronerbe.

„Man sagt die Frauen des Nordens seien schön wie Engel", plauderte Ramón darauf los. „Mit Haar wie Goldfäden und einer Haut, weiß wie Schnee."

Tigran hob die Hand und sein Freund verstummte augenblicklich. Er hatte genug von Geschichten, denn mehr als Geschichten waren all diese Gerüchte nicht.

End es gab nur einen Engel in seinem Leben und dieser Trug einen Panzer aus harten Schuppen mit der Farbe des Sandes der Wüste Giori und sein Atem war Feuer.

Aeris brüllte über ihren Köpfen und es war beinahe so, als teilte sie seine Gedanken.


❖ ❖ ❖

Lanessa legte den Mantel ab und gab ihn im Vorbeireiten ihrer Zofe Ylvie in die Kutsche. Die junge Frau hatte es sich nicht nehmen lassen selbst zu reiten. Als Schwester von drei Brüdern hatte sie schon früh begriffen, dass man im Norden nur überlebte, wenn man sich durchsetzen konnte. Sie hatte wie ein Junge kämpfen gelernt, ritt wie ein Junge und schlug ihre Brüder noch manches Mal im Bogenschießen. Einst hatte ihr Vater sich über seinen Wildfang gefreut, bis zu jenem Tag, da er beschlossen hatte, seine Tochter zu einer Lady zu machen. Diese Rolle hatte Lanessa nie gelegen und sie hatte weder das Reiten noch das Kämpfen aufgegeben, wenngleich ihr Bruder Leif ihr das Versprechen entlocken musste, die heimlichen Übungsstunden für sich zu behalten.

Sie waren bereits schon seit zwei Wochen unterwegs. Der Hofstaat, die Kutschen und nicht zuletzt der Transport der Verpflegung hielten sie auf. Je weiter sie in den Süden kamen, desto farbenfroher wurden die Bäume und Sträucher. Den Schnee hatten sie schon lange hinter sich gelassen. Gerne hätte Lanessa etwas abseits der Straße die Landschaft erkundet. Genügend Zeit wäre dafür gewesen, doch Lamont und Leif hatten sie stets im Auge, als erwarteten sie, ihre Schwester würde die nächste mögliche Gelegenheit ergreifen, um vor ihrer Verlobung zu fliehen. Besonders Lamont fühlte sich zum Aufpasser berufen und bevormundetet sie, sobald er es nur den kleinesten Anlass gab. Ihr ältester Bruder war zu ihnen gestoßen, nachdem sie einen Zwischenstopp auf Burg Hohenstein gemacht hatten. Hohenstein war die südlichste Festung im Norden und auch einer der größten. Diese Vasallen waren bekannt für die tadellose Ausbildung ihrer Knappen und Lamont war zusammen mit Ruppert Hohenstein als Mündel seines Vaters auf der Burg aufgewachsen. Seit dem Tod von Rubeus Hohenstein, der sein Leben bei der Bärenjagd verlor, war sein Sohn als Vasall nachgerückt und begleitete nun seinen König in den Süden.

Noch war diese Reise für Lanessa ein Abenteuer. Zwar kannte die junge Prinzessin den Grund der Strapazen, doch alles wirkte viel zu abstrakt. Tief im Herzen hoffte sie auf ein schicksalswendendes Wunder. Vielleicht würde der Kronprinz gar nicht erst auftauchen oder ihr eigener Vater würde von der göttlichen Erkenntnis ergriffen, dass er einen Fehler machte. Lanessa war besonnen und die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

Während sie über die möglichen Ereignisse sinnierte, die bei den Südländern einem Aufbruchs-Stopp verursachen könnten, rief Leif, der Abseits des Zuges auf einem Hügel halt gemacht hatte, sie herbei. Lanessa lenkte ihre Scheckstute zu ihm hinüber und als sie die Kuppe erreichte, wusste sie, was er ihr zeigen wollte.

Vor ihnen ergoss sich die Landschaft, wie in einem Gemälde. Zu ihrer rechten verschwamm das dunkelblaue Meer mit dem Horizont und schien im Nichts zu enden. Die bunte Farbenpracht der Tundra lag vor ihnen und begrünte die Oberfläche, der schroffen felsigen Küste. Dann sah Lanessa es und mit einem Mal rutschte ihr das Herz in die Hose: Kap Drachenstein, mit der imposanten Festung auf der Spitze der Klippen. Die Bauweise der Burg selbst hatte etwas Befremdliches und wirkte wie von einem flachen Teller gedeckelt. Etliche Türme flankierten sie entlang der Küste und schienen direkt in den Fels geschlagen. Sie alle schauten über eine gewaltige Mauer hinweg gen Norden.

Sie waren beinahe angekommen.

„Das ist es", sagte Leif und deutete in die Ferne, „doch als er den Gesichtsausdruck seiner Schwester sah, gefror das Lächeln auf seinen Lippen."

„Mein Gefängnis", meinte sie tonlos.

Leif ließ den Arm sinken.

„Drachenstein ist schon lange nicht mehr der Sitz des Hauses Tejudis", erklärte er und seine Stimme wurde noch eine Nuance leiser, „der ist viel weiter südlich."

„Was gibt es hier zu sehen?", rief Lamont, der gefolgt von Loke und Ruppert, zu ihnen getrabt kam.

„Ich hatte es mir größer vorgestellt", sagte der Jüngste enttäuscht, nachdem er sie erreicht hatte.

„Es ist die größte Festung über Tage, die je in Eunoba gebaut wurde", belehrte Ruppert ihn spöttisch. „Du wirst dich wundern, wenn wir durch die Tore reiten. Ich wollte es schon immer einmal sehen ..."

Er wendete sein Pferd wieder und Lamont und Loke folgten ihm.

Als Lanessa den Blick über die fremde Landschaft schweifen ließ, spürte sie, wie sie zitterte. Einen Herzschlag lang, wünschte sie sich ihre Mutter mit ihrer tröstlichen Art herbei. Doch Lady Alhanya war im Norden geblieben, um sich um die Belange dort während der Abwesenheit ihres Mannes zu kümmern, und plötzlich fürchtete Lanessa, dass es ein Abschied für immer gewesen war.

„Ich wünschte, Mutter wäre hier", sprach sie leise.

Leif sah sie mitfühlend an.

„Sie wird uns besuchen, sobald sie kann", sagte er milde.

Lanessa sah ihren Bruder verwundert an und fragte: „Uns?"

Er schien ihre Frage nicht zu begreifen und antwortete nur mit „Ja".

„Du kommst mit?", stellte Lanessa überrascht fest. „In den Süden?"

Sein Gesicht hellte sich verstehend auf und er nickte.

„Glaubst du, Vater lässt dich alleine mit diesen Barbaren?" Er wendete ebenfalls sein Pferd und fügte hinzu: „Komm, wir sollten Lamont nicht zu lange warten lassen."

Lanessa gehorchte, doch ihr Herz fühlte sich schon ein wenig leichter an.

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