Drachentempel
Als Lanessa die Augen aufschlug, war es bereits hell. Ihr Kopf ruhte auf Tigrans Schulter, sein Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen. Einen Moment blieb sie einfach liegen und genoss seine Nähe. Genoss es, nicht denken und nichts fürchten zu müssen, es gab nur sie beide für einen Augenblick. Doch er war endlich.
Sie spürte, wie seine Hand über ihr rotes Haar strich, spürte seine Lippen an ihrer Stirn. Er flüsterte ihren Namen. Lanessa liebte es, wenn er ihren Namen aussprach. Nur widerwillig hob sie den Kopf und wurde mit einem zärtlichen Kuss belohnt. Ihr Körper begann erneut zu kribbeln, doch dann löste Tigran sich von ihr und sagte ernst: „Ich sehe nach Aeris. Bleibt hier und wartet, bis wir zum Aufbruch bereit sind."
Lanessa nickte nur schwach. Noch immer fühlte sie sich zittrig.
Er küsste sie noch einmal, dann hob er sie von sich herunter und stieg aus dem warmen Wasser. Lanessa zog die Knie bis zum Kinn und umklammerte ihre Oberschenkel, während sie wartete.
Die Wintersonne schien blass und kalt auf sie herab. Nachdem sich Tigran angekleidet hatte. Ging er hinüber zu den großen Krater, in dem sich Aeris in der Nacht versenkt hatte. Er pfiff und rief sie, doch der Drache steckte nur kurz die Hälfte seines Kopfes hinaus, sah Tigran vorwurfsvoll an und tauchte wieder ab. Luftblasen stiegen aus dem Krater hervor. Der Kronprinz hockte sich vor die Quelle und sprach auf Aeris ein, doch sie reagiert nicht auf ihn. Fluchend erhob er sich schließlich und kam zurück zu Lanessa.
„Wartet hier auf mich", meinte er. „Ich werde mich etwas umsehen. Vielleicht kann ich ihr etwas zu Fressen besorgen."
„Jagen Drachen nicht selbst?", fragte Lanessa neugierig.
Tigran zuckte mit den Schultern.
„Könnte sie bestimmt, doch es war nie notwendig. Es dient eher einer Versöhnung." Er lächelte gequält. „Sie hat nicht gerade die beste Laune ..."
„Verständlich", gab Lanessa zu und abermals ergriff das schlechte Gewissen von ihr Besitz.
Tigran verabschiedete sich und verschwand durch das Unterholz im Wald.
Lanessa sah ihm nach, bis er außer Sicht war, dann kehrten ihre Gedanken zurück nach Hause. Wie es ihrer Familie gerade erging? Hatten ihre Eltern den Brief bereits gelesen und akzeptieren sie Lanessas Entscheidung oder waren Leif und Lamont bereits auf ihrer Fährte, um sie zurückzuholen?
Es verging etwas Zeit, bis Tigran zurückkam. Über den Schultern trug er ein totes Schaf. Aeris witterte das Tier sofort. Neugierig hob sie den Kopf aus dem Wasser.
„Ich denke, Ihr könnt Euch ankleiden", sagte der Kronprinz mit einem Blick auf den Drachen.
„Woher habt Ihr das Schaf?", fragte Lanessa und griff nach ihrem Zobelfellmantel, um damit ihre Blöße zu bedecken, bevor sie aus dem Wasser trat.
„Von einer Wiese nicht weit von hier", erklärte Tigran und ließ den Kadaver auf den Boden fallen.
„Gestohlen?"
„Es war eine Notwendigkeit", sagte er schlicht.
Eilig kleidete Lanessa sich an. Nach dem Aufenthalt in der Quelle erschien ihr die Luft noch viel eisiger und kälter zu sein, als sie eigentlich war.
Tigran schnalzte mit der Zunge und endlich kroch Aeris aus dem Krater hervor. Sie kam so nahe heran, dass sie das Schaf packen und in einem verschlucken konnte. Der Kronprinz tätschelte derweil ihre Schulter und begutachtete die geschwollenen Zehen. Auch die Schwanzspitze des Drachens war aufgequollen. Lanessa sah die Sorge in seinem Gesicht.
„Ist sie stark genug für den Weg?", fragte sie ihn.
„Sie hat mehr Verletzungen, als ich es befürchtet hatte", gab Tigran zu. „Aber wir sollten es bis nach Thikhal schaffen. Mit einigen Zwischenstopps."
Aeris schüttelte sich und fixierte bereits wieder das Wasser doch der Kronprinz hielt sie zurück.
„Wir müssen rasch aufbrechen", sprach er. „Habt Ihr alles?"
Lanessa nickte und hob die kleine Tasche auf, in der sie die Habseligkeiten und Erinnerungen verstaut hatte, die sie von zuhause mitgenommen hatte. Tigran saß bereits auf Aeris Rücken, als sie sich umwandte.
Er half ihr hinauf und sie setzte sich vor ihn. Jetzt, da es hell war, bemerkte sie erst, wie hoch sie über den Boden thronten. Tigran sicherte sie beide, dann lehnte er sich etwas vor und fragte: „Bereit."
Lanessa hatte den Blick über die Landschaft schweifen lassen. Vermutlich würde es das letzte Mal sein, dass sie die schneebedeckten Berge sah.
„Ja", flüsterte sie schließlich.
Tigran gab Aeris ein Zeichen. Der Drache wandte sich um, ging in die Hocke und stieß sich kraftvoll ab. Lanessa wurde durch die schnelle Bewegung gegen Tigrans Brust gedrückt. Unter ihnen wurden die Bäume immer kleiner und eine beeindruckende Aussicht eröffnete sich ihr. Kurz darauf sah sie Dörfer, einsame Waldhütten und weit in der Ferne Hohenstein. Es fühlte sich für einen Moment so an, als hätte Lanessa ihre Heimat nie richtig kennen gelernt.
„Gefällt es dir?", rief Tigran gegen den Wind an.
„Es ist", sie versuchte, ihr Haar zu bändigen, „unglaublich!"
Tigran lachte leise und schlang seine Arme um sie. Aeris flog vielleicht fünfhundert Fuß hoch. Wo sie Dörfer passierten, liefen die Menschen auf die Straße und sahen gen Himmel. Doch wenn der Schatten über Felder und Wiesen jagte, flohen allerlei Tiere vor ihm. Von hier oben, konnte sie bereits den Süden und das Meer sehen. Es wirkte wie ein kleiner Katzensprung, aber sie sollten noch lange unterwegs sein.
Irgendwann zeigte Tigran in die Ferne. Lanessa sah die Burg, die sich an die Felsküste schmiegte.
„Drachenstein!", rief er deutlich.
Lanessa nickte nur. Sie hatte sich in ihren Mantel eingekuschelt, denn der andauernde Wind war kalt und unangenehm geworden.
„Wie weit fliegen wir noch?"
„Nicht mehr weit", sprach er, „wenn wir die Kargheit der Steppe hinter uns gelassen haben suchen wir uns einen geschützten Platz. Aeris ist schon erschöpft."
Es war bereits Nachmittag, als sie eine Senke am Waldrand fanden, in der sie rasteten. Tigran versuchte abermals, den Pfeil aus dem Drachenauge zu entfernen, doch Aeris setzte ihm deutliche Grenzen. Ihr Schwanz peitschte über den Boden, dass die Pinienzapfen zu Geschossen wurden. Sie fletschte die Zähne, wenn er zu weit ging, stellte den Rückenkamm auf und schnappte ins Leere. Auch von einem Täuschungsmanöver ließ sich Aeris nicht verwirren. Schließlich rollte sie sich zusammen, steckte den Kopf unter den Flügel und rührte sich nicht mehr. Fluchend gab Tigran auf.
„Sie ist beleidigt", meinte er griesgrämig, als er sich neben Lanessa auf einem Felsen niederließ.
Lanessa lächelte nur und reichte ihm ein Stück Käse und dazu Brot, das sie in Hohenstein eingepackt hatte.
„Tatsächlich", sagte sie schmunzelnd, „erinnert ihr beide mich ein wenig an Leif und mich."
Tigran grinste und sah dann wieder besorgt zu dem Drachen.
„Wenn es nur nicht so ernst wäre", sagte er. „Es macht mir Sorgen, dass der Pfeil noch drin steckt."
„Können sie ihr in Thikhal denn überhaupt helfen?", fragte Lanessa.
„Da bin ich mir sicher", sprach Tigran zuversichtlich. „Die Reise wäre schnell gemacht, wenn sie bei Kräften wäre."
Unruhig stand er wieder auf und ging zu Aeris hinüber. Er berührte sie sachte am Oberschenkel, doch sie rührte sich nicht. Ihre Flanken hoben und senkten sich in gleichmäßigen Zügen. Besorgt blieb er neben ihr stehen.
„Wie weit ist es noch bis zum Tempel?"
„In dieser Geschwindigkeit drei bis vier Tage", sprach Tigran ernst, dann kam er wieder zu Lanessa zurück.
Tigran sollte Recht behalten. Aeris wurde mit jedem Tag schwächer. Zwei Tage lang glitten sie schon über hohe Baumwipfel hinweg ohne, eine Möglichkeit zur Landung. Als sie danach Rast machten, rollte sich der Drache gleich ein und schlief fast einen ganzen Tag. Tigran nutze die Gelegenheit an der angrenzenden Straße einen vorbeifahrenden Bauern etwas Proviant abzukaufen. So konnten sie zumindest, bezüglich ihrer Verpflegung, sorglos bleiben. Lanessa trug ihren Zobelfellmantel schon lange nicht mehr. Das Klima hier war warm und schwül und so diente der Mantel nur noch als Unterlage, wenn sie rasteten. Wehmütig strich sie mit der Hand über das schwarze Fell. Er war ein Geschenk ihrer Mutter zum sechzehnten Geburtstag gewesen.
Lanessa fragte sich abermals, wie es ihren Eltern gerade erging. Was hatten sie gedacht, als sie ihre Nachricht fanden und wie würde Lamont darauf reagieren? Er würde sicher zornig sein, während Leif sich in Stille zurückzog. Sich nicht persönlich von Leif verabschieden zu können, verursachte ihr noch immer Bauchschmerzen. Er war derjenige, ihrer drei Brüder, den sie am schmerzlichsten vermissen würde.
Loke allerdings würde sie wohl am meisten fehlen. Als der jüngste unter den Geschwistern fiel ihm das Abschiednehmen noch immer am schwersten und Lanessa hatte Mitleid mit ihm. Doch gleichermaßen beneidete sie ihre Familie auch, denn schon bald würden sie nach Hause zurückkehren. Einem Zuhause, dass Lanessa für immer aufgegeben hatte.
„Ihr seid ja noch wach", stellte Tigran fest, als er sich umdrehte.
Lanessa antwortete zunächst nicht, sondern starrte hinauf in den Sternenhimmel.
„Ich vermisse mein Zuhause", flüsterte sie leise.
Er zog sie näher an sich heran und küsste ihren Hals.
„Bald werden wir ein eigenes Zuhause haben", sagte er sanft, „und dann werden wir Eure Familie einladen."
Die Vorstellung brachte Lanessa zum Lächeln, auch wenn es noch so absurd war. Sie hatte Schande über ihre Familie gebracht, Schande über ihr Haus und vor allem Schande über ihren Vater. Sie jemals wiederzusehen war eine verschwindend geringe Hoffnung. Doch sie tat diesen Gedanken ab und malte sich stattdessen aus, wie es sein würde: In ihrem eigenen Zuhause, mit ihrer Familie zusammenzukommen und mit diesem Gedanken, schlief sie friedlich ein.
❖ ❖ ❖
Am nächsten Tag brachen sie noch im Morgengrauen auf. Tigran war bestrebt, Thikhal zu erreichen. Dafür mussten sie ein Gebirge passieren. Die Steigung war sehr kräftezehrend für Aeris. Ihr Atem war bereits laut und rasselnd zu hören, sie schien Schmerzen zu haben. Das verletzte Auge war angeschwollen und verkrustet und die Stellen der Erfrierung färbten sich allmählich schwarz.
Als sie den Gipfel passierten, wurden sie von einer goldenen Sonne empfangen. Die Strahlen blendeten Lanessa für einen Moment. Sie schirmte den Blick mit den Händen ab. Tigran deutete in die Ferne, wo man einen kleinen Punkt im Wald erkennen konnte.
Beharrlich behielt Lanessa dieses Ziel im Blick und es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie es erreicht hatten. Die große Tempelanlage war unter dem Dach uralter Bäume versteckt. Nur die Spitze des höchsten Turmes ragte etwas hinaus. Tigran ließ Aeris auf einer freien Fläche landen. Der Drache gehorchte sofort und sank kraftlos auf die Seite, nachdem sie abgestiegen waren.
Tigran strich ihr besorgt über den Kiefer und flüsterte ihr etwas zu. Dann streckte er Lanessa die Hand entgegen und führte sie zwischen den steinernen Gebilden hindurch. Gemeinsam steuerten sie das größte Gebäude an. Doch noch bevor sie den Fuß auf die erste Treppenstufe setzten, kam ein Mann die ausladende Treppe herab.
Er trug ein grünes Gewand, das an der Schulter mit einer Gewandfibel fixiert war. Darunter orangefarbene Hosen und Ledersandalen. Seine Augen jedoch, waren mit einem schlichten Leinentuch verbunden. Kurz bevor er sie erreichte, öffnete er die Arme und sprach: „Tigran Tejudis, erster seines Namens, Drachenreiter und Bruder von Tillianna Tejudis."
„Eure Heiligkeit", Tigran ging vor dem Oberhaupt der Kleriker auf die Knie und Lanessa tat es ihm gleich.
„Eure Ankunft wurde bereits erwartet", sprach ihr gegenüber. „Die Tyreser heißen deine Tat jedoch nicht gut."
„Für meine Taten werde ich mich zu gegebener Zeit, vor den Götter verbüßen", sagte Tigran ernst.
Der Kleriker war stehen geblieben und legte zunächst dem Kronprinzen und dann Lanessa eine Hand auf den Kopf.
„Das werdet Ihr", sprach er ernst, „doch bis dahin werdet Ihr Buße tun."
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