Das Versprechen
An dem Tag, an dem Aeris zum ersten Mal aus den Katakomben kroch, kehrte auch Tigran zurück. Es erschien Lanessa nicht einmal zufällig zu sein. Der Kronprinz hatte von ihrer gemeinsamen Verbindung berichtet und als das Brüllen des Drachens die Luft erfüllte, eilte sie hinaus und lief direkt in Tigrans Arme.
Weinend schmiegte sie sich an ihn.
„Ich habe Euch schmerzlich vermisst."
„So wie ich Euch", flüsterte Tigran ihr zu und küsste sie.
„Wie ist es Euch ergangen?", wollte Lanessa wissen, als sie sich voneinander lösten.
Tigrans Blick suchte Ramón, der aus dem Schatten trat und sagte ernst: „Es gibt keine gute Kunde. Ruppert hat im Westen Schiffe angeheuert, um die Truppen zu transportieren."
„So können sie Drachenstein umgehen", stellte Ramón fest.
Tigran nickte ernst.
Ängstlich sah Lanessa zwischen den beiden hin und her.
„Was wird das bedeuten?", fragte Lanessa mit zittriger Stimme.
„Es bedeutet, dass ich nicht hierbleiben kann", sprach Tigran ernst. „Die Schiffe zu zerstören, bevor sie den Norden erreichen, ist unsere einzige Chance. Wie geht es Aeris?"
„Ihr könnt mich nicht verlassen!", flehte Lanessa, „nicht jetzt!"
Die Verzweiflung in ihrer Stimme schmerzte ihn, doch es war zu ihrem eigenen Schutz notwendig. Zum Schutz seines Kindes. Vorsichtig legte er ihr eine Hand auf den gewölbten Bauch. Dann küsste er sie auf die Stirn und sagte leise: „Wir haben keine Wahl."
Lanessa schloss verzweifelt die Augen und schluckte die Tränen hinunter. Sie wollte vor Ramón keine Schwäche zeigen.
„Aeris hat heute ihren ersten Rundflug getätigt", sprach der Hauptmann, um die vorangegangene Frage zu beantworten. „Es geht ihr zumindest wieder etwas besser."
„Das klingt gut", sagte Tigran erleichtert, dann bat der Ramón sie alleine zu lassen.
Seine Schritte verklangen in der Kargheit des Tempels. Irgendwo in der Ferne wehte der Gesang der Kleriker zu ihnen herüber. Als Lanessa zu ihm aufblickte, sah er eine einzelne Träne über ihre Wange laufen. Zärtlich wischte er sie fort.
„Bitte geht nicht", bat sie erneut. „Ich fürchte, Euch zu verlieren", gestand sie ihm ernst.
„Das Risiko ist gering", versicherte er ihr. „Die Nefs werden wehrlos sein und nur mit der notwendigen Mannschaft besetzt. Sie werden brennen, noch bevor ihre Kapitäne wissen, woher die Gefahr kam."
Lanessa schien nicht besänftigt zu sein und so nahm er sie bei der Hand und führte sie hinaus in den warmen Sonnenschein. Während sie um die Tempelanlage spazierten, erzählte er auch von seinem Wiedersehen mit König Tilon.
„Ich habe ihm von unserer Vermählung berichtet", sagte er und drückte Lanessas Hand ein wenig. „Und die Erwähnung Eurer Umstände hat ihn milde gestimmt. Seit Jahren schon, wünscht er sich nichts sehnlicher, als das ich endlich heirate und Kinder habe." Er machte eine kurze Pause und schmunzelte bei dem Gedanken. Lanessa erwiderte es. „Wenn Ruppert aufgehalten ist, werden wir nach Nahambra zurückkehren können. Dann werdet Ihr einst an meiner Seite herrschen, über den Norden, sowie über den Süden. Nach diesem letzten Krieg wird endlich Frieden einkehren." Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Und das Andenken Eures Vaters wird bewahrt und geehrt sein, Lanessa. Das ist alles, was ich Euch noch geben kann."
In dem Moment, da er sie in dem Arm nahm, schien ihre Welt vollkommen zu sein. In seinen Armen konnte sie alle Sorgen und allen Schmerz vergessen. Sie war tröstend und heilsam und am liebsten hätte sie für immer darin verweilt. Tigran abermals fortgehen zu lassen war für sie unerträglich. Es konnte bedeuten, dass er nie wieder zurückkehrte.
„Da ist noch etwas", sagte sie plötzlich heiser und drückte sich ein wenig von ihm weg, um in seine Augen sehen zu können, „was Ihr mir versprechen müsst."
Beim bloßen Gedanken daran spürte sie erneut Tränen aufsteigen und ihr Herz fühlte sich eingeengt und schmerzlich an.
„Alles, was Ihr wünscht, Lanessa", sagte er leise und strich über das Haar, „Ihr seid der Engel, der mein Leben erleuchtete. Keinen Wunsch könnte ich Euch je abschlagen."
Die Tränen tropften aus ihren Augen, doch seine Worte gaben ihr Mut.
„Ihr müsst mir versprechen", sie hielt kurz den Atem an, „dass keines unserer Kinder je dem Feuer zum Opfer fällt – niemals!"
Tigrans Miene wandelte sich. Wurde hart und glatt, wie das einer Statue, der Griff um ihre Hände wurde fest und schmerzte plötzlich.
„Das kann ich nicht ...", flüsterte er leise.
„Bitte, Ihr müsst", flehte sie und abermals fanden die Tränen ihren Lauf, „ich habe alle verloren, die ich neben Euch liebte. Mein Herz würde zerreißen, wenn ihm noch Weitere folgen."
Traurig sah Tigran sie an. Wie sie weinend und am ganzen Körper bebend vor ihm stand und er erinnerte sich für einen kurzen Moment an den Abend, als sie auf dem Südturm von Drachenstein verweilten. Damals war ihm bewusst geworden, dass er alles für Lanessa tun würde: Städte verbrennen, Kriege beginnen, Regeln brechen und einiges davon hatte er bereits getan ...
„Ich verspreche es", sagte er und zog sie wieder an seine Brust, wo Lanessa dankbar schluchzte.
❖ ❖ ❖
Schon am nächsten Tag reiste Tigran wieder ab.
Lanessa sah ihnen nach, bis Aeris nur noch ein kleiner Punkt am Himmel war. Von da an betete sie jeden Tag zu den Göttern, sie mögen ihn zurückkehren lassen.
Doch bis dahin sollten viele Wochen vergehen und noch viele Ereignisse geschehen.
In einer sommerlichen Gewitternacht lag Lanessa in den Wehen. Die Geburt zog sich bis zum Morgengrauen und verlangte ihr alles an Kraft ab, dass sie noch zur Verfügung hatte. Doch ihr eiserner Wille und ihr Durchhaltevermögen sollten belohnt werden und als die Kleriker ihr die Zwillingskinder in die Arme legten, weinte sie vor Freude.
Lanessa hatte Tigran den Erben geboren, den sein Vater so herbeisehnte. Er hatte sein ebenholzschwarzes Haar und die dunkelblauen Augen eines Neugeborenen. Seine jüngere Schwester ähnelte ihm gleichermaßen. Sie waren die schönsten Geschöpfe, die Lanessa je gesehen hatte und es erfüllte sie von innen heraus mit einem Glücksgefühl, dass sie nicht in Worte fassen konnte.
Von da an, schien ihr Leben wieder einen Sinn zu haben. Ihre Gedanken und ihr Sein waren nicht immerzu vom Warten beherrscht. Ihre Kinder waren zu Lanessas neuem Inhalt geworden. Sie zu behüten und zu umsorgen war das Schönste, was es gab. Zu sehen wie sich beide mit jedem Tag veränderten war ein Geschenk der Götter.
Ihr Glück war beinahe vollständig, aber nur beinahe.
Erst am siebten Tag, des siebten Monats, hatten die Götter ihre Gebete endlich gehört.
Tigran kehrte zurück, alleine – und er war gezeichnet. Sein Bart war lang geworden und das Haar strähnig. Sein Gesicht ausgemergelter denn je. Bei ihrem Wiedersehen hielten sie sich einfach im Arm und Lanessa konnte seine Trauer und auch seinen Schmerz fühlen, ohne dass er nur ein Wort gesagt hatte.
Der Blick aus seinen dunklen Augen war trüb. Beinahe so, als wäre das Feuer darin erloschen. Jegliche Hoffnung schien verloren.
Liebevoll legte sie ihm eine Hand an die Wange. Lanessa wusste, er hatte all die Strapazen all die Kämpfe nur für sie auf sich genommen und wie sie hatte er alles verloren.
Er nahm ihre Hand, küsste sie zärtlich und als er sie sinken ließ, schien er erst zu bemerken, wie lange er fort gewesen war.
„Unser Kind?", fragte er heiser.
„Möchtet Ihr sie kennenlernen?"
„Es ist ein Mädchen?"
Lanessa lächelte geheimnisvoll. Sie nahm ihn bei der Hand und führte Tigran den Tempel hindurch bis zu einem kleinen außenliegenden Hof im Westflügel. Im Schatten, schaukelte eine Wiege und Lanessa blieb davor stehen. Neugierig sah Tigran von seiner Frau zu der Wiege und ging hinüber.
Die Freude in seinem Gesicht schien ihn einen Moment im alten Glanz erblühen zu lassen. Ungläubig sah er Lanessa an, dann kniete er sich neben die Wiege und flüsterte den schlafenden Säuglingen etwas zu. Lanessa kam zu ihm herbei und er erhob sich, hob sie von den Füßen und küsste sie stürmisch. Das Glück zwischen ihnen war fast zu schmecken.
„Ich würde sie gerne Urdin und Uwennya nennen", sagte sie leise, als ihre Füße wieder den Boden berührten.
„Das sind sehr schöne Namen", flüsterte er in ihr Ohr.
Den ganzen Nachmittag verbrachten sie zusammen in einer friedlichen Idylle und Lanessa wünschte sich, dass dieser Zustand ewig währte. Sie wollte nichts mehr hören von Kriegen und Kämpfen. Sie wollte nichts wissen von Throne und Erbrechten. Sie wollte nur hier sein. Für immer – mit ihrer Familie.
„Sie hatten einen Drachentöter", erzählte Tigran am Abend, als Ramón sich zu ihnen gesellt hatte. „Wir konnten ein paar Schiffe zerstören, doch schließlich traf ein Geschoss Aeris in die Flanke. Beinahe wäre sie mit mir abgestürzt ... irgendwie ... hat sie es jedoch noch bis aufs Festland geschafft ..." Seine Stimme verstummte.
„Einen Drachentöter", sagte Ramón nachdenklich. „Scheint ganz so, als wären die Vorbereitungen schon lange in Planung ..."
„Wenn der Winter naht, müssen alle bereit sein", sprach Tigran ernst und sah zu Lanessa hinüber. „Das hat mir mal eine Nordländerin beigebracht."
Sie lächelte gezwungen.
„Wie geht es nun weiter?", fragte Ramón gespannt.
„Mein Vater hat seine Vasallen alarmiert", erklärte Tigran. „Die Mehrheit der Schiffe blieb unversehrt. Es kann sich nur noch um Wochen handeln, bis Rupperts Streitmacht übergesetzt hat. Unsere nördlichen Truppen werden ihnen nicht lange standhalten können und für einen langwierigen Krieg fehlen uns die Vorräte."
„Die südlichen Einheiten müssten in der Überzahl sein", meint Ramón schließlich.
Tigran nickte, bevor er sagte: „Ja. Fraglich ist jedoch, ob sie ohne einen Drachen in die Schlacht ziehen werden. Werden Sie mir folgen, Ramón?"
„Ihr seid der Kronprinz, der Erbe des Reiches", sprach sein Freund ernst.
„Und auch derjenige, der die Nordmänner dazu gebracht hat den Gürtel zu passieren – da brauche ich mir gar keine Illusionen zu machen. Ich habe uns den Feind gebracht, aber kann ich uns auch den Sieg bringen?"
„Ihr dürft nicht an Euch zweifeln, Sire", sprach Ramón ernst. „Alle Schlachten, die Ihr geschlagen habt, habt Ihr stets gewonnen."
„Alle Schlachten habe ich auf Aeris' Rücken geschlagen. Sie war mein Schild, sie war mein Schwert, sie ..." Seine Stimme verebbte.
Lanessa stand auf und trat neben ihn und legte tröstend einen Arm um seine Schulter. Traurig lehnte Tigran seinen Kopf gegen ihren Bauch. Stille erfüllte den Raum. Nur das Knistern des Feuers im Kamin war zu hören. Tigrans Blick blieb an der Kinderwiege hängen. In der Wiege, in der sein Sohn und seine Tochter friedlich schliefen. Unwillkürlich dachte er an das, was sein Vater getan hätte.
Tilon hätte dem Reich gedient und seine eigenen Wünsche hinten angestellt. Sein Vater war immer stark gewesen und hatte allen Versuchungen dieser Welt widerstanden. Wenn Tigran auf seinen Rat gehört hätte, wäre alles anders gekommen.
Vielleicht war es noch nicht zu spät, den Prinzipien seines Vaters zu folgen. Doch dann erinnerte er sich an sein Versprechen und erhob sich seufzend.
„Genug für heute, wir reden morgen." Und mit diesen Worten und einen flüchtigen Kuss für Lanessa verabschiedete er sich und verließ den Raum.
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