Auf Leben und Tod

„Ahedred – nahmak – tik ak'hal", wiederholte Lanessa konzentriert.

„Gut, Mylady!", lobte Mira begeistert. „Ihr lernt schnell. Das wird dem Prinzen imponieren."

Lanessa lächelte glücklich. Seit dem gestrigen Erlebnis war ihr Ehrgeiz geweckt. Nahambra lag weit im Süden und ihr war bewusst, dass dort nur wenige Menschen die Allgemeinsprache beherrschten. Zudem würde irgendwann der Tag kommen, an dem sie als Königin an Tigrans Seite regierte. Siebzehn südländische Länder und deren Völker. Es war notwendig, dass sie die Sprache ihres Volkes erlernte.

Als der Applaus einsetzte, richtete Lanessa die Aufmerksamkeit wieder auf den Schauplatz. Der erste Tag des Zweikampfes hatte begonnen. Heute waren jene vom niederen Rang an der Reihe. Einige Vasallen hatten stellvertretend für ihr Haus einen Kämpfer benannt, der sie ehrenvoll vertreten sollte.

Die ersten Runden waren unspektakulär und verliefen ohne Vorkommnisse. Schließlich trat Rupperts Onkel für das Haus Hohenstein gegen einen südlichen Stellvertreter an. Es war scheinbar der erste wirklich interessante Kampf, denn ein spannungsgeladenes Schweigen legte sich über das Publikum.

Aus den Augenwinkeln sah Lanessa, dass Tigran und der König weiter unten an der Brüstung standen, um die Kämpfe aus der Nähe beobachten zu können.

Die Gegner schienen einander ebenbürtig zu sein. Viktor beherrschte sein Breitschwert und trotz seines Alters war er noch agil und wendig. Der Südländer hatte Schwierigkeiten, ihn zum Aufgeben zu zwingen. Die Luft war erfüllt vom Klang der Klingen, die aufeinanderprallten. Stahl auf Stahl. Eine Zeit lang erschien es, dass es keinen Sieger geben konnte, doch dann verlor Viktor seinen Schild und wenig später geriet er ins Wanken und stürzte mit einem Knie in den Sand. Der südländische Gegner lachte laut und hob provozierend die Arme in die Luft, um sich vom Publikum bejubeln zu lassen.

Diese Unachtsamkeit nutzte Viktor und griff erneut an. Der Überraschungsmoment brachte ihm den Sieg und stürzte der entwaffnete Südländer in den Sand.

Die Nordländer klatschten und jubelten triumphierend.

Viktor hob seinen Schild auf und reckte die Schwerthand in die Luft, als ein Mann wütend auf den Kampfplatz lief. Er gestikulierte wild und man brauchte die südländische Sprache nicht zu verstehen, um zu sehen, dass er wutentbrannt war.

Der unzählige Goldschmuck an seinem Körper glitzerte in der Sonne. Lanessa erkannte Shayan Pascha.

Ein paar Nordmänner betraten nun ebenfalls den Platz, um Viktor Hohenstein den Rücken zu stärken, doch das schien Shayan noch weiter zu reizen.

„Warum ist er so wütend?", fragte Lanessa an Mira gewandt.

„Er fühlt sich betrogen", übersetzte die Zofe leise, „er sagt, der Nordmann habe nicht ehrenhaft gekämpft."

Das Wortgefecht wurde heftiger und konnte auch nicht von den Außenstehenden geschlichtet werden. Dann war das Maß bei Viktor Hohenstein voll, doch bevor er sich abwandte, spuckte er vor dem südländischen Pascha auf dem Boden.

Mira zuckte zusammen und hob die Hand vor den Mund. Lanessa konnte gar nicht schnell genug reagieren, da hatte Shayan Pascha bereits seinen Säbel gezogen und schlug den Nordmann ohne ein Wort der Warnung den Kopf von den Schultern.

Entsetzt starrte Lanessa hinab, wo der Leichnam auf die Knie sank und leblos umkippte.

Damit brach der Tumult um sie herum erst richtig los. Lanessa sah wie Ruppert und Lamont auf den Platz liefen. Immer mehr Menschen strömten auf das Feld. Shayan war bereits von seiner Leibgarde umringt, doch das hielt ihn nicht davon ab weiter herumzubrüllen.

Ängstlich sah Lanessa eine Weile zu. Ihr Herz klopfte schmerzlich. Sie beobachtete ihren Vater, der mit König Tilon diskutierte. Ihre Gesichter machten ihr Angst. Shayan wurde zurück auf seinen Platz verwiesen, gehorchte jedoch nur widerwillig auf Anweisung seines Königs. Knappen schafften Viktors toten Körper vom Schauplatz.

„Shayan Pascha ...", sagte Mira, als sie wieder Worte fand, „ist einer der mächtigsten", sie machte eine kurze Pause, um nach der passenden Beschreibung zu suchen, „Ihr würdet ‚Lord' sagen, ihrer Majestät. Sein Temperament ist hitzig, wie die Wüste, aus der er stammt."

Lanessa fand keine Worte, um ihr zu antworten. Sie war zu geschockt über die Geschehnisse. Zudem machte ihr der Ernst im Gesicht ihres Vaters angst. Sie sah hinab zu ihnen. Ruppert stand bei den beiden Königen und er war unglaublich wütend. Wie konnten sie diesen Konflikt nur wieder aus der Welt schaffen?

Gespannte Stille legte sich über die Zuschauer, während alle auf eine Entscheidung warteten. Ruppert brüllte erzürnt nach Vergeltung.

„Euer bester Schwertkämpfer, gegen unseren!" Verlangte er zornig. „Ein Duell auf Leben und Tod wird es entscheiden!"

Es war eine übliche Tradition im Norden.

König Tilon sah seinen Sohn an und sprach leise in seiner Muttersprache. Für Lanessa wirkte es fast, so als wolle er dessen Zustimmung einnehmen. Tigran zuckte nur mit den Schultern und nickte.

„Einverstanden!", sprach König Tilon laut und feierlich.

Die Menge um sie herum klatschte und Ruppert hob triumphierend die Hand in Richtung der Normannen in die Höhe.

Lanessa gefiel das Ganze nicht. Sie wollte nicht einen weiteren Tod mitansehen müssen. Ruppert überquerte den Platz und rief seinen Knappen herbei und der nordischen Prinzessin war sofort klar, dass er selbst antreten würde. Ihr Herz klopfte heftig, während sie wieder zu König Tilon sah, um zu erkennen, wen dieser wählen würde. Dann kam Ramón in den Bereich. Er hielt zwei Krummsäbel in der Hand. Gespannt wartete Lanessa darauf, dass der Hauptmann den Platz betrat, doch das tat er nicht. Stattdessen legte Tigran seinen Umhang ab, ergriff die Waffen und war mit Leichtigkeit über die Balustrade gehüpft. Der lärmende Applaus der Südländer war ohrenbetäubend, als er den Kampfplatz betrat. Ängstlich sah Lanessa zu Mira und fragte: „Was geschieht jetzt?"

Die Nordländer waren still geworden. Überraschung lag in ihren Gesichtern.

„Tigran, aus dem Hause Tejudis ist der beste Schwertkämpfer südlich von Drachenstein", sagte Mira ernst.

„Aber er hat keine Rüstung", warf Lanessa ein.

„Im Süden kämpft man nicht in Stahlpanzern", erklärte Mira ruhig, „sie erhitzen das Fleisch unter der Sonne und schränken die Bewegung eines Mannes nur ein."

Ruppert von Hohenstein warf einen verwunderten Blick zurück zu seinen Leuten, als er feststellte, dass es der Kronprinz war, der die Herausforderung annahm.

Lanessa hielt beängstigt den Atem an. Ruppert führte ein zweihändiges Langschwert und hatte damit eine viel größere Reichweite, als der Kronprinz. Dieser schien von vorneherein im Nachteil zu sein.

Als der Kampf eröffnet wurde, nahm Ruppert eine vorbildliche Haltung ein, während Tigran bloß dastand, als wäre er bereit für einen Spaziergang. Die Gegner umrundeten sich etwas, schätzten einander ab. Dann ließ Ruppert sich von der auffälligen Lässigkeit des Kronprinzen provozieren und griff an.

Lanessa konnte nicht hinsehen, sie schloss die Augen und flehte stumm um die Unversehrtheit beider. Doch dies war nach Rupperts Rachedurst schier aussichtslos.

Der Nordmann griff an und seine Hiebe ließen keinen Zweifel daran, dass er jeden Schädel, der zwischen seine Klinge gekommen wäre, gespalten hätte. Der Kronprinz drehte sich um die eigene Achse und wich dem Schwertkämpfer locker aus.

Nur kurz sah Lanessa hin, vergrub angespannt die Hände im Stoff ihres Kleides und wandte den Blick wieder ab.

Währenddessen drehte sich Ruppert um und schwang sein Schwert horizontal. Doch Tigran duckte sich weg. Die Menge jubelte und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Nach einem weiteren Blick erkannte sie, dass beide noch standen.

Der Vasall ihres Vaters verteilte abermals trefferlose Hiebe, doch Tigran war ohne Rüstung sehr viel wendiger. Fluchend riss sich der Nordmann den Helm vom Schädel und warf ihn in den Sand. Lanessa hörte, wie seine Getreuen ihn in ihrer Muttersprache anfeuerten. Dann griff Ruppert erneut an und dieses Mal wich Tigran nicht aus. Er parierte den Schlag mit der linken Klinge, überbrückte die Distanz zwischen ihnen und ging mit der rechten zum Angriff über. Ruppert wich zurück und war im nächsten Moment gezwungen den zweiten Hieb des Krummsäbels abzufangen. Tigrans Angriffe kamen immer schneller und er war viel gewandter als der Nordmann. Aufgrund der Nähe hatte dieser kaum mehr eine Möglichkeit mit dem Langschwert anzugreifen und konnte nur noch auf Tigrans Bewegungen reagieren. Er musste ihn wieder auf Abstand bringen, um angreifen zu können. Die Zurufe der Südländer wurden lauter. Das Geräusch von Stahl auf Stahl intensiver. Bei der letzten Parade des Nordmanns verklemmte Tigran die Klinge an der hakenförmigen Parierstange seines Säbels, teilte einen weiteren Hieb mit dem Zeiten aus und riss dem Vasallen das Schwert aus der Hand. Aus dem Gleichgewicht gebracht, kam Ruppert ins Taumeln, fing sich jedoch, bis Tigrans Ledersandale ihn nach einem herzhaften Tritt auf den Brustharnisch traf.

Scheppernd stürzte Ruppert Hohenstein zu Boden und blieb benommen liegen.

Der Süden jubilierte und der Kronprinz hielt dem Vasallen die Klinge an den Hals.

Lanessa wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Leif seinen älteren Bruder am Arm festhielt und das Herz wurde ihr schwer. Lamont würde Rupperts Tod nie verzeihen.

Die Zurufe der Südländer wurden zu einem verlangenden Chor. Lanessa verstand nicht, was sie sagten, doch das war auch nicht nötig. Der Blutdurst war herauszuhören. Tigran hatte gesiegt, Ruppert würde sterben.

Doch dann tat der Kronprinz seine Waffen weg und half dem Nordmann stattdessen auf die Beine. Der Applaus und der Jubel schwollen weiter an und erfüllten die heiße Luft und erst als Tigran in seiner Sprache das Wort ergriff, wurde es kurz still.

Mira neben ihr atmete erleichtert aus, lächelte und klatschte ebenfalls.

Als er geendet hatte, wandte sie sich Lanessa zu und sagte: „Prinz Tigran hat, den Vasallen begnadigt und ihm seine Rachsucht verziehen, als Zeichen dafür, dass die Streitigkeiten zwischen Norden und Süden enden werden und sich ihre Reiche in Frieden miteinander verbinden."

Lanessa sank erleichtert auf ihrem Platz zurück und stimmte in dem Beifall mit ein. Ruppert und Tigran tauschten noch ein paar Worte aus, bevor sie auseinandergingen. Dennoch konnte Lanessa förmlich sehen, wie angekratzt der Stolz des Vasallen war. Ein Knappe brachte ihm seinen Helm und gemeinsam verließen sie den Platz. Schon wenig später, liefen die Spiele weiter, als hätte der Vorfall nie existiert.



Beim abendlichen Fest, fiel Lanessa jedoch gleich die andersartige Stimmung auf. Der Vorfall hatte einen dunklen Schatten über die Gesellschaft geworfen. Die Anspannung vom Nachmittag lag noch immer in der Luft und es verdarb ihr regelrecht den Appetit. Auch die Gespräche mit Tigran waren weniger locker und weitaus oberflächlicher als die Tage zuvor. Der Kronprinz war mit anderen Gedanken beschäftigt und Lanessa wusste nicht, wie sie ihn aus dieser Grübelei herausholen sollte.

Nach dem Essen bat sie ihn um einen Tanz und er tat seine Pflicht. Doch als Lanessa darauffolgend von einem nordischen Lord eingeladen wurde, schien der Kronprinz beinahe erleichtert zu sein. Sie sah ihm nach, als er sich zurückzog und sich kurz darauf mit Ilias und Xander unterhielt, die ihr bereits vorgestellt wurden. Sie trat dem jungen Lord auf den Fuß, entschuldigte sich sogleich und konzentrierte sich wieder. Doch nachdem das Stück geendet hatte, bedankte sie sich und ging schließlich zu Leif hinüber, der zusammen mit Lamont bei Ruppert am Tisch saß.

Rupperts Augen waren wässrig, sein Gesicht rot, was zweifellos von all dem Alkohol herrührte, den er getrunken hatte.

„Mein Beileid zu Eurem Verlust", sagte Lanessa ehrlich, als sie die Männer erreicht hatte.

Der Vasall würdigte sie keines Blickes, sondern murmelte nur: „Südländisches Pack. ... Dämonische Barbaren ..."

„Prinz Tigran ist gerecht und er ist barmherzig", erwiderte Lanessa scharf.

„Lanessa, halt den-"

Doch sie ignorierte Leifs Einwand.

„Er hat Euch begnadigt!"

Der Vasall sah sie an, als würde er sie zum ersten Mal im wahren Licht sehen.

„Dieses Bündnis war der größte Fehler, den Euer Vater machte", zischte er unheilvoll. „Der Norden wird brennen ..."

„Ruppert, kommt!" Lamont versuchte, ihn vom Tisch aufzuziehen. „Leif bringt Euch auf Euer Zimmer. Ihr braucht Ruhe."

„In einem ehrenhaften Kampf hätte er mich niemals geschlagen ..."

„Es war ein ehrlicher Kampf", entgegnete Lanessa hochmütig, „Ihr habt ihn und Eure Waffen selbst gewählt und der Kronprinz hat Euch aufrichtig besiegt!"

Ruppert sah sie mit einem Ausdruck an, als würde er eine lästige Fliege betrachten.

„Bei allem Respekt, Lady Lanessa", sprach er herablassend, „aber ich fürchte, dass Ihr von derlei Dingen nichts versteht!"

„Ruppert!"

„Weil ich eine Frau bin?", erwiderte diese angriffslustig.

Der Vasall ließ sich von Lamont aufhelfen, schwankte jedoch sichtlich, als er sich nach vorne beugte, um ihr zu antworten: „Weil Ihr ein Mädchen seid."

Ein unheilvolles Kribbeln breitete sich von ihrer Magengegend aus und sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Hilfesuchend sah sie ihren Bruder an.

„Du erlaubst ihm, so mit mir zu sprechen?!", fuhr Lanessa Lamont an.

„Er ist betrunken!", erwiderte er nur.

„Spielte das eine Rolle, wenn er einen von Euch beleidigte?"

„Sie sehen alle schon zu uns herüber", zischte Leif leise.

Lanessa waren die anderen gleich, doch sie fing den mahnenden und strengen Blick ihres Vaters auf und besann sich wieder. Wütend wandte sie sich um und verließ den Saal. Zitternd vor Zorn lief sie hinaus, zitternd vor Angst. Sie konnten jetzt nicht alles kaputt machen, nicht jetzt, da Lanessa ihr Schicksal akzeptiert hatte! Tränen quollen aus ihren Augen hervor und vernebelten ihr die Sicht. Sie erreichte einen Brunnen im Innenhof, blieb dort stehen und tauchte ein Taschentuch in das Wasser, um sich die salzigen Spuren aus dem Gesicht zu wischen. Dann hörte sie Schritte und sie war beinahe sicher, dass es Lamont sein würde.


Als Lanessa, aus dem Saal verschwand, entschuldigte sich der Kronprinz bei seiner Gesellschaft und folgte ihr möglichst unauffällig.

Im Korridor angekommen, sah er gerade noch, wie sie den Weg zum Innenhof einschlug und tat es ihr gleich.

Eine Adelsdame kam ihm entgegen und wollte ihn in ein Gespräch verwickeln, jedoch ließ er sie einfach stehen, auch wenn ihm bewusst war, dass dies unhöflich war. Aber er konnte nur an Lanessa denken und die Aussicht darauf, einige wenige Augenblicke mit ihr alleine verbringen zu können.

Als er in die kühle Abendluft trat, hatte dies etwas Befreiendes. Der Mief der Menschen, der schwere Duft von Braten und Wein und der Tabakrauch waren ihm drinnen gar nicht aufgefallen. Das Plätschern von Wasser erfüllte die Luft und von der Halle drang noch immer das Gelächter und die Musik nach draußen.

Er sah Lanessa schließlich am Brunnen stehen, wo sie ein Tuch ins kühle Nass tauchte und die Augen damit betupfte. Er ging zu ihr hinüber und als die nordische Prinzessin ihm bemerkte, knickste sie förmlich.

„Mein Prinz", sagte sie zur Ablenkung, „diese Hitze ist so ermüdend."

Unkonventionell strich er ihr das feuerrote Haar, das ihr über die Schultern gefallen war in den Nacken. Er sah, dass sie geweint hatte, doch er sah auch, dass sie es verbergen wollte. Tröstlich sprach er: „Ihr werdet Euch sicher daran gewöhnen."

Sie ließ ihn gewähren und verlor sich einen Moment in diesen weichen, dunklen Augen. Augen so schwarz wie ein Onyx und doch ging ein feuriges Leuchten von ihnen aus. Ein Leuchten, das tief aus seinem Herzen stammte.

„Wie ist es dort, wo Ihr herkommt?", fragte sie, als er die Hand wieder sinken ließ.

„Dort fällt niemals Schnee", erzählte er schlicht. „In den Sommermonaten arbeiten die Bauern nur am frühen Abend und in der kühlen Abenddämmerung auf ihren Feldern."

Lanessa seufze beunruhigt und er fügte hinzu: „Doch die Mauern des Palastes sind dick und halten die Hitze fern. In den Wassergärten blühen zu jeder Jahreszeit Blumen und große Palmen spenden Schatten."

„Das klingt wunderschön", sagte Lanessa leise.

„Es ist wunderschön", bestätigte er. „Nahambra wird Euch gefallen."

Sie lächelte, doch Tigran bemerkte gleich, dass es erzwungen war.

„Ich fürchte mich noch vor all dem Fremden", sagte sie leise und wandte den Blick von ihm ab.

Einen Moment lang lenkte ihn Gelächter und Geschwätz ab, das näher kam. Dann sah er Lanessa wieder an und ergriff ihre Hand. Sie zitterte.

„Ich werde alles dafür tun, dass es nicht lange fremd für Euch bleibt."

Schritte näherten sich ihnen. Doch Tigran wollte Lanessas Gesellschaft nicht teilen. Er wollte sie vielmehr für sich alleine haben, für die kurze Zeit, die ihnen noch blieb, bis das Fest zu Ende war.

„Kommt", flüsterte er und zog sie mit sich fort.

Lanessa warf nur einen kurzen Blick zurück, dann folgte sie ihm. Tigran führte sie durch eine Arkade aus weißem Marmor hindurch. Sie verschmolzen mit dem Schatten. Doch der Innenhof war geschlossen und es gab scheinbar keinen Ausweg. An einer Statue, die von Blauregen umrankt war, blieb er kurz stehen, als jemand ihren Namen rief.

„Das ist mein Bruder", flüsterte sie Tigran zu.

Der Kronprinz sah in die Richtung des Brunnens.

„Möchtet Ihr zurückgehen?"

Lanessas Herz pochte aufdringlich gegen ihren Brustkorb. Es gebührte sich nicht, so umtriebig zu sein und ihr stand noch keine Zeit alleine mit ihrem Verlobten zu – immerhin waren sie nicht vermählt.

„Lanessa?!" Es war die Ungeduld in Lamonts Stimme, die sie ärgerte.

Sie sah zu Tigran auf, dann schüttelte sie den Kopf.

Die Freude in seinem Gesicht war unverkennbar. Mit einem lockeren Satz sprang er auf den Sockel der Statue und erklomm die darüberliegende Mauer. Einen Augenblick sah er sich um, dann reichte er Lanessa die Hand.

„Schafft Ihr das?"

Die nordische Prinzessin raffte ihre Röcke mit angekratztem Stolz und antwortete nur leise: „Mit Beinkleid würde es besser gehen!"

Tigran lachte dunkel und Lamont wurde auf sie aufmerksam.

„Bist du da?", rief er und näherte sich ihnen.

Eilig krabbelte sie auf den Sockel der Statue und ergriff seine Hand. Die Mauer war hoch und glatt, doch Tigran zog sie mit Leichtigkeit hinauf.

„Lanessa?"

Ängstlich blickte sie über den Rand der Mauer hinweg. Der abnehmende Mond erleuchtete eine wettergegerbte steinerne Treppe zwischen den Felsen.

Tigran glitt mit der Eleganz einer Katze hinab und war ebenso lautlos. Dann wandte er sich zu ihr um und gab ihr ein Zeichen.

Doch Lanessa zögerte. In der Dunkelheit konnte sie die Höhe nicht abschätzen.

„Vertraut mir", flüsterte der Kronprinz leise.

Als Lanessa die nahenden Schritte ihres Bruders vernahm, fasste sie all ihren Mut zusammen, schloss die Augen und ließ sich in Tigrans Arme fallen. Geschickt fing er sie auf. Als ihre Füße den Boden berührten, hielt er sie noch einen Moment an seine muskulöse Brust gedrückt. Sie fühlte seinen Herzschlag. Atemlos lauschten sie den Geräuschen auf der anderen Seite des Gemäuers. Erst als diese sich entfernten, wagte Lanessa es wieder zu atmen und sog seinen männlichen Duft ein. Dann ließ Tigran sie los und trat einen Schritt zurück.

Ihr Blick folgte den unzähligen Stufen den Felsen hinauf. Sie schienen kein Ende zu nehmen.

„Wisst Ihr, wo wir sind?", fragte Lanessa ängstlich.

„Selbstverständlich." Er griff erneut nach ihrer Hand und führte sie hinauf.

Sie folgten den Steinstufen. Der Blick zurück zeigte die Stadt unterhalb der Festung, das Funkeln des Marktes und des Ozeans, während sich die Gebäude neben ihnen weiter lichteten, die Türme immer filigraner wurden. Die Türme immer filigraner. Die Mauer zu ihrer linken machte einen Bogen und wurde mit jedem Schritt niedriger, bis sie schließlich eine große konkave Plattform betraten.

„Wo sind wir hier?", fragte Lanessa leise, obwohl sie es bereits ahnte.

Sie hatte es selbst vor wenigen Tagen erst aus der Ferne gesehen.

„Auf dem Dach des Südturms", sagte Tigran verheißungsvoll. „Es ist an der Zeit, dass Ihr jemanden kennen lernt."

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