Alte Wunden heilen nicht
Lanessa konnte ihr Glück kaum fassen.
Sie zitterte noch immer, als sie vor dem Spiegel saß und ihr Haar für die Nacht bürstete. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie war von einem nie gekannten Glücksgefühl berauscht.
Sie hatte sich gefürchtet. Vor einem fremden Mann, einem fremden Land und dem Verlust ihrer Heimat. Doch Tigran hatte ihr Herz im Sturm erobert, ihr alle Ängste genommen und Platz gemacht für Vorfreude, Lebensfreude und Abenteuerlust. In wenigen Monaten, würde Lanessa ein völlig neues Leben beginnen und es würde so anders sein, wie sich es sich nur ausmalen konnte.
In naher Zukunft würde sie eine eigene Familie haben und vielleicht würden ihre Kinder das wundervolle dunkle Haar und die glühenden Augen ihres Vaters erben. Lanessa musste unweigerlich lächeln, als sie daran dachte und sehnte sich bereits zurück zu Tigran. In seiner Nähe fühlte sie sich gesehen und respektiert. In seiner Umarmung fühlte sie sich freier, als sie es in ihrer Heimat je gewesen war. Sie konnte nur noch daran denken, wann sie ihn endlich wiedersah.
Sie hörte Schritte vor der Tür und hielt kurz den Atem an und lauschte. Einen Herzschlag lang, hoffte sie, dass Tigran zurückgekehrt war, doch dann erkannte Lanessa die Stimmen ihrer Brüder. Vermutlich hatten sie ihre Schwester bereits gesucht. Sie lächelte ein wenig in sich hinein, als sie daran dachte, wie sie sie mit dem Kronprinzen Lamont entwischt war.
Es klopfte und sie gewährte ihnen Einlass.
Lamont und Leif traten ein und sie trugen ihre Schwerter an der Seite, was Lanessa beunruhigte.
„Wo bist du gewesen?", keifte der Älteste sie an.
„Hier", sagte sie sofort.
„Für diese Lüge sollte man dich Ohrfeigen!", sprach ihr Bruder und kam näher an sie heran.
„Lamont", mahnt Leif, „wir dürfen keine Zeit verlieren!"
„Was ist geschehen?", fragte Lanessa besorgt.
„Zieh dich an!", befahl Lamont stattdessen.
Doch sie zögerte. Ihr Bruder ging zur Kleidertruhe hinüber und zog ihren Umhang daraus hervor.
„Wir reisen ab", sprach Leif, welcher der Geduldigere von beiden war.
„Was? Wieso?"
„Es gab einen Zwist", erklärte er. „König Tilon hat unser Haus zutiefst beleidigt."
Lanessa erhob sich langsam und Lamont kam zurück und zog sie zu der Kleidertruhe.
„Beeilung!", sagte er wütend.
„Aber ich kann hier nicht fort!", widersprach seine Schwester. „Was ist mit der Verlobung?"
„Das Versprechen wurde gelöst!"
Es traf sie wie einen Eimer eiskalten Wassers. Es fühlte sich an wie damals, als sie in einen zugefrorenen Teich eingebrochen war. Genauso kalt, genauso schmerzvoll.
„Aufgelöst ...", wiederholte sie heiser.
„Dämonen des Südens!", schimpfte Lamont. „Zieh dich jetzt an! Vater wartet bereits in den Stallungen!"
Geschockt sah sie ihre Brüder an, gehorchte jedoch ihrem Drängen. Während sie die Korridore entlang eilten, um zu den Pferdeställen zu gelangen hoffte sie jederzeit, Tigran würde auftauchen und das Missverständnis klären. Es musste sich einfach um ein Missverständnis handeln. Nichts konnte so schrecklich sein, dass ihr Vater dieses so lange angestrebte Bündnis zum Süden wieder aufhob.
Doch der Kronprinz erschien nicht und in den Stallungen stand schon eine Eskorte bereit. Jegliches Betteln und Flehen erstickte Lairgnen sofort im Keim. Man half Lanessa auf ihr Pony und sie ritten los, noch bevor ihr Fuß den zweiten Steigbügel fand.
Nur wenige Stunden später überquerten sie bereits die schmale Landzunge, die den Süden mit dem Norden verband. Ruppert Hohenstein ritt an der Spitze ihrer kleinen Gruppe, um sie in seine Festung zu führen, die die nächste war und Lanessa hatte die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht gezogen, damit niemand ihre Tränen sah.
Bei einer Rast hatte sie ihren Vater angefleht. Hatte ihn gebeten nicht voreilig zu entscheiden, doch der König des Nordens blieb genauso erbarmungslos, wie bei der Verkündung der Verlobung vor wenigen Wochen.
„Ich werde einen neuen Lord für dich finden, Lanessa. Einen besseren Lord, einen Nordmann ... so hätte es gleich sein sollen", hatte ihr Vater gesagt.
Lanessa war außerstande gewesen ihm zu antworten. Sie fühlte sich so benommen.
Vor ein paar Tagen noch hatte sich alles in ihr gestäubt den Norden zu verlassen und nun wäre sie am liebsten nie wieder zurückgekehrt.
Sie wusste, was sie zuhause erwartete. Ihr Vater würde ihre Hand einem Vasallen anbieten. Er würde dessen Loyalität und seine Streitmacht durch den Verkauf seiner Tochter sichern – als sei sie ein Pferd. Als Lady einer Burg würde sie schließlich in den Kaminzimmern vor den Feuern sitzen und sticken; als Ehefrau eines nördlichen Vasallen würde sie vermutlich nie wieder alleine durch die Wälder reiten. Sie würde weder Bogenschießen geschweige denn ein Schwert führen. Die Getreuen ihres Vaters, hatten ihn seit jeher für seine Milde in der Erziehung seiner Tochter belächelt.
Doch was noch schlimmer war, sie würde auch Tigran nie wieder sehen. Er hatte ihr Herz entflammt und in ihr nie gekannte Gefühle geweckt. Nun aber würde sie niemals seine Liebkosungen spüren und auch nicht mit ihm auf Aeris durch die Lüfte gleiten. Alles, was sie gewollt hatte, war verloren und Lanessa würde niemals frei sein.
Nach wenigen Tagen schon erreichten sie die Festung Hohenstein. Von dort wurden Bote zu allen zwölf Burgen ihrer Vasallen geschickt, um diese über die neusten Umstände zu informieren. Lanessa kannte den Grund.
Sie hatte die Gespräche zwischen Ruppert und ihrem Vater belauscht und schließlich suchte der Vasall sie schon nach dem zweiten Tag ihrer Ankunft auf.
„Hat Euch Euer Vater bereits informiert?", fragte er und trat näher.
Lanessa begrüßte ihn gebührend, antwortete jedoch nicht. Die Trauer in ihr saß noch zu tief.
Ruppert kam näher zu ihr heran und sagte ernst: „Ich weiß, Ihr benötigt Zeit, um die Umstände anzunehmen. Ich will sie Euch gewähren, Lady Lanessa. Auch wenn die Heirat bereits schon früher anstehen wird."
Sie schwieg beharrlich. Lanessa wusste, der schnelle Vollzug dieser Ehe diente nur der Absicherung ihres Hauses. Es war eine Notwendigkeit, um Haus Hohenstein friedlich zu stimmen.
„Euer Vater hat einen fürchterlichen Fehler begangen", erzählte er weiter. „Doch wie ein Nordmann steht er für diesen Fehler ein und berichtigt ihn. Vergesst, was ihr in den vergangenen Tagen erfahren habt. Das Herz eines Engels darf nicht den Dämonen verfallen." Er wollte ihr Gesicht berühren, doch Lanessa zuckte zurück.
Sie wollte nicht, dass er sie so berührte, wie Tigran es getan hatte. Sie wollte nicht, dass er ihre Erinnerungen beschmutzte.
Rupperts Hand griff ins Leere und ballte sich langsam zur Faust. Dann ließ er sie sinken und sprach weiter.
„Tigran Tejudis ist nichts anderes, als ein dämonischer Blender – ein Barbar, genau wie sein Vater."
„Das ist nicht wahr!", widersprach Lanessa zornig und sah ihn an. „Tigran hat ein edles Herz!"
Ruppert lachte höhnisch.
„König Tilon, so sagt man, habe all seine Kinder vor Tigran getötet, als sie noch Säuglinge waren." Einen Moment lang genoss er den verängstigten Blick auf Lanessas Gesicht. Es war an der Zeit, dass ihr jemand die Augen öffnete. „Was glaubt Ihr, hätte Euer herzensguter Prinz mit euren Kindern getan?"
„Das würde er nie tun ..."
„Ach nein?", verhöhnte der Vasall sie. „Was glaubt Ihr, hat das Wappen der Tejudis sonst zu bedeuten?"
„Es ... es ist ein Überbleibsel aus längst vergangener Zeit ..." Lanessa zwang, sich standhaft zu bleiben.
„Hat er Euch das erzählt?" Ruppert lachte abermals völlig losgelöst. „Nun, Lady Lanessa, es wird der Tag kommen, da auch Ihr Eure Fehler erkennen müsst – genauso, wie Euer Vater. Ich hoffe für Euch, dass er bald anbricht."
Dann wandte er sich um und ließ sie wieder alleine.
Mit mahlenden Kiefern sah Lanessa dem Vasallen nach und allmählich begann sie sich zu fragen, ob es nicht die Nordländer waren, die sich wie Barbaren gebaren.
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