Aeris

Tigran pfiff wir ein Vogel und in der Ferne erhielt er Antwort.

Lanessa, griff unwillkürlich nach seinem Arm und hielt den Atem an, weil sie ahnte, was diesen Laut von sich gegeben hatte. Irgendwo fielen Felsbrocken ins Meer und ein Rauschen erfüllte die Lüfte. Ihr Blick folgte dem Geräusch. Im faden Schein des Mondes konnte sie einen Schatten erkennen, der sich wie ein schwerer Greifvogel in den Himmel schwang und je länger sie ihn beobachtete, desto größer wurde er. Als die Silhouette einen Kreis um den Turm zog, verursachte dies einen so heftigen Windstoß, dass er Tigrans schulterlanges Haar zerzauste. Der Wind riss an Lanessas Kleid und ihr entkam unwillkürlich ein aufrichtig ungläubiges Lachen. Dann kam der Schatten noch näher, zog den Oberkörper nach oben und schlug ihnen eine so heftige Böe entgegen, dass Lanessa kurz die Augen zukniff. Doch die Landung des monströsen Drachen auf der steinernen Plattform war sanft und fast lautlos und Lanessa verstand mit einem Mal die seltsame Bauweise des Turmes.

Das Reptil faltete die ledrigen Flügel zusammen und als es Tigran den Kopf zuwandte, gab es einen behutsamen beinahe zärtlichen Laut von sich.

Vorsichtig ließ Lanessa Tigran los und trat einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeisehen zu können und betrachtete beeindruckt das riesige Geschöpf. Sie hatte etliche Geschichten über die Tejudis und ihre Drachen gehört, doch noch nie hatte sie einen echten Drachen gesehen. Um ein Vielfaches größer, als jedes Reittier, das sie kannte, überragte er sie spielend. Der lange schlangenförmige Hals endete in einem edlen und mit Stacheln bewährtem Kopf. Sie zogen sich auch wie ein Kamm über den Rücken hinweg bis zu den Schulterblättern und begannen erst wieder an der Kruppe und endeten an der Schwanzspitze. Er trug ein Brustgeschirr aus Leder und dessen zwei Riemen verliefen jeweils um neben dem Hals und hinter den Vorderbeinen entlang.

Furchtlos, jedoch vorsichtig trat Lanessa näher heran und beeindruckte den Prinzen damit unbemerkt.

„Er ist wunderschön", sprach sie leise, als Tigran zu dem Drachen ging und seine Hand liebkosend auf die sattelgroße Nüster legte.

„Er ist eine sie", korrigierte der Kronprinz und deutete seiner Verlobten näher zu kommen, „und ihr Name ist Aeris."

Lanessa trat an seine Seite und legte ihre Hand behutsam neben seine auf die Schnauze des Drachens. Es fühlte sich ganz anders an, als sie es erwartet hatte. Die schuppige Haut war noch von der Südsonne gewärmt. Sie war trocken und glatt wie die Kiesel eines Flussufers. Aeris brummte leise und Tigran zog verblüfft die Brauen in die Höhe.

„Sie scheint Euch zu mögen", stellte er fest.

Lanessa sah über ihre Schulter hinweg zu ihm auf und lächelte herzlich. Das Licht der Sterne spiegelte sich in ihren Augen und Tigran wusste, dass er nie wieder eine andere Frau begehren würde. Er hatte das Verlangen bereits bei ihrer ersten Begegnung verspürt und niemals würde er sie gehen lassen.

„Wie habt Ihr Sie gezähmt?", fragte die Lady aus dem Norden und sah erneut zu dem Drachen.

„Man zähmt einen Drachen nicht", gab er eine Spur zu überheblich zurück und schalt sich augenblicklich dafür, „man ist entweder zum Drachenreiter geboren, oder eben nicht."

Lanessa richtete sich auf und ihre Hand glitt ein letztes Mal über die Nase von Aeris. Sein Tonfall hatte sie verunsichert. Der Ausdruck in ihren klaren blauen Augen war nun reserviert. Tigran verfluchte sich, doch als Kronprinz hatte er nie gelernt, sich zu entschuldigen.

„Ich sollte nicht hier sein", sagte Lanessa und wandte sich von beiden ab.

Es war nicht schicklich, dass sie vollkommen alleine waren. Sobald Lamont davon erfuhr, würde er toben wie eine Bärenmutter.

„Aber Ihr seid es", stellte Tigran fest, der den Reflex sie zurückzuhalten in sich unterdrückte.

Aeris hob ihren Kopf vom Boden und turtelte in einem hellen Ton. Die Frequenz ließ Lanessa die Nackenhaare aufstellen. Kurz hielt sie inne.

„Weil Ihr geflohen seid", fuhr der Prinz fort.

Unbehaglich erwiderte sie seinen Blick und versuchte, das beklemmende Gefühl in ihrer Magengengen zu verbergen.

„Geflohen?", wiederholte sie eine Tonlage höher als üblich und fügte herausfordernd hinzu: „Vor wem sollte ich fliehen?"

„Ruppert Hohenstein", antwortete Tigran schlicht.

Lanessa blinzelte. In diesem Moment war sie dankbar für die Dunkelheit, die sie umgab. Die Dunkelheit, die die aufsteigende Röte auf ihren Wangen verbarg, als ihr bewusst wurde, dass er sie beobachtet hatte. Ihren Gesichtsausdruck konnte sie kontrollieren, das pulsierende Blut in ihren Adern nicht.

„Ruppert Hohenstein", sprach sie mit fester Stimme, „ist der treuste und mächtigste Vasall unserer Familie. Warum sollte ich vor ihm fliehen?"

Tigran Tejudis lächelte, jedoch durch die sie umgebene Dunkelheit konnte Lanessa die Bitterkeit darin nicht erkennen.

„Ich weiß zwar nicht, was er zu Euch gesagt hat, doch es erschien mir so, als behandle er Euch, wie ein Kind", sprach er nebensächlich.

Lanessa wandte sich ab und sah hinauf auf das Meer und plötzlich wurde ihr bewusst, wie wenig Tigran über sie wusste. Er wusste nichts darüber, wie sie aufgewachsen war. Er wusste nichts über ihre Familienbande und die damit verbundenen Konflikte.

Lamont war als Mündel der Hohensteins wie ein zweiter Sohn behandelt worden. Sie kannte Ruppert von Kindesbeinen an. Immer wenn sie Lamont besuchten, war er bei ihnen gewesen. Damals, als ihr Vater Lanessa noch Freiheiten gewährt hatte; als sie noch spielen, reiten und kämpfen durfte, da war er beinahe wie ein vierter Bruder gewesen.

„Das tun sie seit geraumer Zeit alle im Norden", antwortete sie schließlich verdrossen.

Der Prinz des Südens trat näher an sie heran. Der Mond brachte ihr rotes Haar zum Leuchten. Tigran begehrte sie mit jedem Herzschlag mehr.

„Bald seid Ihr eine Königin", sagte er ernst und beugte sich zu ihr herunter, bis seine Lippen direkt neben ihrem Ohr waren. „Und als meine Königin, seid Ihr frei zu tun, was Ihr wünscht!"

Sein Atem kitzelte sie und ein bebend ging durch ihren Körper. Die Nähe war unangebracht, doch Lanessa genoss sie. Das Herz in ihrer Brust klopfte vor Aufregung.

Hoffnungsvoll wandte sie sich um und sah zu ihm auf, als Tochter des Nordens wagte sie es nicht mehr auch nur einen Gedanken an ihre Freiheit zu verschwenden.

Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie hatte gehört, dass die Menschen im Süden ihre eigenen Traditionen hatten. Befremdliche Traditionen, wie man ihr es immer vorgehalten hatte, doch eigentlich wusste Lanessa nur das, was man sich im Norden erzählte und es war bekannt, dass die Nordmannen nicht viel von den südlichen Gefilden hielten.

Vielleicht war sie ihr ganzes Leben lang, mit einer falschen Vorstellung aufgewachsen.

Vielleicht waren die Südländer viel zivilisierter und fortschrittlicher als sie selbst. Vielleicht waren sie nicht die Barbaren, für die Lanessa sie all die Jahre gehalten hatte.

Vielleicht ...

Tigran fuhr sanft durch ihr feuerrotes Haar und versuchte zu verstehen, was an dieser Frau war, dass dieses übermächtige Bedürfnis in ihm erweckte. Er wollte sie schützen, sie bewahren und ihr sogar die Welt zu Füßen legen, nur um sie glücklich zu sehen. Noch nie hatte er ein ähnliches Verlangen verspürt.

Das Licht der Sterne funkelte in dem Blau ihrer Augen, sie leuchteten wie geschliffene Saphire. Das Begehren in ihm wurde unerträglich. Aus einem Impuls heraus zog er sie näher an sich heran und senkte seine Lippen auf ihre, um sie so zu küssen, wie er sie auf dem Markt geküsst hatte: zügellos und ungestüm, seiner Begierde folgend. Es war unschicklich – doch das war ihm egal. Lanessa sog überrascht die Luft ein, sie zögerte nur kurz, dann schmiegte sich ihr weicher warmer Körper an ihn heran. Sie zitterte in seinem Armen, aber es war keine Angst, die sie ausstrahlte. Die Angst vor ihm, war schon lange verbrannt.

Er löste sich nur von ihr, weil Aeris einen seltsamen Ton von sich gab. Einen Laut, der einem Zischen ähnelte. Verwundert sah Tigran sie an. Der Drache legte den Kopf schief und die Nüstern weiteten sich witternd.

„Ich sollte Euch zurück auf Euer Zimmer bringen", sagte Tigran ernst.

Sein Herz klopfte sehnsüchtig und er rang um Selbstbeherrschung.

„Ich würde lieber bleiben", flüsterte Lanessa leise.

Seine Finger berührten sanft die Haut ihrer Wangen und auf ihren Lippen lag ein zaghaftes Lächeln. Es brachte ihn schier um den Verstand, doch für heute war es genug.

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