Kapitel 61

Eine ganze Woche war Live nun zuhause gewesen und doch hatte sie die ganze Zeit Angst vor diesem Tag gehabt. Am Wochenende hatte sie Alfred angerufen um ihm mittzuteilen, dass sie heute Nachmittag wieder zu ihrer Schicht erscheinen würde. Alfred hatte nach Kader gefragt, doch Live hatte so wie sie es auch bei Sonja und Frank getan hatte sofort abgeblockt, sobald das Thema aufgekommen war. Nun stand sie hier. Nur noch ein paar Monate, dann würde Live endlich ihren Abschluss haben. Ihr war gar nicht klar gewesen, dass mit Kader die Zeit so schnell vergangen war. Doch nun, wo er weg war, erschien es ihr, als würde die Zeit beinahe stillstehen. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein, denn immerhin war er schließlich auch mitten im Jahr hier hergewechselt. Live war nervös und das obwohl sie schon ihr Leben lang mit dieser Angst vor der Schule lebte. Doch nun war so viel geschehen und jeder musste von ihrem Unfall und dem was Live sagte erfahren haben. Dr. Tors beharrte bei jeder Sitzung darauf, dass ihre Eltern nicht da waren und die Zweifel in Live wuchsen immer mehr. Sie hatte das Schulmaterial von den Lehrern direkt geschickt bekommen und doch hatte Live nun Angst davor in das Gebäude zu gehen. Lives Gedanken flogen automatisch wieder zu Kader. Ob er heute ebenfalls wiederkommen würde? Vergiss ihn, er hat dich verlassen. Live hatte Niemandem von der Stimme die sie ab und zu begleitete erzählt. Keiner wusste wie es in ihrem Inneren aussah und Live versuchte alles, damit dies auch so blieb, sie war nicht bereit aufzugeben. Vielleicht hatte sie Kader verloren, doch im Endeffekt zeigte ihr das nur, dass die beiden noch nicht bereit waren. ,,Kaputt, wir sind zu kaputt." Leise vor sich hin flüsternd straffte Live die Schultern und betrat das Schuldgebäude. Augenblicklich schien es, als würden alle auf den Fluren verstummen und sie anstarren.

Live Kamson, der Freak, der Psycho, welcher glaubte ihre Eltern gesehen zu haben. Live war wieder genau dort, wo sie seit Jahren drum gekämpft hatte, nicht mehr zu sein. Doch die Abscheu und der Ekel stand jedem einzelnen von ihnen in die Augen geschrieben. Live schluckte, senkte den Blick und huschte so schnell wie möglich in ihren Klassenraum. Natürlich saßen die meisten schon auf ihren Plätzen und starrten sie unverhohlen an. Alle außer Alexa, doch um sie würde Live sich erst kümmern, wenn es wieder zu Ausschreitung kam. Erleichtert stellte sie fest, dass Kader nicht da war und fragte sich gleichzeitig, warum er nicht hier war. Ob Kader wieder einmal schwänzte. Sollte es Live nicht eigentlich egal sein? Was kümmerte Kader White sie nun noch? Sie waren getrennte Leute, weder hatte er sich bei Live gemeldet, noch hatte Live eingesehen sich bei ihm zu entschuldigen, Kader hatte sie im Krankenhaus angegriffen und nicht sie ihn.

Seufzend atmete Live tief ein. Das brachte alles nichts, sie waren beide Schuld an dem was geschehen war und doch wünschte Live, dass er hier wäre. Neben ihr, wo er immer gesessen hatte. Doch Kader tauchte den ganzen Tag über nicht auf und keiner der Lehrer fragte nach ihm. Es wirkte beinahe, als wäre Kader nie auf die Schule gegangen, als wäre er nicht plötzlich aus dem Nichts hier aufgetaucht. In den Fluren sprach man nur heimlich über Live und was geschehen war. Weil sie alle glaubten, dass Live es nicht mitbekam, doch das tat sie. Live spürte die Blicke, hörte die Worte welche geflüstert wurden und Panik stieg in ihrem Herzen auf. Es begann alles von vorn. Sie war die Ausgestoßene. Daran hatte sich eigentlich nie etwas geändert, nur Kader hatte es erträglicher werden lassen, hatte sie dazu gebracht sich der Welt zu zeigen wie sie war und hatte Live dazu getrieben mehr an öffentliche Orte zu gehen. Das alles, hatte sie Kader zu verdanken, er hatte sie vergessen lassen, dass die Angst sie immer zu beherrscht hatte. Wütend ballte Live die Hände und starrte vor zur Tafel. Kader war nicht der Lebensinhalt den sie brauchte um glücklich zu sein. Nachher würde sie auf Arbeit gehen und dann würde alles wieder wie beim alten sein. Kein Kader White der sie auf die Palme brachte, keine Holly, die einfach so auftauchte, kein Dr. Tors, der ihr weiß machte sie würde noch immer an einem Schock leiden. Live zitterte. Sie war so wütend auf alles und jeden, beinahe schien es als habe sie die Wut von Kader in sich aufgenommen. Doch als der Unterricht begann versuchte Live sich wieder zu beruhigen. Es war alles gut. Nur weil Kader nicht hier war, hieß das nicht, dass Live nun wieder das Fressen für alle war und somit ließ sie all die Gedanken von sich weichen und konzentrierte sich nur auf das hier und jetzt.

Der Tag verging schleppend, irgendwann hatte Live abgeschalten, all die Kommentare von umstehenden Schülern ignoriert und war nur von Stunde zu Stunde gegangen. Sie hatte es so satt von allen angesehen zu werden, als wäre sie ein geistesgestörtes Kind, denn das war sie nicht. War sie nie gewesen. All ihre Ängste waren real und begründet, aber man hatte nicht hingesehen, als Live um Hilfe gefleht hat. Man hatte sie sich selbst überlassen. Wenn Live geglaubt hatte, die Schule würde sie nervös machen, so bekam sie doch jetzt kalte Füße, beim Anblick des Krankenhauses. Doch was sollte schon schiefgehen, Alfred hatte sie wiederhaben wollen. Wäre er noch immer wütend oder enttäuscht oder würde glauben, dass sie eine Gefahr für die Kinder darstellte, dann hätte er sie nicht zurückgeholt. ,,Ich kann das! Ich bin Live Kamson und das ist mein Traum!" Leise murmelte sie immer wieder diese Worte, straffte sich und betrat dann den Aufzug. Sie war soeben eingestiegen, als erneut die Sorge in ihr aufwallte, was wenn die Kinder aber wütend auf sie waren, dass Live damals einfach verschwunden war. Sie hatte nie gesagt warum sie gehen musste und auch die paar Tage mit Kader auf Station, war sie nie bei den Kindern gewesen. Bevor Live doch einen Rückzieher machen konnte öffneten sich die Türen und auf einmal umfing sie ein lautes Gekreische und Gebrüll sie, dass Live die Tränen in die Augen trieb. Vor ihr stand die gesamte Station versammelt, Kinder, wie Schwestern und Ärzte, schauten sie an und riefen ganz laut: ,,Willkommen zurück Live!" Die Kinder hielten selbstgebastelte Schilder mit ihrem Namen hoch und jubelten aufgeregt, als Live mit wackligen Beinen den Aufzug verließ, dann war sie von lauter kreischenden Kindern umringt und sackte in ihrer Mitte zusammen, ehe sie von der Schar umringt wurde. Jeder wollte sie in seine Arme schließen und ganz ruhig nahm Live jeden einzelnen der Kinder in ihre Arme, drückte sie ganz fest an sich und murmelte ihnen beruhigende Worte zu. Live war noch nie so voller Liebe und Stolz gewesen wie in jenem Moment, denn selbst die Kinder, denen es am schlimmsten Ging, standen oder saßen da in ihren Rollstühlen und feierten ihre Rückkehr. Live schluchzte auf und wusste nicht wohin mit ihrer Liebe zu den Kindern. Beinahe schien es so, als wollten sie Live gar nicht wieder loslassen und erdrücken, doch da schritt Alfred dazwischen. ,,Nun lasst das arme Mädchen, doch erst mal wieder ankommen. Wie wäre es, wenn ihr in den Spielraum geht und Live gleich nachkommt, um euch eine Geschichte zu erzählen?" So schnell konnte man gar nicht schauen, da waren die Kinder auch schon kreischend im Spielraum verschwunden. Allmählich kehrte Stille auf dem Flur ein. Die Ärzte grüßten Live mit einem freudigen Lächeln und verschwanden dann wieder, nun sah sie sich nur noch ihren Kollegen gegenüber und Live war froh, sie alles hier versammelt zu sehen. Allen voran Alfred, welcher sie breit angrinste. ,,Willkommen zurück Kleines, du hast uns hier ganz schön gefehlt."

Live grinste. ,,Ihr habt mir auch gefehlt und wenn ihr mich nun entschuldigt, ich hab eine Horde Kinder zu beschäftigen!" Damit lief Live grinsend an den Pflegern vorbei und betrat mit einem breiten Grinsen das Spielzimmer. Sofort galt die gesamte Aufmerksamkeit der Kinder ihr. ,,Sie bekommt immer wieder die Liebe von allen. Es ist schön die Kinder so unbeschwert zu sehen." Sagte Conny in die Stille hinein und beobachtete wie Live begann eine Geschichte zu erzählen. ,,Nein, es ist schön zu sehen wie unbeschwert Live trotz allem mit den Kindern umgehen kann. Es gab eine Zeit, da hatte ich Angst das Mädchen an die Dunkelheit zu verlieren und anstatt richtig hinzusehen, hab ich sie weggestoßen. Dabei waren die Zeichen so deutlich." ,,Warum hast du sie dann zurück geholt Alfred? Warum jetzt, wo es ihr erneut so schlimm ging?" ,,Weil ich mir einmal geschworen habe, dass ich niemanden verurteile, auch wenn ich seine Geschichte noch nicht kenne. ... Aber bei Live, bei Live da habe ich es getan. Ich habe über sie geurteilt bevor ich von der Geschichte mit ihren Eltern erfahren habe. Und ich werde alles daransetzten, dass diesem Mädchen, mit dem großen Herzen nie wieder solch ein Lied erfährt. Ich kann nicht all das Böse von ihr fernhalten. Genauso wenig wie ich meine Familie damals bei dem Autounfall retten konnte, aber ich kann dafür sorgen, dass nie wieder jemand solche Schrecken erleben muss, wenn derjenige unter meiner Obhut steht." Damit wand sich der alte Mann ab und widmete sich wieder seiner Arbeit.

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