Kapitel 56

Genervt stöhnte Kader bestimmt schon seit drei Minuten rum und langsam riss auch Sonja der Geduldsfaden. ,,Wie können sie es wagen, überhaupt sowas zu verlangen? Und als nächstes werfen sie uns vor, wir würden uns nicht um unser Kind kümmern oder was?" Kader hatte die Frau, welcher er stets als liebende Mutter erlebt hatte noch nie so wütend gesehen und er fragte sich, ob die Wut nicht auch noch ein wenig Frank galt, statt der Polizei, welche gleich das Jugendamt hinzugezogen hatte. Natürlich hatten diese, durch Lives bekannten Fall auch gleich für Psychologische Hilfe gesorgt und nun saßen sie hier im Cafe des Krankenhauses und warteten darauf, dass sie zurück zu Live konnten. Inzwischen war schon eine gute Stunde vergangen und noch immer hatte Live sich nicht gemeldet. Kader war kurz davor einfach aus diesem verfluchten Rollstuhl, welcher ihn einengte aufzuspringen und zurück in ihr gemeinsames Zimmer zu rennen, soweit er das eben konnte. Frank schwieg, war vermutlich in seine eigenen Gedanken vertieft und Kader befand es als besser so. Er wollte nichts von diesem Mann hören, welcher soeben Live noch Vorwürfe gemacht hatte. Er selbst hätte ebenfalls geschwiegen, wenn er je so etwas erfahren hätte, nur im Gegenzug, dass seine Mutter noch nicht einmal zugehört hätte, wenn es jemals zu solchen Problemen gekommen wäre. Mühsam schob Kader die Gedanken von sich, seine Mutter hatte im Moment nun wirklich nichts in seinen Kopf zu suchen. Nicht, wo es hier eigentlich gerade um Live gehen sollte. Kader wusste nicht, was er tun würde, wenn Live ihn nun wieder von sich stoßen würde. Er könnte die Wochen, ja Monate des Schweigens zwischen ihnen nicht noch einmal durchmachen.

,,Kader. Hat ... Live irgendwas zu dir gesagt?" sacht vernahm er Sonjas sorgenvolle Stimme. ,,Nein, hat sie nicht. Es tut mir leid. Ich wollte sie auch nicht bedrängen. Seufzend nickte die Frau und lehnte sich mit den Füßen wippend zurück. ,,Vielleicht sollten wir einfach etwas Zeit über die Sache wachsen lassen. Ich vertraue diesem Dr. Tors zwar nicht, aber er ist unsere einzige Möglichkeit an Live heran zu kommen. Ich weiß Sonja du liebst das Mädchen, aber ich möchte, dass wir eine neue Chance bekommen Live kennenzulernen. Die Wahre Live. Keine Geheimnisse mehr, kein hin und her mehr mit deinen oder meinen Gefühlen. Ab sofort wird es nur noch Ehrlichkeit in unserer Familie geben und ich möchte nie wieder solch ein Abenteuer erleben. Verstanden?" Franks Stimme schien noch immer belegt, auch ihm machte die Situation zu schaffen und das erste Mal glaubte Kader so etwas wie ein schlechtes Gewissen in seinem Gesicht entdecken zu können. Er machte sich Vorwürfe und verurteile sich dafür, dass er Live und seiner Frau in den Rücken gefallen waren. Kader jedoch fand, dass er sich diese Gefühle selbst eingebrockt hatte und damit auch verdiente. ,,Gut, aber dann wage es auch nie wieder, so mit unserem Mädchen zu reden, denn das hat sie nicht verdient! Du weißt was sie durchgemacht hat und trotzdem bist du vorhin zu weit gegangen Frank. Das werde ich dir nicht vergeben, nicht so schnell. Wenn wir wieder bei ihr sind wirst du dich entschuldigen, hast du mich verstanden?" Sonjas Stimme bebte vor Zorn und man sah der Frau an, dass sie mit jedem weiteren Wort um ihre Haltung bemüht war. Kader wünschte sich für ein paar Sekunden, er wäre ebenfalls bei Sonja aufgewachsen, denn obwohl er immer Inka an seiner Seite gehabt hatte, so hatte ihm doch die mütterliche Liebe einer Frau gefehlt, welche er nicht mehr kannte. Kaders Mutter war ihm in den Jahren so fremd geworden, wie sein Gefühl für die Wut, welche er nun versuchte zu kontrollieren. Erneut stieg wärme in ihm auf. Mit Live war alles so viel leichter. Sie hatte ihm gezeigt, wie es war zu atmen, frei zu sein. Wie sollte er nun damit leben, sie zu verlieren, ob an ihre Vergangenheit oder diesen Dr. Tors?

Völlig in seine Gedanken vertieft, merkte er erst, dass Sonja und Frank mit ihm redeten, als Frank mit dem Finger vor seiner Nase herum schnipste. ,,Kader, hallo? Da ist ein Mädchen, welches mit dir reden will." Verwundert schüttelte sich Kader und richtete seinen Blick auf die Blondine neben sich. ,,Holly!" entwich ihm ihr Name erschrocken, doch der düstere Blick, welchen sie ihm zuwarf ließ ihn sofort schlucken. Er hatte Holly noch nie so erlebt, nicht einmal als es damals wahrhaftig vorbei gewesen war. ,,Wir müssen reden, jetzt. Sofort! Es geht um Live und das was ... ihr wiederfahren ist." ,,Was hast du mit unserer Tochter zu tun?" schaltete sich nun Sonja ein und betrachtete Holly ausgiebig.

,,Also Live, du behauptest also immer noch, dass deine Eltern dort gewesen sind. Aber ... das waren sie nicht. Wen hast du wirklich dort gesehen. War es ein abgegratetes Spiel von dir und deinem Freund? Habt ihr euch einen Scherz erlaubt? Ich weiß ja nicht, auf was für dumme Ideen ihr Kids heut zu Tage kommt, um eurer ... Lust nach zu gehen." Geschockt starrte Live den Mann vor sich an. ,,Kader hat mit der Sache nichts zu tun! Meine Eltern waren da! Sie haben mich berührt, so wie sie es immer getan haben und dann waren sie weg! Ich weiß nicht wie sie es gemacht haben, aber sie waren da!" Live konnte nicht mehr. Ihre Stimme war rau und kratzig. Seit gefühlten Stunden versuchte sie den Mann vor sich davon zu überzeugen, was wahrhaftig geschehen war, doch dieser schien so kalt wie ein Stein zu sein. Dr. Tors schüttelte den Kopf. ,,Ich sehe schon, du lässt nicht mit dir reden. Live, du bist bald 18, aber willst du wirklich weiterhin mit diesem Hass und dieser Naivität in deinem Herzen leben? Hast du schon einmal überlegt, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen?" Live begann zu zittern. Wie konnte er so etwas sagen? Wie konnte dieser Mann die Worte, welche er sprach mit solch einer Gleichgültigkeit in der Stimme aussprechen, wo es hier doch um Lives Leben ging? ,,Ich bin nicht das was Sie sagen! Sie waren da! Und ich habe das, was sie mir die Jahre über angetan haben hinter mir gelassen. Sie sind es, die nicht aufhören wollen! Sie sind es, die nicht aufhören immer wieder einen Weg zu finden mich einzuschüchtern! Also nein, ich kann und ich werde es nicht auf mir sitzen lassen! Sie sind noch für einige Jahre im Gefängnis, aber ich werde nicht weiter mit dieser Angst leben! Sie haben mir meine Kindheit genommen. Sie sind es, die mir Tag und Nacht in meinen Träumen erscheinen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Angst davor habe sie erneut zu sehen! Also sagen Sie mir nicht, was ich tun soll und was nicht!" Lives Schluchzen hallte im Raum wieder und starsinnig sah sie dem Mann in die Augen. Doch er blickte ihr mit so viel Kälte und Ekel entgegen, dass Live bewusst wurde, dass sie ihm soeben nur genau das gezeigt hatte, was er sowieso schon von ihr dachte. Doch Live war nichts von dem, was er in ihr sehen wollte. Er hatte ihr eine Falle gestellt und Live war direkt hinein getappt.

Das Grinsen, welches kurzzeitig über seine Lippen huschte bestätigte ihr nur diese Annahme. ,,Nun Live, ich denke wir haben noch einen weiten Weg vor uns." Langsam putzte er seine Brille am Saum seines Hemdes ab und schaute sie dann wieder kalt an. ,,Vielleicht wirst du dann eines Tages den Hass gegen deine richtigen Eltern ablegen, denn im Moment, ... im Moment versteckst du dich in einem Kokon aus Wärme und einer Lüge. Du bist dem Keller nie entkommen Mädchen. Und vielleicht, vielleicht bist du bei unserer nächsten Sitzung bereit darüber zu reden, doch im Moment bist du nur ein Kind, dass sich lieber belügt, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was du dir da in deinem Kopf für eine Geschichte zusammenspinnst ist nicht die Wahrheit, du hasst deine Eltern so sehr, dass du glaubst sie gesehen zu haben. Doch sie waren nicht da und je eher du das akzeptierst, desto schneller können wir beide wieder unserer Wege gehen. Also Live, es liegt ganz bei dir." Mit diesen Worten erhob sich der alte Mann und verließ langsam, beinahe schlurfend das Krankenzimmer. Live blickte ihm zitternd nach. Eine einsame Träne rann über ihre erhitzte Wange. ,,Sie waren da." Doch die geflüsterten Worte verschlang der Orkan, welcher in ihrem Inneren wütete. Sie hatte verloren und erneut beherrschten diese Monster einen Teil ihres Lebens. Live zog die Beine an sich und umschlang sie mit ihren Armen. Wie still es war, dabei brodelte es in ihr. Live wollte schreien, dem Sturm in sich nachgeben. Gerade als sie gedacht hatte, dass Kader ihr wieder Licht bringen würde, da verschlang die Dunkelheit ihrer Eltern alles um sie herum. Wütend ballte Live die Faust, sie war nicht gewillt aufzugeben. Nicht wegen dieser Monster.

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