Kapitel 55


,,Wo liegt das Problem?" verwundert schaute Live zwischen den beiden hin und her. Ihr war schon klar gewesen, dass es dazu kommen sollte, doch noch wusste sie ja auch nicht, dass es ein Mann war und er nicht glaubte, was Live behauptete. ,,Nun, das Problem ist, dass der Psychologe dir nicht glaubt. Er meinte nur, dass du traumatisiert warst und deine Eltern nicht da waren! Wir sollen dich am besten gleich wieder einweisen lassen, da es dir ja anscheinend wieder schlechter ginge." Wütend tigerte Sonja im Raum auf und ab. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal so wütend auf jemanden gewesen war. Natürlich glaubte sie ihrer Tochter. Weder Sonja, noch Frank hatten je an Lives Worten gezweifelt und die beiden machte es unglaublich wütend, dass man jetzt nach so vielen Jahren plötzlich Tipps und Ratschläge gab, wie man am besten mit dem Mädchen umzugehen hatte, wo man sie doch früher einfach sich selbst überlassen hatte. Live entgleisten die Gesichtszüge und sie konnte ihre Eltern nur ungläubig anschauen. ,,Was? Aber ... sie waren da! Ich hab mir das nicht eingebildet! Sie waren wirklich da!" aufgeregt richtete Live sich auf, wobei ihr leicht schwindelig wurde. ,,Das haben wir ihm auch gesagt, aber er meinte nur, dass es einfach traumatisch war und du durch den Unfall vermutlich einen Schock erlitten hast, wodurch es zu dieser ... Wahrnehmungsstörung kam. Er kann sich nur nicht erklären, wie du in den Keller gekommen bist." Erklärt Frank. Live schaute ungläubig von ihren Eltern zu Kader und dann aus dem Fenster, ihres Krankenzimmers. Mit zitternder Lippe schloss sie die Lider und spürte, wie ihr Tränen über die Wange liefen. ,,Sie waren da." Flüsterte sie noch einmal.

Kader wusste nicht, was er tun sollte. In ihm kochte die Wut auf, doch er ballte nur seine Hände zu Fäusten. Wie konnte man Live nicht glauben? Schließlich hatte sie so lange bei diesen Monstern gelebt? Und überhaupt, wie sollte sie dann ins Haus gekommen sein? Laufend? Als wenn sie dann vor der Polizei hätte da sein können. ,,Hey, es wird alles gut." Vorsichtig drückte Kader ihre Hand und Live blickte ihn emotionslos an. ,,Wenn sie mir nicht einmal glauben, was passiert ist. Was werden sie dann jetzt mit mir machen? Ich will nicht wieder zurück! Ich kann nicht noch einmal in die Psychiatrie!" Es kam Stille auf und Live fragte sich, was die anderen drei Anwesenden dachten. Glaubten sie es wäre besser für sie noch einmal dorthin zu gehen. In Live kroch die Panik rauf. Sie konnte es nicht noch einmal, nicht wieder aus ihrem Umfeld weg. Weg von Kader, weg von ihrer neuen Familie, zu der sie doch gerade erst eine richtige Bindung zugelassen hatte. ,,Live, kannst du mir versichern, dass du offen mit uns darüber sprichst was los ist?" Frank blickte ihr direkt in die Augen und Live musste schlucken. Konnte sie das? Nicht mehr ihre Gefühle verheimlichen, sich nicht mehr zurückziehen, aufhören damit sich zu verletzten? Sie hatte schon lange nicht mehr zum Messer gegriffen, weil sie Kader bei sich gehabt hatte, weil sie jede freie Sekunde damit verbracht hatte zu arbeiten, sich mit Sonja unterhalten hatte oder anderweitig Ablenkung gesucht hatte, doch konnte sie das wirklich noch länger durchhalten? An ihr nagte es, was geschehen war, denn nun wo sie in Sicherheit war quälte Live erneut ihre Vergangenheit. ,,Ich weiß es nicht." Flüsterte Live und richtete ihren Blick auf ihre Hände, welche sie wild zu kneten begonnen hatte.

Frank seufzte. ,,Ich gebe zu, ich war sauer, dass du es uns nicht beiden gesagt es, beziehungsweise, dass Sonja mir nicht zumindest Andeutungen diesbezüglich gemacht hat. Ich wollte ... Es gab eine Zeit, da habe ich überlegt dich zurück ins Heim zu geben. Bitte versteh mich nicht falsch Live, doch mir ging es von vornherein um Sonja. Sie war so am Boden, als der Arzt uns sagte, sie könne keine Kinder bekommen und dann nahm sie plötzlich ein Mädchen, welches nicht sprach und nur stumm durch die Gegend wandelte." Die Worte von ihm zu hören, verletzte Live, doch sie konnte ihn irgendwie verstehen. Schließlich hatte sie Sonja damals auch nicht verstanden, denn obwohl Live diese Frau so oft von sich gestoßen hatte, hatte diese sie nicht fallen lassen, hatte für ihr Kind gekämpft. Sonja wollte gerade einschreiten und ihren Mann zurechtweisen, dass er sowas doch nicht sagen könne, doch Frank erhob nur die Hand und fuhr fort. ,,Als du dann auch noch angefangen hast mit schreien, bin ich beinahe wahnsinnig geworden. Doch da habe ich auch das erste Mal gesehen, warum Sonja dich vom ersten Moment an geliebt hat. Sie kam zu dir ins Zimmer und war so aufgelöst, dass ich es verstanden habe. Sie wollte nie ein kleines Baby, sondern sie wollte dich zurück ins Licht führen und irgendwie hat sie es geschafft. Während ich manchmal am verzweifeln war, hat sie dich immer wieder versucht aufzubauen, hat nicht aufgegeben und ich habe meine wundervolle Frau dafür nur noch mehr geliebt. Du hättest hören müssen, wie sie mich angegangen ist, als ich den Vorschlag anbrachte dich zurück zu bringen." Traurig lachte er auf. ,,Was ich sagen will ist, wir sind jetzt eine Familie Live. Du hast dich sehr verändert, auch wenn ich glaube, dass Kader einen gewissen Teil dazu beiträgt. Dennoch bin ich stolz auf dich. Wir wissen nicht was gestern geschehen ist. Aber ... ich glaube dir. Wenn du sagst sie waren da. Dann waren sie das auch. Und wenn du sagst, du möchtest nicht noch einmal in eine Psychiatrie, dann musst du das auch nicht. Aber ich möchte, dass du eine Therapie machst. Vielleicht ist für dich die Geschichte von damals schon vorbei, aber ich glaube du redest dir das nur ein. Also bist du damit einverstanden?" Ihr Adoptivvater blickte sie unverwandt an und Live begann schluchzend zu nicken. ,,Ja!" sie würde alles tun, nur um bei ihnen bleiben zu können. ,,Ich werde alles tun, nur bitte ... bitte schickt mich nicht weg. Es tut mir leid." Aufgewühlt blickte sie die beiden an und Sonja brach das Herz, ihr Mädchen so zu sehen. Ohne lange zu überlegen überwand sie die letzten Meter, welche sie trennten und drückte ihr Kind an sich. ,,Natürlich nicht. Du gehörst zu uns, mein Mädchen!" nun traten auch ihre Tränen aus und sie drückte Live einen langen Kuss auf den Haaransatz.

Kader saß daneben und zitterte. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Auf die ein oder andere Weise war er wütend. Nicht nur auf diesen komischen Therapeuten, sondern auch auf Frank. Wieso hatte er das gesagt? Reichte es nicht, dass Live sowieso schon völlig aufgelöst war? Hatte er ihr nun auch noch solche Dinge an den Kopf knallen müssen? Doch bevor er seiner Wut auch nur Ausdruck verleihen konnte klopfte es einmal an der Tür, ehe ein schlacksiger Typ, mit Altersflecken, runder Nickelbrille und einer grauen Lockenmähe, von der Kader sich definitiv sicher war, dass es nur eine Perücke sein konnte, den Raum betrat. ,,Guten Tag, du musst Live sein." Seine Stimme klang kratzig und ziemlich tief. Dadurch wurde er Kader nur noch unsympathischer und wie er Live anschaute machte es nicht besser. ,,Ja. Und Sie sind?" erschrocken mussten alle im Raum feststellen, wie zurückgezogen Live plötzlich wieder klang. Wo eben noch pure Freude und Liebe zu Kader gesprochen hatte, erklang nun wieder ein distanziertes und ängstliches Mädchen. ,,Ich bin Dr. Tors. Dein neuer Psychologe! Ich würde Sie nun bitten, den Raum zu verlassen, damit ich mit meiner Patientin in Ruhe reden kann und sie nicht abgelenkt wird!" Den kritischen Blick, welchen er Kader dabei zuwarf, hätte nicht hochtrabender und angewiderter sein können. Der Junge spannte sich sofort an und wollte zu einer patzigen Antwort ansetzen, doch da begann Live schon mit leiser, unruhiger Stimme zu sagen: ,,Sie sind Familie, außerdem muss Kader sich ebenfalls von dem Unfall erholen. Er kann also nicht gehen."

Kader hätte sich zwar andere Worte von ihr erhofft, doch gab er sich auch mit dem Gesagten zufrieden, solange er nicht aus dem Raum musste und Live allein mit diesem gruseligen, beinahe Skelett lassen musste. Der Mann sah immerhin aus, als würde er jeden Moment das Zeitliche segnen!

 ,,Nun, ich denke ein Aufenthalt deiner ..." erneut ließ er seinen starren Blick über die fertige Erscheinung von Sonja und Frank, sowie über Kaders geschunden Körper wandern ,,... Familie in der Cafenteria wird wohl einzurichten sein. Immerhin sind unsere Gespräche vertraulich und ich möchte hier niemanden dabei haben!" Kader wollte gerade erneut zu einer Erwiderung ansetzten, als Live ihm zu verstehen gab den Mund zu halten. Resigniert nickte er und Frank half dem Jungen sich in einen Rollstuhl zu setzten. Keiner von ihnen trauten sich Dr. Tors zu wiedersprechen, wobei sie alle Live damit verdeutlichten wie problematisch ihre Lage im Moment war. Sonja nahm den Apparat, an welchen Kader noch immer angeschlossen werden musste vorsichtig an sich und folgte den beiden hinaus. Live schaute ihnen kurz wehmütig nach, wagte aber nicht zu sprechen. Sie sollte sich einem Mann anvertrauen? Dabei sah er beinahe so aus, als könnte dieser jeden Moment zusammenklappen, nicht das Live unbedingt mit ihm reden wollen würde. Warum musste sie das tun? Wieso reichte es nicht, dass sie gestern schon solch einen Schock erlebt hatte? Seufzend richtete Live sich so gut es mit ihren Schmerzen ging auf und versuchte den Blick des Mannes zu erwidern. Sie fühlte sich nicht wohl und wünschte sich Kader oder Sonja sofort wieder an ihre Seite. Selbst Frank war ihr wesentlich lieber, als diese stechenden Augen, die sie zu durchbohren schienen. ,,Also Live, du behauptest also deine Eltern gesehen zu haben ..." seine Stimme fuhr ihr durch Mark und Blut und Live versuchte ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie wollte hier weg. Er glaubte ihr nicht und seine Stimme ließ keinerlei Widerspruch zu. Wie sollte sie ihn also von sich und dem Vergangen überzeugen? Wie ihm verdeutlichen, was sich in der Nacht zugetragen hatte, wenn sich dieser Mann sowieso anmaßte ein Urteil über sie zu fällen ohne wahrlich hinzuschauen. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top