Kapitel 53
Still fuhren die acht in dem viel zu kleinen Fahrstuhl nach oben auf die Kinder- und Jugendstation. Wie oft war Live hier gewesen? Wie oft war sie genau in diesem Fahrstuhl gewesen und hatte sich darauf gefreut hier zur Arbeit zu gehen. Sie wollte nicht zugeben, dass sich alles drehte und ihr schwindlig war. Das könnte sie auch noch sagen, wenn sie Kader gegenüberstand. Im Moment wollte sie einfach nur zu ihm. Schweiß rann ihr den Nacken hinab und sie wusste, dass sie vermutlich jeden Moment zusammenbrechen würde, aber sie musste zu ihm, zumindest so lange sollte sie einfach noch durchhalten. Das leise Pling des Fahrstuhls bedeutete, dass sie da waren und Live sammelte ihre ganze Kraft um nicht wie eine betrunkene beim Laufen auszusehen. Ihr Schritt war sicher, trotz der Anstrengung. Der Schweiß hatte sich nun auch auf ihrer Stirn verteilt, doch es war ihr egal. Sie sah gerade sowieso aus als wäre sie direkt von der Straße gekommen, also würde ihr auch der Schweiß jetzt nichts ausmachen. ,,Ich will zu ihm." Sagte sie noch einmal, als sie im Eingangsbereich der Station standen wo sogleich ein paar Schwestern kamen. Als sie Live erkannten stockten sie kurz. Wahrscheinlich hatte niemand gewusst, dass sie auch noch eingeliefert werden sollte. Sonja griff nach ihrem Arm und schaute Live besorgt an. ,,Live, lass dich zuerst behandeln. Ich werde nach ihm sehen und dir sagen ob er wach ist." Live riss ihren Arm zurück und starrte Sonja wütend an. ,,Nein! Ich will zu ihm!" Ihre Stimme glich mehr einem fauchen und ehe Sonja auch nur noch etwas erwidern konnte drehte Live sich um und rief seinen Namen. ,,Kader!" Immer und immer wieder seinen Namen, während sie durch den Gang hetzte. Ihre Adoptiveltern starrten ihr fassungslos hinterher. Auf der Station war es völlig still und alle schauten das Mädchen überrumpelt an. Ihre ehemaligen Kollegen waren sichtlich überfordert mit der Situation. Die Kinder, welche auf dem Flur waren, schauten Live eher überrascht an und freuten sich, sie wieder zu sehen, auch wenn ihre Aufmerksamkeit im Moment nicht ihnen galt. Sie alle hatten das Mädchen noch nie so gesehen und auch die Kinder stieben nun aus dem Weg, als Live völlig blind, noch immer Kader schreiend, an ihnen vorbeirannte.
Über vier Stunden war es nun her, dass Sonja, Frank und die Polizisten verschwunden waren und noch immer gab es keine Nachricht. Kader wurde wahnsinnig und wusste nicht wohin mit sich und seinen Gedanken. Inka und Jon gingen ihm tierisch auf die Nerven, doch er wollte die beiden nicht aus dem Zimmer schmeißen, er wusste, dass er sie damit verletzen würde und vielleicht hatte er es ja auch verdient. Immerhin war er doch schuld gewesen an diesem Unfall oder nicht? Seufzend versuchte er seinen schmerzenden Körper anders hinzulegen. Sein Hinterteil tat weh vom Sitzen, liegen konnte er nicht, weil sein Rücken geprellt war und noch immer drehte sich alles. Nur schlafen konnte er ebenfalls nicht, weil Kader, sobald er die Augen schloss sah wie Live blutend neben ihm lag. Sie war nicht tot. Live musste einfach leben. Aber dass Sonja noch immer nicht angerufen hatte bereitete ihm immer mehr Sorgen. War etwas geschehen? Plötzlich wurde es laut draußen auf dem Flur und er hörte mehrere aufgeregte Stimmen, bis es plötzlich komplett still wurde und man nur noch gedämpft eine Stimme hörte welche immer wieder ein Wort schrie. ,,Kader!" Das war doch ... Seine Augen weiteten sich. ,,Live." Er hatte gar nicht gemerkt, dass er überhaupt was gesagt hatte, doch dann schrie sie erneut seinen Namen und Kader wusste, dass sie hier war. Dass sie lebte. Inka konnte ihn gar nicht so schnell greifen, da riss Kader sich schon den Tropf aus dem Arm und die Saugnäpfe, welche an seinem Körper angebracht wurden um seine Werte zu überprüfen, ab. Die Maschine gab einen ohrenbetäubenden Lärm von sich, doch das war ihm egal. Kader stieß Inka unsanft aus dem Weg, was ihm auch sofort leidtat, doch im Moment zählte nur das Mädchen, welches nach ihm rief. Er riss die Tür auf, als Live sich gerade im Kreis drehte und erneut seinen Namen schrie. ,,Live!" Ihr Kopf riss zu ihm herum und er sah wie sich ihre Augen weiteten. Dann rannten beide aufeinander zu und Kader fing sie auf, als Live nur so in seine Arme flog. Erst dann fing das Mädchen an mit Schluchzen. ,,Du lebst. Du bist hier." Ihre Hände strichen über seine Arme, seine Hüfte und dann hob sie endlich den Blick und schaute ihn an. Kader musterte die Tränen, unsicher was er machen sollte. Doch da zog Live ihn schon zu sich und presste ihre Lippen auf seine. Seufzend hielt er sie fest und sank mit dem Mädchen zusammen auf den Boden. ,,Du lebst." hauchte sie noch einmal. ,,Wir leben beide." Kader strich ihre eine Strähne aus dem Gesicht und schaute leicht zu ihr runter. ,,Ich dachte du ..." Doch er schüttelte den Kopf. ,,Sag es nicht. Wir leben!" nachtrüglich ließ er seine Worte etwas stärker klingen und strich ihr sanft über die zitternde Unterlippe. Live schloss die Augen und ließ ihren Tränen freien lauf. Hier bei ihm, konnte sie wieder atmen.
Sonja hatte sich eine Hand auf den Mund gelegt und unterdrückte ein ersticktes Keuchen. Ihr wurde erst jetzt wirklich bewusst, dass sie Kader die ganze Schuld gegeben hatte, obwohl der Junge nichts dafür konnte. Wäre Live allein unterwegs gewesen, hätte man sie vermutlich noch nicht einmal so schnell finden können. Frank legte einen Arm um seine ergriffene Frau und zog sie sanft an sich. Noch immer war es toten still auf der Station und alle schauten wie gebannt die beiden Jugendliche an, welche sich wie ertrinkende an einander klammerten. Lives Kollegen von früher hatten das Mädchen noch nie so gesehen und auch bei einigen von ihnen bildeten sich Tränen in den Augen. Viele hatten sie vermisst und keiner konnte so wirklich mit der Neuen, Holly umgehen. Sie war ... nun einmal nicht Live und man sah, dass sie die Kinder keineswegs so schätzte wie Live es getan hatte. Die Kinder, welche sich noch immer auf dem Flur tummelten konnten wohl mit der Situation am wenigstens anfangen, doch hofften sie, dass das Mädchen wieder zurückkommen würde, denn sie vermissten Live. Ihre Fürsorge, die aufmunternden Worte, welche sie für jeden parat hatte und vor allem auch einfach die entspannte Geschichtenzeit mit ihr. Niemand bemerkte die Blondine, welche unauffällig Fotos machte und an eine andere Frau schickte, ehe sie sich abwand und das Krankenhaus verließ. Sie hatte soeben gekündigt.
Ein räuspern ließ Live und Kader leicht zusammenzucken. Sie hatten alles um sich herum vergessen und gar nicht bemerkt, dass sie noch immer auf dem Boden hockten. ,,Ich glaube, wir sollten dich jetzt auch mal untersuchen oder?" Alfred stand vor ihnen und hielt Live warm lächelnd eine Hand hin. Kurz zögerte sie, ehe sie sie ergriff und versuchte wacklig auf die Beine zu kommen. Sofort war Kader da und stützte sie gemeinsam mit dem alten Mann. Live ließ sich auf eine der Liegen sinken und wurde sogleich von ein paar Krankenschwestern in einen Untersuchungsraum gefahren. ,,Du hast sie verändert." Alfred stand noch immer neben Kader und schaute dem Mädchen gerührt nach. Die Szene hatte ihn erneut mitgenommen und wieder überkam ihn das schlechte Gewissen, er hatte einen Fehler gemacht. ,,Nein." Kader schüttelte den Kopf. ,,Sie hat mich verändert." Denn alles was er im Moment spürte war Wärme und eine unbändige Liebe für Live. Er war so wütend auf sich und die Welt gewesen. Auf seine Mutter, einfach alles und jeden, doch Live hatte den Sturm in ihm bezwungen und Kader gezeigt, was es hieß ohne all diese Wut zu leben. Der Mann blickte lächelnd zu ihm rüber. Nein, weder Kader hatte Live, noch Live Kader verändert, sie hatten einander verändert. Diese beiden Personen haben sich gegenseitig aus der Dunkelheit geholt und etwas entstehen lassen, dass so viel besser war. ,,Jetzt solltest du aber wieder an die Maschine, die ist nicht als Schmuck da!" Kader musste sein Lachen unterdrücken und folgte dem Mann zu seinem Zimmer, wo auch Inka völlig aufgelöst stand. Er wendete sich noch einmal kurz um in den Flur und sah wie alle ihn anstarrten. Kurz war er geneigt eine bissige Antwort zu geben, hatten diese Menschen nichts Besseres zu tun als zu gaffen? Doch er ließ es bleiben. Live ging es gut und das war alles, was er wissen musste.
Live wollte nicht untersucht werden, doch musste sie diese Prozedur nun über sich ergehen lassen. Ihre Augenlider waren so schwer und fielen immer wieder zu. Jetzt, wo sie wusste, dass es Kader gut ging und sie beide lebten war es auf einmal so schwer zu kämpfen. Alles was sie im Moment wollte war vergessen. Vergessen was noch vor ein paar Stunden geschehen war, wen sie gesehen hatte und was Er getan hatte. Ihre Tränen hatte sie schon auf dem Gang vergossen und so war Live froh, dass ihr Tränenfluss nun völlig versiegt war. ,,Du bist fertig Liebes." Conny tätschelte Live die Schulter und diese bemerkte jetzt erst, dass die Schwester überhaupt da gewesen war. Es war nicht normal, dass Live so gar nichts von ihrer Umgebung mitbekam, doch sie wollte im Moment einfach an nichts weiter denken, außer daran, dass sie und Kader lebten. ,,Ich ..." Ihre Zunge fühlte sich schwer an und Live musste all ihre letzte Kraft sammeln um noch einmal etwas sagen zu können. ,,Ich will zu ihm." Dann verließ das Mädchen gänzlich die Kraft und sie schloss entspannt die Augen. Lives Brust hob und senkte sich regelmäßig und die Frau fuhr ihr sanft über die Wange, während sie das Mädchen wieder aus dem Raum schob. ,,Wir machen doch keine gemischten Zimmer." Erwiderte eine Pflegerin, welche noch nicht so lange da war. Sie hatte Live nie kennengelernt und wusste daher nicht, wie wichtig das Mädchen hier für alle auf der Station war. ,,Bei ihr machen wir eine Ausnahme." Liebevoll betrachtete die Rothaarige, das schlafende Mädchen vor sich und schob sie vorsichtig zu Kader in den Raum.
Dieser, sowie Sonja, Frank, Inka und Jon blickten auf, als Live hereingeschoben wurde. Conny stellte ihr Bett direkt neben Kaders ab, sodass dieser ihre Hand in seine nehmen konnte. ,,Was ist mit ihr?" besorgt schaute er zu der Schwester hoch, doch die schüttelte nur beruhigend den Kopf. ,,Mach dir keine Sorgen, es geht ihr gut, sie ist nur erschöpft. Ihr habt beide ziemlich fiel heute durchgemacht. Aber es ging ja zum Glück noch mal gut aus." Lächelnd strich Conny noch einmal über Lives Wange und verabschiedete sich mit ein paar Worten an die Eheleute. Kader ließ sich seufzend wieder in die Kissen sinken und musterte Live, welche plötzlich so friedlich aussah. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und er beobachtete mit einem Schmunzeln, wie sie leicht immer wieder ihre Nase kräuselte. Unbemerkt begann er über mit seinem Finger und ihren Handrücken zu streichen und blendete die Anwesenden vollkommen aus. Wenn er hier so bei Live war, konnte er einfach alles und jeden vergessen. Kader wusste nicht, dass er solche Schmerzen und Sorgen um einen Menschen empfinden könnte. Aber als er vorhin nicht wusste, was mit Live war, da dachte er, er würde sterben, wenn sie ebenfalls nicht mehr da war. Live war sein zuhause und er würde alles tun, damit dem Mädchen nicht erneutes Leid geschah. ,,Wenn Kader uns jetzt eh ignoriert, dann können wir doch endlich nach Hause oder? Ich bin müde." Ertönte da plötzlich Jons Stimme und die Anwesenden mussten lachen. Inka schüttelte den Kopf und wuschelte Kader dann durch die Haare, weswegen er sich zu ihr umdrehte. ,,Ich bringe den kleinen Kerl dann mal ins Bett. Wir kommen morgen wieder." Noch immer schmunzelnd beugte sie sich zu ihm und drückte dem Jungen einen Kuss auf die Wange. Er nickte nur und wollte sich gerade wieder zu Live drehen, als Sonja ebenfalls vortrat und ihn direkt anschaute. ,,Kader ... ich wollte mich ent ..." ,,Schon gut, ich hätte wahrscheinlich genau so reagiert. Ich würde Live nie mit Absicht verletzen. Sie ... Live bedeutet mir alles." Er konnte noch nicht einmal etwas dagegen tun, dass seine Wangen leicht rot wurden. Kurz huschte ein Lächeln über Sonjas Lippen, doch es verschwand genauso schnell wie es gekommen war auch wieder. Mit einem Nicken wand sie sich ab und verließ das Krankenzimmer. Live war in guten Händen, da war sie sich sicher, außerdem würde hier nichts passieren. Dennoch würde sie das Mädchen am liebsten direkt mit nach Hause nehmen.
Im Flur blieb Sonja stehen, sodass Frank genau in sie hineinlief. Etwas überrumpelt hielt er an. ,,Ich weiß, dass du sauer bist, aber ich könnte eine Umarmung gerade echt sehr gut gebrauchen." Mit Tränen in den Augen schaute sie zu ihrem Mann hoch. Dieser kam ihrem Wunsch nach und schloss seine Frau in die Arme. ,,Du weiß doch Schatz, egal wie wütend ich auch bin, ich werde dich immer lieben. Aber die Sache ist noch nicht geklärt und ich will, dass wir darüber reden, wenn Live wieder wach ist." Sonja nickte nur an seine Brust geschmiegt und genoss diesen Moment der Ruhe. Mehr Aufregung konnte sie heute wirklich nicht gebrauchen. ,,Na los, lass uns nach Hause fahren." Nickend löste Sonja sich aus seinen Armen und zusammen verließen auch die beiden das Krankenhaus.
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