Kapitel 52

Live wusste nicht ob sie träumte oder das hier wirklich die Realität war, doch es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Und dann erblickte sie Sonja und Frank, welche sich an den Beamten vorbei drängten und auf ihre Tochter zu stürzten. Live schluchzte nicht. Sie fühlte rein gar nichts, nur eine beständige Kälte. Denn dass die beiden hier waren konnte nur bedeuten, dass sie träumte. Dies wiederum hieß, dass Sie jeden Augenblick zurückkommen würden und dann wäre sie erneut gefangen. Also versuchte Live sich auf etwas Anderes zu konzentrieren. Sie durfte nicht glauben, dass Sonja und Frank wirklich hier waren. Die Decke, welche um sie gehüllt wurde, spürte Live gar nicht und auch der Schmerz der Fesseln, welche in ihre Haut gruben blieb, obwohl diese entfernt wurden. ,,Ich träume." Beinahe hysterisch begann das Mädchen zu lachen. Sonja und Frank wechselten einen besorgten Blick. Mit dieser Reaktion hatten sie eindeutig nicht gerechnet. ,,Nein Liebes. Du träumst nicht. Es ist alles gut. Wie sind hier." Besorgt hockte Sonja sich vor ihre Tochter und blickte vom Boden aus zu ihr hinauf. Doch Live schüttelte nur den Kopf. ,,Nein, das seid ihr nicht. Ich träume. Ihr könnt nicht hier sein und sobald ich die Augen öffne ..." sie stockte und runzelte die Stirn. ,,sobald ich die Augen öffne werden Sie wieder hier sein. Und dann werden Sie es wieder tun und wieder und wieder und immer weiter. Bis sie mich wieder gebrochen haben. Ihr seid nicht echt." Live liefen Tränen über die Wangen, doch sie spürte es noch nicht einmal. Alles was sie fühlte war Schmerz, denn sie war sich so sicher, dass dies hier nicht die Realität war. Ihr Gehirn spielte ihr nur etwas vor. Weder die Polizisten, noch ihre neue Familie war wirklich hier. Sie war noch immer gefangen.

Sonja biss sich auf die Unterlippe um nicht aufzuschluchzen. Dass Live glaubte sie könne träumen versetzte ihr einen Stich direkt ins Herz und das nicht, weil ihre Tochter ihr nicht glaubte, sondern weil diese solch eine panische Angst vor den Monstern, welche sie hier her gebracht hatten zu haben schien. Frank legte vorsichtig eine Hand auf Lives Schulter und diese zuckte automatisch zurück. Sie hatte für einen Augenblick gedacht es wäre ihr Vater. Doch dann spürte sie, dass ihre Arme frei waren und auch ihre Füße nicht mehr an den Stuhl gebunden waren. Es war ein Traum. Nichts Anderes konnte das hier sein. Aber es war ein schöner Traum. Das Mädchen sprang auf und machte einige wacklige Schritte in Richtung Tür, vor welcher sich die fünf Beamten versammelt hatten. Die einzige Frau unter ihnen, hochgewachsen und blond musterte sie eindringlich, aber vermutlich bildete Live sich das nur ein. Sie sackte auf die Knie, aber fühlte nichts. Ihr war schwindlig und schlecht. Erst jetzt überkam sie die eigentliche Anstrengung des Unfalls. Aber Sonja war sofort an ihrer Seite und hielt ihr Mädchen fest. ,,Bitte sag mir, dass das hier kein Traum ist. Bitte sag mir, dass es die Realität ist!" flehend blickte das Mädchen die Frau neben sich aus ihren blauen Augen an und Sonja musste schlucken, um dem Mädchen nicht zu zeigen, wie sehr sie ihr Anblick mitnahm. ,,Nein Live, dass hier ist kein Traum, es ist die Realität." Dann verdrehte Live plötzlich die Augen und fiel einfach nach vorn, als würde die Ohnmacht sie erst jetzt wirklich überkommen und in ihre Arme schließen. Jetzt, nachdem sie so lange gekämpft und überlebt hatte.

Sonja konnte Live gerade noch rechtzeitig auffange, bevor sie mit dem Gesicht voran auf den Boden gefallen wäre. Hilflos blickte sie zu ihrem Mann, der zu ihnen gekommen war hoch. Man sah der Frau an, dass sie vollkommen überfordert mit der Situation war. ,,Vermutlich sollten wir ihr ein paar Klamotten besorgen. Ich denke nicht, dass sie sich in dieser klammen Decke wohlfühlt, sollte Live aufwachen." Mechanisch nickte die Frau und wollte das Mädchen gerade versuchen hochzuheben, als ihr Mann das übernahm. Mehr sagte er nicht und Frank blickte Sonja auch nicht direkt an, was ihr zu verstehen gab, dass die Sache noch nicht geregelt war. ,,Das Mädchen sollte augenblicklich ins Krankenhaus, so wie sie aussieht war sie wohl ebenfalls im Auto." Meinte einer der Polizisten und erst dann wurde Sonja bewusst, dass auch Live einige Schürfwunden im Gesicht, sowie an den Armen und Beinen hatte. Sie musste schlucken und es schnürte ihr die Kehle zu. Ihr Kind hätte auch tot sein können. Diese Erkenntnis traf sie erst jetzt mit voller Wucht. Kader und Live hatten unglaubliches Glück gehabt. Was hätte sie getan, wäre Live wirklich tot gewesen? Doch daran durfte Sonja jetzt nicht denken, alles was zählte war, dass das Mädchen wieder wohlbehütet bei ihnen war. Auch wenn augenblicklich die Angst in ihr hochkam nun wieder von vorn mit ihrer Beziehung zu Live beginnen zu müssen. Was wenn, das Mädchen nun wieder war, wie zu der Zeit als sie Live gerade aus dem Heim geholt hatten? Doch das war im Moment nicht wichtig. Sie lebte, alles andere würden sie später sehen.

So machten sie sich wieder auf den Rückweg, so schnell sie konnten. Da keine Lebensbedrohlichen Anzeichen zu sehen waren bestanden Sonja und Frank darauf ihr Mädchen im St. Paulus untersuchen zu lassen. Sie wollten nicht, dass ihr Kind hier in dieser Stadt aufwachte. Nicht nachdem, was sie hier alles erleiden musste. In einem der Polizeiwagen fanden sie noch Anziehsachen. Zwar waren es nur Schlampersachen und dem zierlichen Mädchen viel zu groß, doch Sonja nahm an, dass es Live so lieber wäre, als die ganze Zeit nackt, in eine feuchte Decke gewickelt da zu liegen. Die drei Streifenwagen setzten sich in Bewegung, nichts ahnend, dass sie die ganze Zeit beobachtet wurden und nun ein schwarzer Wagen, ohne Licht langsam die Straße in Richtung Gefängnis zurück rollte. Nur eine der Polizisten sah im Rückspiegel, dass ein einziges Mal die Rücklichter des Wagens aufblickten. Als Zeichen, dass alles funktioniert hatte.

Die Rückfahrt über die Autobahn wirkte um einiges beruhigender als die Fahrt hin in diese Stadt, aus welcher sie nun flüchteten, als wären sie selbst die Gejagten. Sonja und Frank saßen wieder auf der Rückbank, die Bewusstlose Live zwischen sich. Sonja fühlte immer wieder nach ihrem Puls um auch wirklich sicher zu gehen, dass es ihrer Tochter gut ging. Lives Puls ging zwar etwas langsamer, aber das war vermutlich nur der Aufregung und der Ohnmacht geschuldet, welche über sie hinweggespült war. Frank musterte das Mädchen neben sich verstohlen. Wenn im Krankenhaus alles geklärt war, würde er sich gleich darum kümmern, dass das Kind Hilfe bekam. Denn nach der Reaktion, welche sie soeben noch gezeigt hatte, war ihm nur umso deutlicher geworden, dass etwas ganz und gar nicht mit Live stimmte. Vielleicht konnte sie die Fassade nach außen hin aufrecht halten und jedem Glauben machen, dass es ihr gut ging, sie ihre Vergangenheit überwältigt hatte, doch dem war nicht so. Zumindest nicht so wie Live selbst gern glaubte. Sie schreckte immer wieder auf, nur um dann wieder in sich zusammenzusacken. Langsam begann Sonja sich doch noch mehr Sorgen zu machen. Hätten sie sie vielleicht doch sofort ins örtliche Krankenhaus bringen sollen? Jetzt war es jedoch zu spät dafür, immerhin wären sie in einer halben Stunde wieder in Willow. Seufzend blickte die Frau zu Frank, welcher ihren Blick nun etwas wärmer erwiderte. Ihr fiel sofort ein Stein vom Herzen. Frank würde sie nicht allein lassen. Sie standen das hier, was auch immer noch kommen würde gemeinsam durch. Als eine Familie. Und sie würden Live nicht aufgeben. Das Mädchen gehörte zu ihnen, sowie die beiden zusammen gehörten.

Als hätte Live gespürt, dass die Bedrohung nun wieder einige Stunden entfernt war, wachte sie auf und sah sich erschrocken im Wageninneren um. Kurz glaubte sie, dass all das gar nicht geschehen war und sie neben Kader am Steuer eingeschlafen war. Doch dann bemerkte sie, dass sie auf dem Rücksitz an eine Schulter gelehnt saß und vor ihnen zwei Beamten saßen. Als sie ihren Blick nach links wandern ließ, entdeckte Live Frank und dann richtete sie sich vorsichtig auf. Sie hatte an Sonjas Schulter geruht. Irgendwie fühlte sich alles merkwürdig an. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass sie in übergroßen Sachen steckte, doch das machte ihr im Moment überhaupt nichts aus. Wenigstens roch es nicht mehr nach dem Keller und alles was zurückgeblieben war, waren die Striemen, welche ihre Arme und vermutlich ihre Fußgelenke, von den Fesseln zierten. Wieder. Alles was in den Jahren so gut verheilt war, prangte nun wieder an ihrem Körper. Kurz schloss Live die Augen und schluckte die Erinnerungen hinunter. Das Mädchen sagte nichts, starrte nur auf ihre Hände, die leicht zitterten und niemand versuchte auch nur ein Gespräch mit ihr aufzubauen. Live brauchte nicht lange um zu wissen, wo sie hinfahren würden und dann kamen ihr plötzlich braune Augen in den Sinn. ,,Lebt ..." sie musste sich räuspern, da ihre Stimme total rau und kratzig war. ,, Lebt Kader." Live flüsterte nur. Traute sich nicht laut zu reden, aus Angst die Antwort würde ,,Nein" lauten. Doch als Sonja ruhig ihre Hand ergriff sah sie nur, wie diese nickte, ehe sie die Worte aussprach, welche Live so unbedingt hören wollte. ,,Ja. Er lebt." Live ließ sich beruhigt zurückfallen. Es schien, als wäre die gesamte Last, der letzten Stunden von ihr abgefallen. Dass er lebte, war alles was zählte.

Das Mädchen hätte gern ihre Hand weg gezogen, sie wollte nicht berührt werden, aber Live konnte Sonja das einfach nicht antun. ,,Fass mich nicht an." Dacht sie, sprach es aber nicht aus. Jede Minute die verstrich brachte sie näher zu Kader. Natürlich glaubte Live ihren Adoptiveltern, doch sie musste ihn sehen, ihn berühren. Wissen, dass das hier kein verdammter Traum war. Denn noch immer zweifelte Live. Warum sollten ihre Eltern sie so einfach gehen lassen oder war es von Anfang an ihr Plan gewesen. Ihr Angst machen und dann verschwinden? Live einfach nur daran erinnern, dass Sie noch immer die Oberhand hatten? Sie schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken was er getan hatte, ignorierte das Gefühl seiner Hände an ihr. ,,Wir sind da." Erleichtert riss Live ihre Augen bei diesen Worten wieder auf und wollte so schnell wie möglich aus dem Auto raus. Sonja wollte, dass Live sich auf eine der Liegen vom Krankenhaus legte, da die Frau Angst hatte, jetzt wo sie da waren würde Live auch noch die letzte Kraft verlassen. Doch das Mädchen wehrte sich dagegen und sprang förmlich aus dem Auto. ,,Ich will ihn sehen!" ihr Blick war ernst und ließ keinen Widerspruch zu. Doch Sonja schüttelte nur den Kopf. ,,Ich halte das für keine gute Idee. Vielleicht ist er nicht bei Bewusstsein." Dabei wusste sie ganz genau, dass er es sehr wohl war. Live war egal was sie sagte. Sie musste einfach zu ihm und sich davon überzeugen, dass es ihm gut ging!

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