Kapitel 51

Kader konnte nicht fassen, dass Sonja wirklich drauf und dran war ihm die Schuld zu geben an dem was geschehen war. Dabei gab er sich diese doch schon selbst. Wenn er nur auf die Straße gesehen hätte, vielleicht hätte er dann das Lenkrad rechtzeitig herumreißen können. Er hätte sie beschützen müssen. Live hatte ihm vertraut! Wie sollte sie ihm das je verzeihen? Wie sollte er sich das selbst jemals verzeihen? Mit jeder weiteren Minute, in der Sonja sich nicht bei Inka meldete, die Frauen hatten zuvor Nummern ausgetauscht, damit sie erfuhren, falls sie Live fanden, machte Kader wahnsinniger. Sein Selbsthass stieg bis ins unermessliche und er konnte einfach nicht glauben, dass das hier wirklich geschah. Wieso? Was war wirklich geschehen? Steckten tatsächlich Lives Eltern dahinter, obwohl der Polizist doch bezeugt hatte, dass diese noch immer im Gefängnis, gut verschlossen hinter Gittern saßen? Sein Schädel brummte noch immer und er musste erneut einige Tage zur Beobachtung bleiben. Gehirnerschütterung, mal wieder. War ja nicht so, als wäre es etwas Neues für Kader. Natürlich war er gut weggekommen, dennoch nervte es ihn nicht selbst nach Live suchen zu können. Seufzend ließ Kader sich in die weichen Kissen sinken. An Schlaf war trotz der späten Stunde nicht zu denken. Jede weitere Sekunde zerfraß ihn und am liebsten wäre Kader in Inkas Wagen gesprungen um selbst nach Live zu suchen, doch er wusste, dass es niemandem etwas bringen würde, wenn er sich ebenfalls in Gefahr brachte. Mal ganz davon abgesehen, dass er sobald Kader sich auch nur zu schnell aufrichtete schwankte und ihm total schlecht wurde.

,,Kader, ich weiß, dass dich das gerade alles ziemlich auflöst, aber ... bitte überstürz es nicht, falls sie Live finden." ,,Wenn! Wenn sie sie finden! Live lebt und sie werden sie finden. Sag nicht falls, denn das würde bedeuten ... das würde ..." Kader konnte nicht weitersprechen, seine Augen brannten. Er durfte nicht verzweifeln. Sie würden Live finden, da war er sich ganz sicher und vielleicht würde er sich dann nicht mehr so sehr hassen. Vielleicht konnte er sich irgendwann selbst verzeihen, zumindest hoffte er das. ,,Hey!" Sanft drückte Inka, welche neben seinem Bett hockte seine Hand. Jon war in die Cafeteria gelaufen um etwas zu Essen zu holen. ,,Natürlich werden sie Live finden. Tut mir leid, ich habe nicht auf meine Wortwahl geachtet. Das wird schon alles wieder, mach dir keinen Kopf." Doch selbst Inka war am Zweifeln, ob es denn wirklich so kommen würde. Denn Tatsache ist, wo das Mädchen war, wusste niemand so wirklich. Es konnte auch sein, dass Sonja, Frank und die Polizisten umsonst den weiten Weg auf sich genommen hatten, nur um dann festzustellen, dass Live gar nicht dort war. Aber es musste einfach so sein. Alles andere würde nämlich bedeuten, dass sie keinerlei Anhaltspunkte hatten, wo sie noch nachsehen konnten.

Frank hatte kein einziges Wort gesagt, seit sie im Auto eines Polizisten saßen, welcher nun so schnell er konnte fuhr. Für Sonja war es noch immer zu langsam, immerhin ging es hier um ihr Kind! Die Sorge um Live stieg mit jeder weiteren Sekunde und auch das Navi verkündete nicht, dass sie so bald an dem Ort, zu welchem sie wollten sein würden. Verzweifelt knetete die Frau ihre Hände und rang mit sich. Sie wollte sich an ihren Mann lehnen. Wollte, dass dieser sie beruhigte, doch so still, wie dieser da saß hatte sie ihn noch nie erlebt. Frank war wütend und das eigentlich zurecht. All die Zeit hatte er Gedanken daran gehabt das Mädchen vielleicht wieder zurück zu geben, dann hatte er endlich eingesehen, dass sie ein fester Bestandteil der Familie war und nun erfuhr er plötzlich, dass das Mädchen nicht nur schlechte Träume hatte, sondern auch psychisch gestört sein musste. Sowas konnte man nicht einfach von heut auf morgen verarbeiten! Sie hätten Live gleich in Behandlung schicken sollen, sobald sie auch nur das erste Mal geschrien hatte und nun verfluchte er sich dafür, dass er sich nicht über Sonja hinweggesetzt hatte. Seine Fäuste waren geballt und er versuchte sich angestrengt zu beruhigen, aber in Frank kochte es und er konnte seine geliebte Sonja gerade einfach nicht anschauen, geschweige denn berühren. Dafür war er im Moment einfach zu wütend darüber, dass sie ihm so etwas Wichtiges verschwiegen hatte. ,,Wir sollten gleich da sein." Riss sie auf einmal einer der Beamten aus ihren Gedanken. ,,Sie bleiben bitte im Wagen und lassen uns das regeln!" Doch weder Sonja, noch Frank würden sich an diese Anweisung halten. Nicht, wenn es wirklich eine Möglichkeit gäbe, dass Live dort drinnen in diesem Haus war.

Wie lange sie wohl schon allein hier war? Immer wieder umfing sie für kurze Zeit die Dunkelheit und Live begrüßte sie nur zu gern. Nur, dass sie jedes Mal nach wenigen Minuten wieder aufschreckte durch die Bilder, welche die Ohnmacht ihr zeigte. Sie hatte Angst und ihr war kalt, doch das Zittern ihres Körpers kam nicht daher, sondern es kam von der Wut, welche sich in ihr breit machte. Wut auf ihre Eltern, dass sie erneut versucht hatten sie zu brechen, wo doch schon mehr als sieben Jahre vergangen waren. Erneut drohte es sie in das Loch aus Vergangenheit und Schmerz zu ziehen, doch Live rief sich immer wieder die Gesichter von Sonja und Frank und auch Kader ins Gedächtnis. Auch die Bilder des Abends rief Live sich in Dauerschleife ins Gedächtnis. Sie hatte Kaders Familie kennengelernt. Dort hatte sie gelacht, sich frei gefühlt. Live war geliebt worden. Wurde es noch immer und das durfte sie einfach nicht vergessen. Es war alles was zählte. Alles was sie noch in dieser Welt, in dieser Realität hielt. Die Sorge um Kader wurde mit jeder Minute größer. Was wenn er ihretwegen gestorben war? Was würde sie dann tun, wenn sie den Jungen, in welchen sie sich letztendlich doch verliebt hatte verlieren würde? Wütend zerrte Live an den Fesseln, in dem Wissen, dass es nichts bringen würde. Aber sie konnte nicht aufgeben, sie konnte einfach nicht hier sitzen und nichts tun, während er vermutlich noch immer dort draußen lag. Die Stille brachte sie beinahe um den Verstand, doch dann hörte Live plötzlich ein Knarzen und sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie waren doch zurückgekommen! Und es würde erneut kein Entkommen geben! Vielleicht würden sie es wieder so weit treiben wie früher. Wie viele Jahre würde es diesmal dauern, bis jemand sie fand? Wie lange würde sie der Folter dieses Mal wiederstehen können? Live wusste es nicht und als sie Schritte hörte, welche die Kellertreppe hinabstiegen wusste sie nur eins. Sie würde nicht aufgeben, Live musste weiter hoffen. Sie wollte die Familie, welche sie gerade erst bekommen hatte nicht erneut verlieren. Nicht, nachdem sie angefangen hatte Gefühle zuzulassen. Sie würde Kämpfen. ,,Weil ich denke, dass du es wert bist." Das hatte Kader zu ihr gesagt und genau an diese Worte klammerte Live sich nun mit aller Gewalt. Sie durfte nicht aufgeben! Immer und immer wieder wiederholte sie diesen einen Satz. Ihr Eltern würden sie nicht erneut brechen.

Angespannt rannten die Polizisten die Kellertreppe hinab, gefolgt von dem Ehepaar. Nach mehreren Minuten diskutieren hatten sie letztendlich aufgegeben die beiden draußen lassen zu wollen. Immerhin ging es hier um ein Menschenleben, da zählte jede Sekunde, noch wussten sie ja auch nicht, dass Live völlig allein im Keller saß. Die Haustür war nur angelehnt gewesen, wahrscheinlich konnte man sie schon seit Jahren nicht mehr abschließen, immerhin sah das gesamte Haus aus, als würde es jeden Augenblick zusammenbrechen. Das zum Verkaufen Schild lag abgebrochen auf dem braunen Rasen und obwohl das Häuschen definitiv mal einst schön gewesen war, wunderte es keinen, dass niemand hatte darin leben wollen. Vermutlich hatten alle in der Umgebung erfahren, was sich einst hier abgespielt hatte. In den Jahren hatte dann die Witterung den Rest übernommen und nun war das Haus von Efeuranken umschlossen, viele Fenster gesprungen oder schon aus ihren Angeln gerissen und auch sonst machte das Haus einfach keinen einladenden Eindruck mehr. Warum es nicht abgerissen wurde verstand Sonja nicht. Denn das Haus ruinierte die ganze Straße, in welcher nur kleine süße Familienhäuser zu stehen schienen. Im Haus war es stockdunkel und nachdem die Polizisten sichergegangen waren, dass sich in den oberen und unteren Räumen niemanden mehr befand, stürmten sie nun in den Keller. Das einzige was ihnen als Licht diente, waren die kleinen Taschenlampen, welche sie neben ihre gezückten Waffen hielten. Und dann standen sie direkt vor der Kellertür. Die hintere blonde Polizistin bedeutete Sonja und Frank noch einmal, dass sie hier warten sollen, doch die beiden dachten gar nicht daran. Der erste Mann trat die Tür ein und dann strömten die fünf Beamten gefolgt der Eheleute wie Ameisen in den kleinen Raum. Ein leichter Modergeruch kam ihnen entgegen und sofort spürte jeder wie die Temperaturen deutlich sanken. Ganz offensichtlich musste hier unten einst ein Hahn geplatzt sein, denn auf dem Boden waren leichte Pfützen zu erkennen. Und auch sonst machte der Raum nicht gerade einen einladenden Eindruck, ganz so, als hätte er sich im Laufe der Jahre dem Aussehen des Hauses angepasst. Oder vielleicht war es auch umgekehrt gewesen.

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