Kapitel 46

Das letzte Mal als Live solche Angst hatte hockte sie in einem kalten Keller und war an einen Stuhl gefesselt. Auch wenn es lächerlich war diese Angst von damals mit der Angst jetzt um das Mädchen, welches ihr so ans Herz gewachsen war zu vergleichen tat sie es dennoch. Noch nie in ihrem Leben war sie so schnell gerannt wie jetzt, als sich endlich die Fahrstuhltüren öffneten und Live an erschrocken dreinblickenden Pflegern, Kindern und Eltern vorbei rannte. Sie bekam kaum Luft, aber das merkte sie nur am Rande. Kader hielt natürlich mit ihr mit, Alfred hatten sie schon längst hinter sich gelassen. Alles was für Live momentan zählte war es noch rechtzeitig zu dem Mädchen zu schaffen, welches vermutlich innerhalb der nächsten Minuten sterben würde.

,,Was ist passiert?" fragte Live während sie hektisch versuchte sich anzuschnallen. Sie blickte Alfred nicht an, weil sie ihn dann lauter stille Vorwürfe machen würde und das wollte sie nicht, obwohl er es verdient hätte. Er hat nur versucht die Kinder zu beschützen, zumindest redete sie sich das immer wieder ein. Denn eigentlich war die Wahrheit, dass er ihr im Endeffekt doch nicht gut genug vertraut hatte, sonst hätten sie die Sache schon längst klären können. ,,Sie wurde heute operiert, sie wollten den Tumor aus dem Hirn schneiden, aber ... etwas ist schief gelaufen. Die Ärzte konnten sie soweit stabilisieren, dass sie zumindest noch ein paar Stunden haben würde, um ihre Eltern zu sehen." Alfreds Stimme nach nahm ihn dieses Ereignis genauso mit wie Live. ,,Warum bin ich dann hier? Warum kommst du jetzt?" Vielleicht konnte sie ihre Gefühle doch nicht ganz so gut verbergen. ,,Sie hat nach dir verlangt, wollte, dass du bei ihr bist, wenn sie ... wenn sie geht. Die Kinder haben dich vermisst." Den letzten Satz flüsterte er nur, doch Live hörte ihn. Danach schwieg sie, die kurze Fahrt bis zum Krankenhaus und wartete auch auf dem Parkplatz nicht auf die beiden, ehe sie losstürmte um einen Fahrstuhl zu ergattern.

Nun war sie hier, stand schwer atmend vor der Tür und wusste nicht was sie tun sollte. Live hatte Angst dieses Zimmer zu betreten, alleine hier zu sein fühlte sich schon irgendwie komisch an und erinnerte sie daran, was passiert war. Warum sie ihre Arbeit verloren hatte. Zögernd hob sie die Hand, als würde sie klopfen wollen, doch im nächsten Moment zog sie die Hand wieder weg. Seit wann war sie so zögerlich im Umgang mit den Kindern? Warum machte es ihr plötzlich solche Angst in dieses Zimmer zu gehen und das zu tun, was sich das Mädchen darin so sehr wünschte, wo sie den kleinen doch sonst immer jeden Wunsch ohne auch nur zu murren erfüllt hatte? ,,Soll ich mitkommen?" Kader trat neben sie und nahm vorsichtig ihre Hand in seine. Irgendwie beruhigte Live seine Anwesenheit, doch sie musste da selbst durch. Kopfschüttelnd nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür. Noch immer zögernd löste Live ihre Hand aus Kader seiner und betrat den sterilen weißen Raum. Lillis Familie hatte sich um sie herum zusammgehockt und das Mädchen mit dem blonden Lockenkopf, welches eben noch traurig und zusammengesunken im Bett gelegen hatte strahlte nun voller Freude, als es Live entdeckte. ,,Du bist hier!" freudig richtete sie sich auf, was sofort zu einem Hustenanfall führte. Live verzog das Gesicht und trat an das Bett heran. Tina, Lillis Zwilling hielt weinend die Hand ihrer Schwester. Sie hatte die OP noch hinter sich. Doch war Tinas Tumor nicht so schlimm und bösartig wie Lilli ihrer. Eine kranke Tochter zu haben war schon schlimm genug, dann aber auch noch zwei. Live empfand sofort tiefes Mitgefühl für die beiden Eltern, welche sie trostlos anschauten. Live sah genau, dass sie nicht weinten um ihre Töchter nicht zu verängstigen. Dabei stank alles hier in diesem Raum nach Tod und dem Ende.

Keuchend holte Live Luft und wischte sich schnell die Träne, welche ihrem Auge entflohen war weg, setzte sich auf die andere Seite von Lilli und nahm eine ihrer Hände in ihre eigene. ,,Natürlich bin ich hier, du kleiner Engel. Ich würde alles für dich tun." Flüsternd, aus Angst wenn sie laut sprach würden die Tränen nur so kullern, strich sie dem kleinen Mädchen einige Strähnen aus dem Gesicht. Sie war doch erst acht! Es war nicht fair, dass sie so jung starb, genauso wie es nicht fair gewesen war, was Lives Eltern getan hatten. ,,Bleibst du hier? Bei mir. Bis ... bis es zu Ende ist." Das Sprechen musste dem Kind Schmerzen bereiten denn es verzog sofort den Mund. Oder vielleicht hatte sie einfach auch Angst, dass das hier nun wirklich das Ende war. ,,Natürlich. Ich bleibe bis du einschläfst." Lächelnd strich Live ihre dünnen Ärmchen und blickte dann zu ihrer Zwillingsschwester, welche sich verzweifelt an die Hand ihres Gegenstücks klammerte. ,,Hey Tina, wollen wir ihr eine Geschichte erzählen? Erinnerst du dich noch an die Geschichte, welche ihr geschrieben habt?" Live versuchte ihre Stimme nicht allzu erregt klingen zu lassen, doch sie konnte dem anderen Mädchen ein leichtes Lächeln abringen. Tina sprang vom Bett ihrer Schwester und holte das Heft, wo die beiden ihre Geschichten aufgeschrieben hatten. Es schien vor so langer Zeit geschehen zu sein, dabei war es gerade mal ein paar Monate her. Also konzentrierte Live sich nur auf dieses kleine Mädchen, dessen Wunsch es gewesen war sie noch ein letztes Mal zu sehen und las ihr die Geschichte vor, welche sie mit ihrer kleinen Schwester selbst noch zusammengedichtet hatte.

Kader lief im Flur auf und ab um Live nicht doch hinterher zu rennen. Er hatte das Gefühl, dass wenn etwas schieflief, dann gleich alles. Erst die Sache mit Alexa und jetzt noch das und dabei war er schon wieder kurz davor gewesen sie zu küssen. Wollte das Schicksal ihm irgendwas mitteilen? Irritiert über sich selbst schüttelte er den Kopf. Nein, er glaubte nicht an Schicksal. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich und drehte sich um, weil er dachte, es könne vielleicht Alfred sein, doch stattdessen stand er plötzlich einer Blondine in greller Kleidung, die so gar nicht in dieses weiße Ambiente passen wollte, gegenüber. ,,Holly?" überrascht riss er die Augen auf, bis ihre Worte wieder in seinem Kopf auftauchten. ,,Was zur Hölle machst du hier?" Wut blitzte in seinen Augen auf und sie schlug ihre blonden Haare nach hinten. ,,Was wohl? Ich arbeite hier." Kicherte sie. Kader wusste nicht ob das ein Scherz sein soll, doch dann sah er den Schwesternkittel, welchen sie offen trug und musste ein stöhnen unterdrücken. Er hätte nicht gedacht, dass man Live rausschmiss und dafür so jemanden wie Holly einstellte. ,,Warum? Du hasst Kinder! Du mochtest nicht einmal meinen Bruder!" Hollys Blick verfinsterte sich kurz. ,,Ich weiß nicht was du meinst Kader! Ich mag Kinder und außerdem, hat deine kleine Freundin nicht auch hier gearbeitet?" kurz verzog sie das Gesicht. ,,Ich meine ich bin wenigsten keine Psychopathin, vor der man die Kinder beschützen muss, also ist das wohl das minimalste Übel mich dann auch noch um sie kümmern zu müssen." Auf ihre Nägel starrend zuckte sie mit den Schultern. Kader versteifte sich. ,,Was hast du gerade gesagt?" drohend machte er einen Schritt auf sie zu. ,,Was? Psychopathin? Ich dachte du wüsstest das schon längst? Hält sie dafür nicht eh die ganze Welt." Gehässig verzog das Mädchen ihren Mund zu einem hässlichen Grinsen. ,,Holly, wenn das irgendeine Rache dafür ist, dass ich dich hab sitzen lassen, dann ..." plötzlich begann Holly zu lachen. ,,Rache? Oh Gott Kader, du glaubst echt die ganze Welt würde sich nur um dich drehen oder? Herrgott Kader, das hat doch nichts mit dir zu tun!" gackernd warf sie den Kopf in den Nacken und Kader erkannte das Mädchen, mit welchem er einst zusammen gewesen war nicht wieder. Dann blickte sie ihn plötzlich wieder liebevoll an. ,,Was ist das eigentlich zwischen euch? Kader, ich weiß doch, dass du für sowas nicht gemacht bist. Ist sie dir nicht viel zu brav?" leicht strich sie ihm über die Schulter. Früher wäre er darauf vielleicht angesprungen, doch jetzt packte er ihre Hand und drückte sie nach unten. ,,Lass es Holly. Ich bin mit Live hier und so wird es auch bleiben. Freu dich, dass du ihren Platz hast und das war's. Mehr wirst du nicht bekommen." ,,Na schön. Dann sieh zu, wie ihr euch beide in den Abgrund stoßt. Ihr habt euch echt verdient!" damit wand sie sich ab und stolzierte davon. Kader schüttelte nur den Kopf. Aber irgendwas an der Sache kam ihm merkwürdig vor. Holly und er hatten sich getrennt, sie war genauso damit einverstanden gewesen wie er. Warum schien sie ihn also auf einmal zurückhaben zu wollen? Was heckte sie aus und vor allem, hatte sie was mit Alexa zu tun? Langsam kam er sich beobachtet vor, er hatte das Gefühl überall wo er und Live waren, egal wo sie hingingen, immer war jemand da und beobachtete sie. Er wurde langsam schon genauso paranoid wie Live. Nur wusste er noch nicht, dass Live das gleiche Gefühl hatte und was sie bereits seit längerem beobachtete.

Live bewunderte das kleine Mädchen dafür, dass es so tapfer war, während sie sich selbst die Tränen verkneifen musste, dabei wäre Live am liebsten aus dem Zimmer hinausgerannt und wäre erst wieder stehen geblieben, wenn sie selbst einfach keine Kraft mehr gehabt hätte um zu laufen. Warum geschah das hier? Wieso dieser kleine Wirbelwind? Das Leben war so verwirrend, ungerecht und Live hätte alles getan um mit dem kleinen Mädchen zu tauschen. Irgendwann war Stille eingekehrt und niemand wusste mehr worüber sie reden sollten. Immer öfter hustete Lilli nun und ihre Sicht schien zu verschwinden, da sie immer wieder längere Zeit starren musste. ,,Weißt du ... Live. Du warst die beste große Schwester, die man sich wünschen kann." Die Worte kamen nur abgehackt und langsam, aber sie konnte jedes Wort deutlich verstehen. Aufmunternd drückte Live ihre kleine Hand. ,,Und ihr zwei die tollsten kleinen Schwestern, die ich je hatte." Schniefend nahm Live auch Tinas Hand und blickte das Mädchen an. ,,Wird es weh tun?" ,,Nein, Lilli mein Schatz. Es ist wie ... wie schlafen, du wirst nichts spüren." Nun rann dem Mädchen doch eine Träne aus den Augen, weil sie alle wussten, dass Live nicht die Wahrheit sagte, immerhin hatte das Kind auch jetzt schon Schmerzen und diese würden vermutlich nur verschwinden, wenn sie wirklich die Augen schließen würde. ,,Ich hab Angst." Gestand sie und blickte dabei zu ihren Eltern, doch diese konnten ihr Kind nicht ansehen. Kurz flammte Wut in Live auf, aber sie verstand die beiden irgendwie. Die Sorge war ihnen regelrecht anzusehen und sie kämpften schon darum vor ihrer sterbenden Tochter nicht die Fassung zu verlieren. ,,Die brauchst du nicht haben. Wir sind alle bei dir und das werden wir auch weiterhin, weißt du warum?" Das Mädchen schüttelte den Kopf, was sie leicht zusammenzucken ließ und dann tippte Live ihr an die Stelle wo ihr Herz war. ,,Weil wir alle da drinnen sind. Genauso wie du in unserem Herzen bist. Und jeder Mensch, den du berührt hast, der dich gesehen hat, wird an dich denken und bei dir sein, für immer." Live rang sich ein Lächeln ab, um das Mädchen aufzumuntern, aber es rutschte ihr immer wieder aus dem Gesicht.

Dann ging plötzlich alles so schnell. Erst flackerten nur ihre Augen und der Blick wurde immer wieder glasig und scharf. ,,Ich bin so müde, Live." ,,Ich weiß, ich weiß." Murmelte sie beruhigend und strich dem Kind über den Kopf. ,,Bleibst du hier? Bis ich aufwache." Live lächelte, obwohl sie wusste, dass Lilli nie wieder die Augen öffnen würde. ,,Natürlich Schatz, alles was du willst. Ich warte hier mit Tina und ... deinen Eltern, bis du wieder aufwachst." Das letzte dass das Mädchen sah, war ihre Familie und das junge Mädchen, welches ihr so viel Leben und Liebe geschenkt hatte. Dann umfing sie die Finsternis und sie wusste, Live hatte nicht gänzlich gelogen. Denn letztendlich hatte sie keinen Schmerz und schlief ein. Friedlich, in dem Wissen, wenn sie die Augen aufschlug, würden sie noch immer dort sitzen, bei ihr und sie behüten.  

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