Kapitel 39

,,Wenn du das wirklich willst, dann bleibe ich hier. Bei dir." Kader schluckte. Natürlich würde er nicht neben ihr Schlafen, dafür hatte er sich selbst viel zu wenig unter Kontrolle, um sie dann nicht zu berühren. Doch wollte sie das? Wollte Live wirklich, dass er blieb oder stand sie gerade so neben sich, dass sie für einen Moment vergas wer er war? Schnell tat er diesen Gedanken ab. Live war zu stark für so etwas. Sie würde ihn immer erkennen, ihn sehen, das hatte sie von Anfang an, genau deshalb hatte er sie auch so sehr verletzen können. Weil Live in ihm den eigentlichen Kern der Person welche er war und sein wollte entdeckt hatte. Das Blut rauschte in seinem Kopf und noch immer war er so berauscht von ihren leisen und doch so mächtigen Worten. Live spielte nicht mit ihm, das war nicht ihre Art und doch, würde er es geschehen lassen. Kader würde Live sein Herz in die Hände legen, wenn sie danach verlangte und er würde es sich auch bereitwillig zerquetschen lassen, nur um weiterhin in ihrer Nähe sein zu können. Also stand er wie hypnotisiert da, starrte nur weiterhin auf das Mädchen, aus Angst mit der leisesten falschen Bewegung sie erneut zu verschrecken und wieder in den Abgrund zu befördern, in welchem sie kurz zuvor gefangen gewesen war.

Ihr Herz donnerte schmerzhaft gegen den plötzlich zu engen Brustkorb und keuchend holte Live Atem, ehe die Worte, auf welche er so gehofft hatte aus ihr herauskamen: ,,Ja, bitte bleib hier." Das genügte Kader und mit einem knappen Nicken verschwand er in dem Gästezimmer um seine Matratze heran zu schleppen. Vielleicht nicht so bequem wie das Bett an sich, aber für Live hätte er auch auf dem Boden geschlafen, wenn sie das gewünscht hätte. Sonja hatte noch immer nur Augen für ihr Kind und bekam überhaupt nicht wirklich mit, was Kader im Hintergrund trieb. Sie war so unendlich stolz auf ihre Tochter, auf das, was sie da tat. Den Weg, welchen Live begann einzuschlagen, möge er noch so viel Mut und Kraft beanspruchen, sie tat es dennoch. Sonja war so stolz auf dieses Mädchen und wusste doch, dass sie Live ihre Gefühle nicht zeigen konnte. Zumindest nicht die, welche in ihr tief im Herzen wüteten. Ihr war bewusst, wen Live vorhin mit Er meinte. Ihren Vater, den Mann, welcher ihr das alles angetan hatte. Der Mann, vor welchem sie solch schreckliche Angst hatte, dass er sie noch immer in ihren Träumen verfolgte, begleitet von seiner abscheulichen Frau, selbst nach so vielen Jahren der Entfernung. Live hatte ihre Mutter als schön beschrieben, doch alles was Sonja von dieser Frau halten konnte war schrecklich. Vielleicht war sie wunderschön und einer Göttin gleich, aber sie hatte ein Kind verletzt und das machte sie in Sonjas Augen furchtbar, grausam und hässlich. Sie hatte nie gewollt, dass Live sowas durchleben musste. Sonja wollte nicht, dass irgendwer es tun musste und dennoch saß sie hier und sah, wie ihr Kind sich erhob und stärker wurde. Mit jedem Tag der verging. Sie vertraute ihrer neuen Familie noch nicht genug, um alles zu offenbaren, das war ihr bewusst, dennoch blieb Live hier, bei ihnen und das bedeute dieser Frau mehr, als sie in Worte fassen könnte. Sie würden gemeinsam einen Weg finden, um der Dunkelheit entgegenzutreten. Sonja und Frank waren dafür schon vor Jahren bereit gewesen und Live war es nun auch. Zusammen. Als eine Familie.

Als Kader wiederkam, Live hatte für einen kurzen Moment geglaubt er würde doch gehen, zitterte sie noch immer. Der Schweiß klebte ihr Shirt eng an sie und mit jeder weiteren Minute die verstrich fühlte sie sich unwohler. Sollte sie Kader wieder wegschicken? Warum war er überhaupt hier? Wie war all das in den wenigen Stunden so schiefgelaufen? Eben hatte sie noch lachend mit ihm, Sonja und Frank im Wohnzimmer gesessen und nun zitterte sie wieder, als wäre sie das kleine verschreckte Mädchen, welches sich verstecken musste. Live hatte sich noch nie wirklich dafür geschämt, dass sie die Albträume hatte. Sie hatte noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, was es für Sonja und Frank bedeuten könnte sie jeden Tag schreien zu hören, als würde jeden Moment ein Mörder hervorkommen um sie umzubringen. Noch nie war ihr das Ausmaß dessen, was jede Nacht geschah so deutlich gewesen wie in dem Moment, als sie weder von Sonja, noch von Frank, sondern von diesen braunen Augen geweckt wurde. Sein hektisches Gesicht noch immer vor Augen, richtete Live sich langsam auf und blickte zu Sonja. ,,Ist, ... ist das O.k. für dich?" ihre Stimme nur ein kleines Flüstern, versuchte Live etwas in Sonja zu finden, dass es dort nicht gab. Live würde nie Abneigung für sich selbst in Sonjas Blick entdecken, das wurde mit jedem Tag deutlicher und doch wartete sie auf diesen Schlag. Er musste doch kommen oder? Irgendwann würde der Verrat doch auch von dieser wundervollen Frau kommen oder nicht? Live konnte dem ganzen nicht trauen, der Schmerz saß so tief und sie wäre nicht gewappnet dagegen, wenn Sonja und Frank irgendwann entschieden, sie anders zu behandeln. Live schüttelte den Kopf, sie drehte sich immer noch um dasselbe Thema, dabei sah sie doch so eindeutig die Liebe von Sonja vor sich. ,,Natürlich, mein Kind!" Sonja schluchzte leicht und strich ihr über die Haare. ,,Alles was du willst!" damit drückte sie ihr vorsichtig einen Kuss auf den Kopf und erhob sich schwer, als wolle sie eigentlich gar nicht gehen. Nur was wollte Live eigentlich? Sie wusste es nicht. Niemand wusste das und doch hatte sie Kader gebeten zu bleiben, bei ihr, in ihrem Zimmer, ihrer Nähe. Vielleicht war er irgendwie der Anker, welcher sie in dieser Zeit hielt. Er war kein Teil dessen gewesen, er war etwas Neues. Etwas, dass sie zuvor nicht gekannt hatte.

Nachdem Live nichts weiter gesagt hatte, ging Sonja langsam zur Tür. Live war nicht allein, das beruhigte sie und doch war sie noch immer überrumpelt von den Worten ihrer Adoptivtochter. Sie kommt voran, langsam. Sie ist gesprungen und dabei würde Sonja sie jeden Tag, den Live es zuließ helfen, sie auf diesem Weg begleiten. Bei Kader angekommen hielt Sonja kurz inne und blickte ihn direkt an. ,,Verletzt mein Mädchen nicht. Sie hat es nicht verdient, erneut zu leiden. Versprich mir, dass du alles tust um sie nicht noch einmal in die Hölle zu schicken, denn dieses Mal würde sie das nicht überstehen!" Sonjas Worte waren noch nie so kalt gewesen und trotzdem sträubte sie sich nicht dagegen. Kader blickte sie überrascht an und nickte. ,,Ich verspreche es! Ich werde sie beschützten." ,,Beschütz sie nicht, dafür ist sie zu stark." Kurz blickte die Frau zu ihrem Kind und wand sich dann wieder Kader zu. Sonjas Augen durchbohrten ihn. ,,Außerdem ist sie zu stur um das zuzulassen. ... Sei einfach nur bei ihr!" dann war die Frau verschwunden und Kader blieb mit Live, welche sich soweit beruhigt hatte, dass sie inzwischen, zwar noch immer wackelig, aber zumindest aufrecht, auf den Beinen stehen konnte. Kader wollte ihr zu Hilfe kommen, doch ihre erhobene Hand bedeutete ihm stehen zu bleiben. Also tat er es. Hätte Live gesagt spring aus dem Fenster, Kader hätte es ohne Wenn und Aber getan. Es war nicht gut, dass sie so viel Macht über ihn hatte und dennoch konnte der Junge nichts dagegen machen. Live hatte etwas in ihm zum Leben erweckt, was er schon längst für gestorben erachtet hatte. Dieses Mädchen war keine Holly, die wusste welche Wirkung sie auf andere hatte. Live war auch keine Alexa, welche der Meinung war ihr würde alles gehören. Nein, Live war anders, zurückgezogen und gerade das war es, was sie für Kader so besonders machte. Sie hatten beide ihre Probleme und auch wenn der Start holprig war, Kader wurde mit jeder Minute, die er in ihrer Nähe verweilte, stärker. Er konnte ihr aus der Dunkelheit helfen, da war er sich ganz sicher, wenn Kader nicht vorher ihr Untergang bedeutete.

Wacklig lief Live, wohl eher watschelte sie, in ihr Bad und versuchte sich zu beruhigen. Also blieb er. Hier, bei ihr, in ihrem Zimmer, ganz nah. Das konnte sie, Kader war kein Eindringling, sie selbst hatte ihn aus irgendeinem Grund gebeten hier zu sein und nun würde sie versuchen mehr über Kader White zu erfahren. Wobei, das konnte auch auf morgen warten, zuerst sollten sie schlafen, es war vermutlich schon nach eins. Schnell spritzte sich Live etwas kaltes Wasser ins Gesicht und schälte sich aus den nassen Schlafsachen. Kalt. Sie fühlte sich kalt und leer, als wäre nichts mehr in ihr übrig, was sie zu Gefühlen verleiten konnte. Seufzend zog Live sich frische Kleidung, die sie extra mitgenommen hatte, an. Würde es nun ewig so sein? Schlaflose Nächte, Gefühle die sie nicht aussprechen konnte, Schuldgefühle die sie auffraßen? ,,Schluss jetzt! Reiß dich zusammen! Du bist kein Lamm auf der Schlachtbank!" ihre Augen glitten zu dem Spiegel, über der Spüle, in welchen sie nur sehr selten blickte. Ihre Augen trafen das Spiegelbild. ,,Ich bin Live Kamson und ich werde springen. Ich bin Live Kamson, ich werde keine Angst haben. Ich bin Live Kamson und ich habe Sie überlebt, da werden mir meine Gefühle jetzt nicht den Verstand rauben!" leise murmelte sie diese Worte und verließ das kleine Bad wieder. Sie konnte sich nicht vor dem verstecken was sie war, was sie gesehen hatte und wovor sie solche Angst hatte, aber Live konnte dem entgegenblicken und versuchen jetzt alles besser zu machen. Mit gestraften Schultern stand sie Kader plötzlich direkt gegenüber, als hätte er gerade am Bad klopfen wollen. ,,Ich ... ich hab dich reden hören und dachte ... du brauchst Hilfe." Ganz deutlich konnte Live sehen, wie er schluckte und verwundert beobachtete sie diese leichte Regung seines Halses, ehe ihre Augen wieder zu ihm hinauf huschten. Nah. Er stand zu nah. Räuspernd schob sie sich schnell an ihm vorbei. ,,Wir sollten schlafen."

Plötzlich lief sie rot an und Kader registrierte dies mit einem leichten Grinsen. ,,Also nicht zusammen!" stammelte sie noch hinterher und Kader musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. ,,Schon klar, Live. Gute Nacht!" somit begab Kader sich wieder zu seiner Matte und ließ sich auf diese fallen. Kurz stand Live noch etwas unsicher im Raum, ehe auch sie sich wieder in ihrem Bett verkroch. ,,Gute Nacht, Kader." Sie zog die Decke über sich, obwohl ihr plötzlich so heiß war von seiner Nähe davor. Gefährlich. Dass was sie hier taten war gefährlich und doch ließ sie sich darauf ein. An Schlaf war allerdings nicht mehr zu denken, das war Live genauso bewusst wie Kader. Dafür geisterten viel zu viele Gedanken in ihren Köpfen umher und hüllten die Stille in laute Klänge. Also lagen die beiden Jugendlichen, in ihren Gedanken und Emotionen verstrickt da und lauschten auf das Atmen des jeweils anderen. Bis Live plötzlich erneut ohne ihr Zutun das Wort an ihn richtete: ,,Warum ich und nicht Alexa?" Perplex starrte sie in die Dunkelheit und hörte nur wie Kaders Decke raschelte. Er musste sich ihr zugewandt haben, doch außer eines leisen Glucksens kam aus seiner Richtung nichts. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top