Kapitel 27

Trigger Warning

Sonja saß nur stumm da, zu gebannt von diesen schrecklichen Worten ihrer Adoptivtochter und spürte eine unbändige Wut in sich. Wie hatten Lives Eltern ihr das nur antun können? Wie hatten sie ihrem eigenen Kind solch eine Scham bereiten können? Sie bewunderte Live, wie diese erzählen konnte, ohne die kleinste Regung zu zeigen, während sie selbst nur vom Zuhören schon wieder völlig aufgelöst und den Tränen nah war. Doch gleichzeitig musste sie sich auch in Erinnerung rufen, dass nicht ihr diese Dinge geschehen waren, sondern es Live betraf. Live, ihr Kind, für welches sie die ganze Welt verändern würde, wenn dieses Mädchen sich nur helfen lassen würde. Sonja hatte ja nicht die geringste Ahnung gehabt, was damals geschehen war. Sie hatte sich schon denken können, dass es etwas Grausames war, doch das, was sie nun erfuhr, war alles andere als das, was sie sich selbst schon zusammengesponnen hatte. Sonja dachte Live wäre schon fertig und könne den Rest ihrer Vergangenheit nicht aussprechen, doch sie sprach leise weiter und dann stockte Sonja das Herz.

,,Ich wusste nicht was das sollte. Ich saß Stunden dort unten, meine Glieder waren völlig taub, meine Handgelenke wundgescheuert und blutig. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und als ich dachte, sie würden mich endlich erlösen ... da verletzten sie mich noch tiefer. Sie ... mein Vater ..." nun liefen Live doch Tränen über die Wangen, Sonja traute sich jedoch nicht sie zu berühren und ihr die Schlieren von der Wange zu wisschen. Live war wieder so zerbrechlich, sie hatte Angst, dass dieses so scheue Mädchen einfach verschwand und erneut eine große Leere in Sonja zurück ließ. ,, ... mein Vater berührte mich ... während meine Mutter mich auspeitschte. Immer und immer wieder. Ich spürte seine Hände überall auf meinem Körper und egal wie sehr ich schrie, wie stark ich blutete, wie sehr ich doch bettelte, ... sie hörten einfach nicht auf. Ergötzten sich an meiner Angst, meinem Schmerz und dann waren sie weg. Ließen mich dort in der Kälte und Dunkelheit zurück." Live schluckte, die letzten Teile ihrer Vergangenheit hatte sie nur noch flüstern können und Sonja musste sich anstrengen sie auch richtig zu verstehen. Am liebsten wäre sie aus dem Raum gerannt, denn sie konnte es einfach nicht ertragen, zu sehen wie zerbrochen das Mädchen, welches noch immer versuchte ihre Emotionen zu verbergen, wirklich war.

,,Ich hab mir immer die Schuld gegeben. Ich hab immer gedacht ich wäre eine schreckliche Tochter. Ich hab sie gefragt, was ich besser machen könnte, habe sie angefleht mir zu sagen was sie von mir erwarten und wie ich mich nach ihren Wünschen hin verändern könne. Doch sie lachten nur und wiederholten die Prozedur, wann immer sie dachten ich wäre wieder mobil genug es zu ertragen. Manchmal trieben es so weit, dass ich in Ohnmacht fiel, doch das wollten sie eigentlich nicht, sie wollten doch hören wie ich schrie und um Gnade winsle. Mit den Jahren zerbrach meine Seele immer mehr. Ich wusste nicht mehr wo hin, niemand half mir. Niemand schien es auch nur zu bemerken und dann kam eines Tages mein Engel zu mir. Miss Smith, meine Englischlehrerin auf der neuen Schule bemerkte wie ich mich auf der Toilette ritzte. Es war dumm und nachlässig von mir gewesen es dort zu machen. Doch dieser Schmerz war alles was mich noch in der Realität festhielt, wenn meine Albträume und meine Angst mich auch in der Schule zu übermannen drohten. Ich dachte, hätte ich diese eine Sache nicht mehr, würde ich diesen Schmerz nicht mehr spüren können, dann würde ich vergehen. Zumindest hatte ich das immer gedacht. In der Zeit, in welcher sie mir immer wieder diese Schmerzen zufügten, wurde ich süchtig danach mich selbst immer wieder für Dinge, welche meine Eltern schlecht fanden zu bestrafen oder auch wenn ich Angst bekam. Ich konnte es zum Beispiel nicht ertragen wenn mich jemand berührte, also versuchte ich so gut es ging anderen in der Schule aus dem Weg zu gehen. Sprechen wurde für mich zu einer untragbaren last und ich verlernte mit der Zeit wie man Freunde fand, nicht dass ich wirklich je welche hatten.

Jedenfalls erwischte mich die Lehrerin dabei, wie ich mich selbst verletzte und meinte sie würde es meinen Eltern melden müssen, da brach ich einfach in Tränen aus. Ich hatte schon eine Zeit lang nicht mehr geweint und plötzlich kamen da so viele Tränen aus mir heraus, dass ich nicht wusste wohin damit. Ich war vollkommen überfordert mit der Situation, genauso wie sie glaube ich. Miss Smith konnte mich gar nicht mehr beruhigen, doch als sie mir versicherte, sie würde es meinen Eltern erst einmal nicht mitteilen, wurde ich wieder ruhiger. Dann nahm sie mich mit in ihr Büro. Miss Smith war unsere damalige Vertrauenslehrerin, schon komisch, dass ausgerechnet sie mich dabei erwischt hatte. Sie versuchte mich auszufragen, doch ich blockte alles ab. Ich wollte ihr nicht erzählen, was mit mir los war, was zuhause auf mich wartete, warum ich mir das selbst antat. Ich wollte einfach nur nach Hause, da ich mir Sorgen machte, meine Eltern bekämen mit, dass etwas in der Schule vorgefallen war. Doch da meinte sie plötzlich sie hätte es gesehen. Die Wunden auf dem Rücken, meinen Armen und Beinen, sowie die ganzen blauen Flecken. Verblüfft hatte ich sie angesehen, denn sie hätte es nicht wissen können! Ich hab mich für den Sportunterricht immer in den Toiletten umgezogen und hatte immer Bandagen getragen, um meiner Narben an Armen und Beinen verdeckt zu halten. Also sagte ich, ich wüsste nicht was sie meinte und ging. Ich bin einfach aufgestanden und nach Hause gerannt! Natürlich geschah es diesen Abend auch wieder und dann klingelte es plötzlich mitten in der Nacht an der Tür." Live schaute Sonja nun direkt in die Augen. ,,Ich hing blutend, auf dem Stuhl. Sie hatten mich dort gelassen zum ''Schlafen" ..." bitter lachte sie auf. ,, ... als hätte ich je eine Nacht wirklich schlafen können, in diesem dreckigen und kalten Loch. Ich hörte Stimmen, Schritte und dann wurde die Kellertür aufgerissen. Zuerst sah ich nur die Lichter von Taschenlampen und dann kamen plötzlich 3 Männer gefolgt von einer aufgebrachten Miss Smith in den Keller. Erst dachte ich sie gehörten zu dem kranken Spiel meiner Eltern. Aber nein! Sonja, sie haben mich befreit. Meine Lehrerin, welche mich ebenso wenig wahrgenommen hatte wie alle anderen hatte mich gerettet. Nur weil ich so dumm gewesen war mich zu ritzen während ich in der Schule war. Ich weiß noch, dass ich einfach nur lachte. Es klang müde und beinahe krank, aber es sprudelte einfach aus mir heraus. Diese ganze Situation war so bizarr und unwirklich, dass ich fast glaubte, es wäre nur ein Traum. Aber endlich, nach so vielen Jahren war ich frei! Jemand hatte mir die rettende Hand gereicht und obwohl ich sie zuerst nicht angenommen hatte war ich noch nie in meinem Leben so froh gewesen, wie an diesem einen Tag." Live verstummte, ihre Augen wirkten leer, als wäre das Leben mit dem erneuten erinnern aus ihnen gewichen.

,,Oh Live! Hätte ich es doch nur gewusst. Ich ... wie konnten sie das nur tun?" schluchzend schaute Sonja Live an. ,,Wie konntest du das überleben?" es drang nur als ein leises Flüstern zu Live hinüber, doch sie hatte es genau gehört. ,,Ich weiß es nicht Sonja!" nun rollten erneut Tränen über ihre Wange und dann schloss das Mädchen endlich die Arme um ihre Adoptivmutter. In diesem Moment fühlte sie sich mit ihr mehr verbunden als sie es je mit ihrer leiblichen Mutter gewesen war. Live wusste, sie war zuhause. Diese Frau und auch ihr Mann würden nie die Fehler ihrer Eltern wiederholen. Nein, diese beiden liebten Live. Aus welchem Grund auch immer, aber diese beiden Menschen hatten Live nicht aufgegeben, wie die anderen. Und endlich konnte Live sich in diese Familie fallen lassen. Sonja und auch Frank diese Liebe entgegenbringen, die sie Live täglich zeigten. ,,Ich bin zuhause!" murmelte Live leise, damit Sonja es nicht hörte und presste sich noch enger an die Frau.

Zumindest hatte sie es einmal aussprechen können, um ihre Seele zu beruhigen, damit sie endlich ihren Frieden schließen konnte mit sich und der Welt. Live wusste, dieser Seelenfrieden würde nicht ewig halten. Nein, es würde wieder etwas geschehen, sie konnte es fühlen, doch jetzt hier in diesem Moment war sie einfach froh sich geborgen und heil zu fühlen. Hier in den Armen ihrer wirklichen Mutter. Es war noch zu früh ihre Gedanken mit Sonja zu teilen, doch sie versuchte ihr durch die Art wie sie diese wundervolle Frau anschaute ihr zumindest einen Teil ihrer Empfindungen mitzuteilen. Langsam ebbten ihre Tränen ab und auch Sonja schien sich langsam von dem Gehörten zu erholen.

Sie spürte es tief in ihrem Herzen, wie Live versuchte ihr deutlich zu machen, was sie empfand und liebte Live dafür noch mehr. Es war als bemühe sich das Mädchen, ihr selbst die Ängste auszutreiben, dabei war es doch Sonja, die eigentlich ihr Kind hätte trösten sollen. Aber sie konnte es im Moment nicht, Sonja fand keine Worte für das, was Live ihr gerade anvertraut hatte und genoss in der Stille der Küche einfach, dass Live hier war, bei ihr und ihr dieses Vertrauen geschenkt hatte. Sonja wusste das zu schätzten, denn sie konnte sich nur vorstellen, wie schwer es all die Jahre gewesen war hier zu sein und diese Last mit sich herum zu tragen. Vorsichtig hielt sie Live fest und versuchte ihr damit ein Gefühl der Geborgenheit zu übermitteln. Sie konnte sich nun fallen lassen und konnte das, was einst war hinter sich lassen. Live war in einer neuen Familie, einer Familie, welche sie liebte. Und Sonja würde wie eine Löwin für dieses Mädchen kämpfen, denn Live war ihr Kind und nichts auf dieser Welt konnte das ändern!

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