Kapitel 25

Trigger Warnung!

Live machte sich keine Mühe darum ihr Fahrrad wie immer ordentlich angekettet in dem Fahrradständer, welchen Frank extra für sie im kleinen Vorgarten ihres Hauses aufgebaut hatte, zu stellen. Sondern schmiss es einfach achtlos in den Rasen und stürmte schwer atmend ins Haus. Sollte es doch irgendjemand klauen, es war ihr egal. Alles war ihr egal. Wie konnte Alfred ihr das antun? Kurz hatte sie gedacht er würde ihr nachlaufen, doch er hatte es nicht getan. Er war einfach in dem Schwesternzimmer stehen gelassen und hatte sich nicht weiter um sie gekümmert. Dabei war er sonst immer da gewesen und egal wie sehr es sie auch nervte immer gefragt zu werden, ob alles gut ist, hätte Live es gerade heute gebraucht. War sie ihm wirklich so egal? Nun kamen erneut die Tränen und Live wurde es noch enger um die Brust. Sie brauchte diesen Schmerz! Es war ihr egal ob Sonja oder Frank zuhause waren oder ob sie sich wie eine Psychopathin aufführte. Sie war ja auch eine. Ein Psycho, so wie Alexa sie getauft hatte. Ein Freak, der es nicht wert war von anderen auch nur angesehen zu werden. War es nicht das was alle in ihr sahen? Das wozu sie Live machten? Vielleicht war Sonja besser dran, wenn sie Live nicht mehr lieben musste. Sie könne sich eine Tochter suchen, die ihre Liebe auch erwiderte, so wie es diese starke und wundervolle Frau verdient hatte. Live brach es das Herz jedes Mal zu sehen, wie sehr sie Sonja verletzte. Sie tat es nicht mit Absicht, aber Live konnte einfach niemanden an sich heran lassen. Kader war dafür das beste Beispiel. Er hatte sie genauso benutzt wie alle anderen auch. Vermutlich hatte er doch irgendeine Wette am Laufen und nun hatte er sie gewonnen, denn Live hatte ihm unmissverständlich gesagt, dass sie ihn mochte und so dämlich konnte in ihren Augen nicht einmal Kader sein um dies nicht verstanden zu haben. Er hatte etwas in ihr verändert und doch hat er letztendlich auch nur mit ihr gespielt, wie es alle taten. Plötzlich keimte ein Gedanke in ihr auf. Was wäre, wenn sie ihrem Leben und allen die sie Tag ein Tag aus verletzte endlich von ihrem Leid befreite? Wer würde sich schon um Live Kamson, eigentlich jetzt Morgan kümmern und sorgen? Ein dummes Adoptivkind, welches vor lauter Angst nicht aussprechen kann was früher geschehen war. Dass von ihrer eigenen Familie verstoßen wurde, weil sie nicht ... ihrem Willen gehorchen wollte. Aber du bist doch gar keine Morgan, du bist eine Kamson und das wirst du immer sein! Du kannst noch so weit weg rennen. Ihr Blut fließt dennoch durch deine Adern. Ob du es willst oder nicht, du wirst immer mit Ihnen verbunden sein. Du wirst Ihnen niemals entkommen, Live!

Live packte sich an den Kopf. ,,Halt den Mund!" schrie sie laut aus. Sie wurde wahnsinnig! Sie spürte es, fühlte es und wankend kam sie endlich in der Küche an. Das kühle Metall des Messers fühlte sich so gut an. Kurz blitzte Kaders Gesicht vor ihren Augen auf. Sein Lächeln, bei welchem er immer ein kleines Grübchen an der linken Wange bekam. Seine Augen die strahlten, wenn Live sein Lächeln erwiderte. Seine Stimme, welche sanft und gleichzeitig so rau klang. Oh wie sie diesen Gottverdammten Typen liebte. Live war ihm vom ersten Moment an verfallen. Was kaputt ist, wird eben immer nur weiter kaputte Dinge anziehen. Sie war verflucht und nun begann sie auch noch durchzudrehen. Kichernd schaute sie sich in der Küche um. Was interessierte Kader sie eigentlich? Er konnte jede haben! Als würde er sich ändern! Als würde er plötzlich nicht mehr auf Partys gehen und Scheiße bauen, nur weil er glaubte Live zu mögen. ,,Als würde er mich mögen!" schluchzend senkte sie erneut das Messer. Es war zu viel. Es war einfach zu viel. Das kalte Metall in ihrer Hand erinnerte sie an früher, an den Keller, die Fesseln. Ihre Blöße, ihre Angst, ihre Schrie und ihr Flehen. Wie Sie sie immer und immer wieder verletzten, schlugen, sich über ihr winseln ergötzten, als wäre all dies etwas worüber man lachen könnte. Erinnerungen stiegen in ihr auf und hielten Live in ihrem Griff gefangen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, dabei war dieser Schmerz nach dem sie sich so sehr sehnte, so nah, sie müsste nur ganz leicht mit der Hand in welcher sie das Messer hielt zucken und schon würde sie endlich Erlösung in ihrer ganz eigenen persönlichen Hölle finden. Und vielleicht würde sie es dieses Mal endlich wirklich beenden. All dem Schmerz und Leid entfliehen, wie sie es schon immer getan hat, nur dieses Mal für immer.

In dem Moment schrie eine Frauenstimme auf und ihr wurde das Messer aus der Hand geschleudert. ,,Live! Live, was hast du?" Sonja klang hysterisch und umfing das verquollene Gesicht ihrer Tochter. Live stand da, starrte sie ohne jegliche Emotionen an und reagierte nicht. Wie eine leblose Puppe hielt Sonja das Mädchen und starrte ihr aufgewühlt in die dunklen Augen, die nichts von ihrem sonstigen Glanz mehr übrig hatten. ,,Live, Kleines, ich bin da, was hast du? Bitte sprich doch mit mir!" Sonjas panische Stimme und ihre aufgewühlten Schluchzer, holten Live viel zu schnell wieder in die Realität zurück. Sie wollte da bleiben, in ihrem kleinen ruhigen Kokon, in welchem sie nichts fühlen musste. Doch nun prasselte alles wie ein Hagelfeuer auf sie ein. Es war einfach alles zu viel. Schreiend und schluchzend brach sie in den Armen ihrer Adoptivmutter zusammen und klammerte sich mit zitterndem Griff an sie. Sonja hielt sie fest umschlungen. Selbst wenn sie gewollt hätte, Sonja konnte ihr Mädchen gar nicht los lassen, nicht wie sie sich an sie klammerte und so hemmungslos weinte und schrie, als würde die Welt gerade untergehen. Und vielleicht tat sie das auch in jenem Moment für Live. Sonja begann beruhigend auf Live einzureden, strich ihr über die dunklen Haare und versprach Live, dass alles wieder gut werden würde. Doch das würde es nicht. Live wusste es, denn dieser Zusammenbruch bedeutete, dass alles wieder wie vor der Zeit bei Sonja und Frank war. Live verwandelte sich zurück in dieses Wrack von damals. Gefangen in ihrer Vergangenheit und ihren Zweifeln, kurz vor dem Abgrund, nur dass nirgends eine Rettungsleine in Sicht war.

Kader wusste nicht was er noch immer hier machte. Er sollte wenden und zum Training fahren, so wie er es eigentlich vor gehabt hatte. Doch plötzlich zog ihn etwas nach Hause. Er durfte hier nicht wie ein Spanner vor der Einfahrt eines Mädchens stehen. Sollte Live ihn aus irgendeinem Grund dabei sehen, würde sie durchdrehen, ihn auch noch zu einem Perversen erklären und noch mehr hassen, wenn das denn überhaupt möglich wäre. Was macht dieses Mädchen nur mir? Seufzend fuhr er sich noch einmal durch die Haare, blickte auf das Haus, wobei ihm sofort auffiel, dass es einen sehr gepflegten Eindruck machte. Live musste es hier einfach gut gehen. Sie könnte doch gar nicht anders als hier glücklich zu sein oder? Kader machte sich eindeutig viel zu viele Gedanken über das Mädchen. Ein letztes Mal blickte er zu dem Fahrrad, welches noch immer im Rasen lag und fuhr dann zu sich nach Hause. Inka würde vermutlich Fragen stellen, wenn er so drauf war. Aber das interessierte ihn im Moment herzlich wenig. Vielleicht konnte Inka ihn auch mit irgendwelchen Geschichten aus ihrem Heimatland ablenken. Sie erzählte immer freudestrahlend von dem Land in welchem sie aufgewachsen war. Zwar wusste sie nicht mehr genau wie ihre Stadt, in welcher sie einst geboren worden war aussah, aber sie konnte sich noch daran erinnern, wie ihr erster Tag in der neuen Wohnung in Moskau war und wie sehr sie sich über ihr neues Zimmer gefreut hatte. Kader musste immer schmunzeln, wenn er sich eine kleine Inka vorstellte die aufgeregt mit ihrer Puppe durch die Wohnung flitzte und zwischen den Beinen ihrer Eltern quirlig hin und her huschte. Kader hatte das damals ebenfalls gern gemacht als Kleinkind. Natürlich ohne Puppe. Das komische an diesen Momenten war immer, dass sein Vater hinterher mit ihm gemeckert hatte und seine Mom ruhig mit ihrem Ehemann geredet hatte um ihn zu beruhigen, schließlich war Kader doch noch ein kleines Kind und er solle seinen Spaß haben. Seine Mutter, die jetzt nicht einmal mehr mit ihm reden wollte. Genervt klopfte Kader auf das Lenkrad und stellte die Musik lauter. Er hatte das Gefühl, dass all seine Gedanken von seiner Mutter beherrscht wurden. Immer wenn er nicht an sie denken wollte, dann tauchten Erinnerungen an sie auf und er musste wieder an die Zeit denken welche er eigentlich so sehr vermisste. Die Zeit in der alles noch gut gewesen war, bevor seine Mutter mit Jon schwanger war und alles den Bach hinunterlief.

,,Nein! Ich vermisse diese ... diese blöde Kuh bestimmt nicht!" Vielleicht wurde es ja wahr wenn er es nur laut aussprach? In dem ersten Jahr, als seine Mutter sich immer mehr zurückzog hatte Kader sich immer mehr bemüht, damit sie ihn sah. Im zweiten Jahr hatte er sie wüst beschimpft. Im dritten Jahr war Inka plötzlich da gewesen und sollte seine Mutter ersetzen und im vierten war er das erste Mal auf einer Party gewesen. Eine Party mit 13 Jahren! Ab da an ging es immer weiter hinab in diesen Strudel aus Hass auf seine Mutter. Partys, Prügeleinen und Mädchen, bestimmten sein Leben. Dabei war eigentlich alles nur die Schuld seines Vaters! Er hatte nie so enden wollen, hasste sich noch immer selbst für diese Sachen die er früher getan hatte, doch seine Eltern hatten ihm keinen anderen Weg gelassen. Kader war plötzlich so rasend vor Wut, durch die Gedanken an seine Eltern, dass er fast seine Einfahrt nach Hause verpasste. Stöhnend riss er das Lenkrad rum und bretterte in die Einfahrt. Wenn er sein Auto nicht so sehr liebte, dann würde er es einfach geradewegs in diese verdammte Villa krachen lassen. Was nützten ihm ein eigener Sportbereich –den er sowieso nicht nutzte oder ein verdammter Pool, wenn er dafür nicht die Liebe seiner Mutter bekam? Aufgebracht riss er die Haustür auf und wollte gerade nach Inka rufen, um endlich irgendwas zu schreien, als sein Bruder freudestrahlend auf ihn zu gerannt kam. Kaders Ärger verpuffte schlagartig und schnell schlang er die Arme um den kleinen Kerl und hob ihn hoch.

,,Mom kommt am Wochenende!" schrie der kleine Lockenkopf sofort glücklich und schaute Kader zufrieden an. Doch in Kader regte sich nichts, keine Freude, nur Eiseskälte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt und die Freude, welche er empfunden hatte, als er seinen kleinen Bruder entdeckt hatte, verpuffte, als wäre sie nie da gewesen.

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