Kapitel 14

Vier Tage, vier Tage in denen Live nicht mehr auf Arbeit gewesen war. Vier Tage in denen sie sich verkrochen hatte und die Wunden welche niemand sehen konnte geleckt hatte. Sonja hatte angeboten noch eine Woche zuhause zu bleiben, doch Live wusste, dadurch würde es nicht besser werden. Hätte sie sich diese Woche noch genommen, dann wäre sie nur weiterhin weg gelaufen. So bog sie geradewegs mit ihrem Fahrrad auf den Schulhof ein. Natürlich landeten sofort alle Blicke auf ihr, fragten sich unweigerlich ob sie erneut so ausrasten würde wie in jenem Video, welches gleich nach ihrem Anfall hochgeladen worden war und vermutlich die gesamte Schule gesehen hatte. Dabei hatten sie gar nicht gewusst, worum es eigentlich gegangen war, was sich eigentlich an jenem Tag zwischen Live und Alexa zugetragen hatte. Natürlich war das Video sofort entfernt worden, nachdem Sonja es entdeckt hatte und augenblicklich die Schulleitung angerufen hatte. Jedoch wusste man nicht, wo das Video denn noch hochgeladen sein könnte. Live wusste nun allerdings, dass Alexa von irgendwem etwas über ihre Vergangenheit erfahren hatte und das gefiel ihr ganz und gar nicht! Doch wer hatte Alexa die Schatten ihrer vergangenen Albträume mitteilen können? Außer ... aber das war nicht möglich, denn Sie waren nicht mehr hier, Sie hatten gar keine Möglichkeit die Außenwelt zu kontaktieren. Noch einmal strafte Live ihre Schultern, schob die Gedanken an Alexa, Sie, dieses Videos beiseite und stolzierte in das Schulgebäude, tat so als bekäme sie die vielen gaffenden Blicke nicht mit, als wäre nichts und als hätte sich ihr Leben am vergangenen Donnerstag nicht erneut grundlegend verändert. Zum Glück stellte sie fest, dass Kader nicht da war, vermutlich würde er noch einige Zeit im Krankenhaus verbringen müssen, was ihr ihre Arbeit nur noch mehr erschweren würde, denn er war einer der Gründe, weshalb sie nicht im Krankenhaus bei ihren Lieblingen erschienen war, doch vermutlich musste sie nun ihr schlechtes Gewissen deshalb in Kauf nehmen, nicht wissend, dass Kader schon eher entlassen worden war.

Kurz vor dem klingeln huschte aber doch noch ein dunkelhaariger Typ in den Raum und ließ sich neben sie gleiten. ,,Wir haben uns lange nicht gesehen." Das war alles was er sagte, bevor Kader das erste Mal seit einer Woche mehr am Unterricht als an ihr interessiert war. Live wusste nicht was sie davon halten sollte. Wollte er sie reizen? Wollte er sie zu irgendeiner Regung bringen, damit sie ihm ihre eigentlichen Gedanken erzählte? Während sie versuchte sich auf den Unterricht zu konzentrieren, sah sie doch immer wieder verstohlen zu Kader hinüber und verfluchte ihn insgeheim dafür, dass er so abweisend war, dass er nichts zu ihr sagte, denn ganz bestimmt hatte auch er das Video gesehen. Aus irgendwelchen ihr völlig unerklärlichen Gründen wollte sie wissen, was er dachte. Dabei wollte sie ihn doch eigentlich so sehr vergessen. Sein Gesicht war noch immer völlig zerschunden, sein Auge angeschwollen, die Lippe aufgeplatzt und seine Wange leicht blau-violett mit einem gelben Rand gekrönt. Live wollte wissen wie es ihm ging, ob er Schmerzen hatte und wie die Zeit im Krankenhaus war. Sie bereute es nun noch mehr nicht zur Arbeit gegangen zu sein. Nein, so war es besser. Du wolltest dich fern halten. Er ist viel zu gefährlich.

,,Was? Sagst du jetzt endlich was oder willst du wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben?" endlich erklang seine leise Stimme und Live hätte fast unweigerlich geseufzt doch stattdessen richtete sie nur langsam ihren Blick auf ihn. Blau traf auf Dunkelbraun und zwischen ihnen schwebten auf einmal so viele unausgesprochene Worte, ungesagte Gefühle und Gedanken. ,,Ich wüsste nicht, was ich dir zu sagen habe." Damit wendete sie sich wieder von ihm ab und hinterließ in Kader nur ein kaltes Gefühl. Es war besser für sie beide wenn sie sich nie zu nah kamen. Live war nicht mehr dazu fähig zu vertrauen und Kader schien langsam ihre sichere Wand welche sie um sich errichtet hatte zerbröckeln zu lassen.

So dumm! Er war so dumm! Was hatte er erwartet? Dass sie ihre Meinung über ihn und das was er war so plötzlich änderte? Er empfand schon beinahe Respekt für sie, weil sie trotz des Videos nicht zuhause geblieben war. Kader hingegen hatte sich heute früh von Inka aus dem Haus scheuchen lassen um auch nur einen Fuß vor die Tür mit seinem Aussehen zu setzten. Und das nur, weil er nicht wollte, dass Live ihn so sah, für den ihn alle hielten. Dabei war sie doch am Tag seiner Einlieferung dabei gewesen! Oh er war so verdammt dumm, sich zu wünschen, dass dieses Mädchen in ihm nicht den sah den sie sah. Seufzend richtete er seinen Blick wieder auf die Tafel und versuchte dem Gequasel des Chemielehrers zu folgen. Die Uhr an der Wand wurde mit jedem Ticken lauter und lauter und Kader wünschte sich endlich wieder weg zu kommen. Er wollte Live fragen was am Donnerstag passiert war, wie es dazu kam, dass sie ihre Fassung verloren hatte, doch er wusste, dass er sie dadurch erst recht verlieren würde. Zudem wollte er nicht, dass sie ihn wieder abwies und dumm anmachte.

Endlich klingelte es nach gefühlten Stunden und Kader konnte es kaum erwarten aus dem Raum zu verschwinden, doch irgendwas hielt ihn zurück. Vielleicht waren es seine eigenen Gedanken oder auch einfach der traurige Blick von Live, mit welchem sie aus dem Fenster schaute, als hätte sie jeden Funken, der sie an dieses Leben band verloren. Als hätte sie etwas gesehen oder auch erlebt, dass zu grässlich für ihre Seele war und sie zerbrochen hatte. Wie aus einem Reflex stand er plötzlich genau vor ihr. Kader schaute von oben auf sie hinab, versperrte ihr die Sicht hinaus in die Welt welche sie so zerstört hatte und begann zu sprechen: ,,Gib mir Nachhilfe!" Die Worte quollen aus ihm hervor, ehe Kader so recht wusste was er tat und auch an dem überraschten Gesicht von Live konnte er erkennen, dass sie mit allem aber nicht damit gerechnet hatte. Schon auf einen Protest, eine Beleidigung oder gar eine Abfuhr bereit sackten seine Schultern sofort wieder herunter. Als Live auf einmal mit einem leisen Flüstern: ,,O.k." antwortete. Seine Augen funkelten und in ihnen brach sich das Licht der Sonne, welche nun unaufhaltsam gegen die dunkeln Regenwolken kämpfte.

,,Ich könnte Dienstag und Donnerst." Wie betäubt lief ihr Gespräch weiter. ,,O.k., ich würde sagen wir treffen uns in der Bibliothek am Markt, dort könntest du dir auch noch andere Hilfe suchen, falls ich dir nicht helfen kann." Ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen, doch sie hatte ihn völlig in ihren Bann gezogen und vollkommen fasziniert musterte Kader jede ihrer Regungen, sowie das Glitzern in ihren sonst so ausdruckslosen und dunklen Augen. ,,Das klingt gut. Danke!" und bevor er oder Live noch etwas taten, was sie beide vermutlich später bereuen würden ging er und überließ Live erneut ihren Gedanken. Er hatte das Video nicht angesprochen und sie nicht seine Wunden. Vielleicht mussten sie gar nicht alles voneinander wissen und doch drehte sich Kader noch einmal im Türrahmen um und sah wie Live gedankenverloren der Sonne dabei zusah, wie sie versuchte die Oberhand gegen die Wolken zu behalten. Dabei entging ihm nicht das leichte Lächeln auf ihren Lippen und der neue Glanz, welcher in ihren Augen erschienen war. Nein, sie mussten nicht sofort alles voneinander wissen, doch irgendwann wollte er von sich behaupten können, dieses schöne und unbändige Mädchen, welches ihn anscheinend als einzige verstand zu kennen.

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