14. Kapitel
Harrys Pov
Einer der Polizisten brachte mich schließlich zur Polizeiwache. Beim Haus herrschte inzwischen ein komplettes Durcheinander oder eine Ordnung, die ich nicht durchschaute. Alle Gefangenen wurden befreit und ärztlich untersucht. Einige von ihnen, um die es wohl nicht all zu gut stand, wurden direkt mit Blaulicht zum nächsten Krankenhaus gefahren, während andere vor Ort versorgt wurden. Bei der Menge an Verletzten mussten die Sanitäter Prioritäten setzen. Gleichzeitig hatte ein Sondertrupp der Polizei angefangen das Haus auseinander zu nehmen.
Lottie war nach einem Gespräch mit einem Polizisten vom Grundstück gefahren. Ich hoffte, dass irgendjemand in den nächsten Stunden für sie da war. Es muss ein ziemlicher Schock sein, wenn man nichts ahnend nur seinen Bruder besuchen möchte und man plötzlich in so einem Chaos landet.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten wir endlich die Polizeiwache. Schweigend folgte ich dem Mann ins Innere des Gebäudes. Weit kamen wir jedoch nicht, da ich direkt im Empfangsbereich abgefangen wurde.
"Harry!" Ehe ich mich versah, befand ich mich in einer festen Umarmung. Meine Schwester drückte ihr Gesicht an meine Schulter und als ihr das ersten Schluchzen entfuhr, schlang auch ich meine Arme fest um sie. "Wir hatten solche Angst um dich und dachten ..."
"Gemma", unterbrach ich sie, bevor sie ihre Befürchtungen aussprechen konnte. "Es ist alles in Ordnung."
"Du warst schon immer ein miserabler Lügner." Statt noch etwas zu erwidern, platzierte ich einen Kuss auf ihren Kopf und drückte sie noch etwas enger an mich. Ich hatte in den letzten Tagen befürchtet, meine Familie vielleicht nie wieder zu sehen und war nun heilfroh, meine Schwester im Arm halten zu können.
"Wo ist Mum?", erkundigte ich mich. Als wäre das ihr Stichwort gewesen, kam in dem Moment genaue diese mit zwei Tassen in der Hand um die Ecke. Für einen Moment sah sie sich suchend um, dann fand sie uns und erstarrte für einen Augenblick, bevor sie die Tassen weg stellte und zu uns eilte. Ihre Arme schlangen sich fest um meinen Oberkörper, soweit es Gemma zu ließ. Aufmerksam musterte sie mein Gesicht, als würde sie nach Verletzungen suchen.
"Mein Baby", flüsterte sie und strich dabei schon fast vorsichtig über meine Wange. "Was ist passiert? Wo warst du? Hat man dir wehgetan?", wollte meine Mum besorgt wissen. Ich drückte sie noch enger an mich und versuchte sie so zu beruhigen.
"Es geht mir gut, mach dir bitte keine Sorgen. Das Ganze ist viel zu kompliziert, um es mal eben so zu erzählen. Lasst uns lieber zu Hause drüber reden." Nur widerwillig stimmten Gemma und meine Mum zu. Ich konnte verstehen, dass sie am Liebsten sofort alles wissen wollten, doch war dies nicht der richtige Ort, um alles in Ruhe zu erklären. Zudem war die Geschichte einfach zu kompliziert, als das man sie mal ebenso erzählen könnte. Bevor eine der beiden Frauen es sich anders überlegen konnte, kam einer der Polizisten auf mich zu und bat mich, ihm zu folgen. Ein letztes Mal drücke ich Gemma und auch mein Mum eng an mich, bevor ich mich löste. Ich schenkte ihnen noch ein kleines Lächeln, dann folgte ich dem Polizisten in einen kleinen Raum, der lediglich mit einem Tisch und einigen Stühlen ausgestattet war.
"Nehmen Sie doch Platz", bat der Mann mich. Ohne zu zögern kam ich der Aufforderung nach. "Möchten Sie etwas trinken?" Einen Moment überlegte ich, entschied mich dann aber dagegen, da ich nicht mehr Zeit als nötig auf dem Revier verbringen wollte. Der Polizist nahm mir gegenüber Platz. "Wäre es für Sie in Ordnung, wenn ich das Gespräch aufzeichne?" Ich nickte, woraufhin er aus seiner Jackentasche ein kleines Diktiergerät hervor holte und dieses anschaltete. "Fangen wir mit den Grunddaten an ... Wie ist ihr Name, wann sind Sie geboren und wo leben Sie?"
"Ich heiße Harry Edward Syles, bin am 1. Februar 1994 geboren und lebe in London, in einem Studentenwohnheim."
"Können Sie sich an den Abend der Entführung erinnern?"
"Teilweise." Abwartend sah mich mein Gegenüber an bis ich weitersprach. "Ich habe ihn in einem Club versehentlich erschreckt, weswegen ich ihm als Entschuldigung einen Drink ausgegeben habe. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten, dann haben wir gemeinsam den Club verlassen und sind ein Stück gelaufen. Ab dem Moment weiß ich nichts mehr, bis ich in dem Haus aufgewacht bin." Es fühlte sich so unwirklich an, über das Kennenlernen von Louis und mir zu sprechen. An diesem Abend hatte alles so harmlos angefangen und von einem Moment auf den Anderen, war dann plötzlich alles anders gewesen. Ob ich im Club wohl den richtigen Louis kennengelernt hatte oder war ich direkt dem Killer in die Arme gelaufen? Ab welchen Moment stand für Louis fest, dass er mich in das Horror-Haus bringen würde? Auf meine Fragen würde ich vermutlich niemals eine Antwort erhalten. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Louis sie mir beantworten könnte.
"Sie waren dort dann im Keller eingesperrt?", riss der Polizist mich aus meinen Gedanken.
"Nein, ich war in einem Raum im Obergeschoss ... Also zumindest die meiste Zeit. Zwischenzeitlich hat Louis mich auch mit in die anderen Stockwerke genommen."
"Warum hat er das getan?"
"Aus unterschiedlichen Gründen. Mal um mir einen Gefallen zu tun und mal um mich bewusst oder unbewusst zu quälen."
"Hat er sie verletzt?"
"Ja, aber nicht in dem Ausmaß wie die Anderen."
"Meine Kollegen haben das komplette Haus durchsucht. Alle Gefangenen hielten sich im Keller auf, warum Sie nicht?"
"Er meinte ganz am Anfang, dass ich anders sei, er aber noch nicht wüsste, was er mit dem Wissen anfangen solle."
"Hat er Ihnen vertraut?"
"Phasenweise."
"Und diese Phasen waren von seiner Laune abhängig?"
"Die Phasen und auch seine Laune waren davon abhängig, welche Person er gerade war."
"Wie meinen Sie das?"
"Es hat etwas gedauert, aber irgendwann habe ich das Gefühl bekommen, dass in ihm zwei komplett unterschiedliche Charaktere stecken. Während einer guten Phase hat Louis mir anvertraut, dass er Erinnerungslücken hat, die teilweise mehrere Tage betreffen und die immer häufiger auftauchten. Ihm ist bewusst, dass er zwei Leben führt, aber ändern kann er daran nichts. Ein Teil von ihm wollte das Ganze beenden, doch ließ seine zweite Seite es nicht zu."
"Sie meinen, er ist psychisch krank?"
"Das ist zumindest meine Vermutung."
"Kann es denn auch sein, dass er Ihnen einfach nur etwas vorgespielt hat?"
"Nein, ich denke nicht. Es gab Moment, wo er komplett zerbrochen wirkte und mit sich selbst überfordert war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so ein innerliches Chaos vortäuschen kann."
"Was ist mit dem Mädchen, das bei Ihnen war, als wir ankamen?"
"Ein Kollege von Ihnen hat doch bereits mit ihr gesprochen."
"Das ist mir bekannt, dennoch möchte ich gerne Ihre Version hören."
"Ich weiß nur, dass sie Lottie heißt und die Schwester von Louis ist."
"Warum war sie dort? Hat sie etwas mit den Entführungen zu tun?"
"Sie wollte nach ihrem Bruder sehen, da er sich wohl einige Tage nicht gemeldet hat und ich bin mir ganz sicher, dass sie nicht einmal etwas von Louis Taten geahnt hat. Es war auch das erste Mal, dass ich sie dort gesehen habe. Von meinem Zimmer aus konnte ich die Auffahrt sehen, also hätte ich mitbekommen, wenn sie während meiner Anwesenheit schon häufiger dort gewesen wäre. Außer Louis hat Niemand das Grundstück betreten oder verlassen." Bedächtig nickte der Polizist, der mir bisher nicht seinen Namen verraten hatte. Seine Bedenkzeit nutzte ich, um ebenfalls eine Frage zu stellen. "Besteht die Möglichkeit, dass ich Louis sehen kann?"
"Sie wollen Ihren Entführer sehen?", hakte mein Gegenüber überrascht nach. Leicht nickte ich, bevor ich weitersprach.
"Wie ich bereits gesagt hatte, gibt es zwei Louis und ich habe einfach das Gefühl, dass ich ihm irgendwie helfen muss ... auch wenn ich es vielleicht gar nicht kann oder es sich als Fehler herausstellen wird."
"Na schön, ich gucke, was sich machen lässt. Ich würde mich dann bei Ihnen melden. Für heute wäre das auch erstmal alles. Fahren Sie nach Hause, verbringen Sie etwas Zeit mit Ihren Liebsten und versuchen Sie das Erlebte irgendwie zu verarbeiten. Wenn Sie dabei Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne, dann kann ich Ihnen einige Ansprechpartner heraussuchen."
"Danke", erwiderte ich, wobei ich bereits aufstand. Der Polizist tat es mir gleich und begleitete mich noch zurück zu meiner Familie, wo er sich dann verabschiedete.
"Alles in Ordnung?", versicherte sich Gemma direkt. Mit einem möglichst glaubwürdigen Lächeln nickte ich und zog sie in eine kurze Umarmung. Ich könnte versuchen mit dem ganzen Thema abzuschließen und wieder mein altes Leben zu führen, aber dafür müsste ich Louis vergessen. Vielleicht wollte ich Louis aber auch gar nicht vergessen ... oder konnte es eventuell auch gar nicht mehr.
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