Wunderfluch (Teil 3)
„Valon", wiederholte er deswegen mit leiser Stimme. „Du bist ein Kind."
„Ich bin fähig", erwiderte der Angesprochene und kam vollends in das Wohnzimmer geschlendert. Er blickte an den Meuchelmörder vorbei in die Ferne und schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein, dennoch sprach er weiter: „Und ich habe dich gefunden."
Etwas knisterte in seiner Hand und er ließ einen Zettel zu Boden fallen. Chester erkannte seine eigene Handschrift und wusste, dass dies die Botschaft war, durch die er von Valon überhaupt erst erfahren hatte. Der Assassine machte keine Anstalten, ihn aufzuheben und sah stattdessen in Valons farb- und ausdruckslose Augen, die ihn zwar ansahen, aber nicht musterten. Überhaupt wirkte dieser Junge sehr seltsam, und das, obwohl Chester schon einige seltsame Menschen kennengelernt hatte, von denen er selbst an oberster Spitze stand.
„Und wie hast du das gemacht? Beweise mir, dass du wirklich der bist, für den du dich ausgibst."
„Das ist das Haus von Lynn. Deiner verstorbenen Verlobten. Es war demnach unschwer herauszufinden, wo du dich aufhalten würdest", erklärte Valon geistesabwesend und strich mit den Händen über die Rahmen der Spiegel, beinahe schon ehrfürchtig, als würde er so etwas zum ersten Mal sehen. „Ich habe die Zusammenhänge hergestellt, dass du, Metus, wahnsinnig wurdest, nachdem Lynn ermordet aufgefunden wurde. Das würde nun wirklich jeder schaffen", fügte er anschließend mit einem spöttischen Unterton in der Stimme hinzu und wandte sich von dem Spiegel ab. Stattdessen ging er nun zu dem Sofa und ließ sich darauf nieder, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und legte das Kinn auf die Kuppen seiner Mittelfinger.
Chester ließ sich in den Sessel ihm gegenüber gleiten, darauf achtend, dass der raue Stoff seine Wunden nicht berührte. Falls Valon dies auffiel, gab er keinen einzigen Ton von sich. Er schien generell nicht der Redseligste zu sein und Chester räusperte sich anschließend. Es ärgerte ihn, dass Valon die Sache mit Lynn so schnell herausgefunden hatte, denn er hatte geglaubt, niemand würde nach über fünf Wintern diesen Zusammenhang mehr ziehen. Aber das bewies ihm, dass dieser Kerl vor ihm nicht zu unterschätzen war, auch wenn er ziemlich exzentrisch anmutete.
„Gut. Du kannst dir sicherlich denken, wieso ich dich aufgefordert habe, mich zu finden", fing Chester schließlich an.
„Du suchst jemanden", meinte Valon und seine farblosen Augen wanderten an den dunklen Adern auf und ab. „Jemanden, der dir hilft."
„Aleko", sagte der Assassine nur.
„Der verschwundene Kronprinz von Volcanius. Ein Magier. Interessant." Valons Miene veränderte sich leicht und er zog die Stirn in Falten. „Ich suche ihn ebenfalls."
„Dann passt es doch perfekt!" Chester stand vorsichtig auf und ging zu Valon. „Du suchst ihn, ich suche ihn... lass ihn uns zusammen suchen."
„Und was bekomme ich?", fragte Valon sofort und der Assassine wurde hellhörig. Er kannte solche Art von Verhandlungen genau und er erkannte, dass Valon ahnte, in was für einer schwierigen, verzwickten Lage er sich befand. Auch wenn er jung war, schien Valon ein hohes Maß an Intelligenz zu besitzen.
„Was willst du denn?", brummte Chester und verschränkte die Arme vor der Brust. Valon senkte den Kopf und fing an, an seinen Fingern zu knibbeln, bis sie anfingen, zu bluten. Chester wurde langsam ungeduldig und schnalzte mit der Zunge, als Valon sich endlich dazu erbarmte, ihm mitzuteilen: „Schutz."
„Schutz?", wiederholte der Assassine irritiert. „Wozu brauchst du denn Schutz? Vor ein paar Schlägern auf der Straße?"
„Nein." Valon schien keinen Spaß zu verstehen und seine Stimme klang vollkommen ernst. Er sah erneut hoch und Chester erkannte den leichten, bläulichen Schimmer in seiner Iris, der jedoch nur ganz schwach zu erkennen war.
„Ich bin... ein Halb-Elf."
„Ich erkenne einen Halb-Elfen, wenn ich vor einem stehe", schnaubte der Wahnsinnige aus. „Und du bist keiner."
Das stimmte. Valon besaß nicht die typische Haarfarbe, diesen seltsamen, violetten Stich, die spitzen Ohren oder die leicht mandelförmigen Augen. Zudem wirkte er eher wie ein verloren gegangener Junge, wie er mit den blutigen Fingern auf dem Sofa saß mit Haaren, die ihm in die Augen fielen.
„Meine Eltern waren beide Halb-Elfen", erklärte Valon mit glasigem Blick. „Ich bin ein Halb-Elf, der als Mensch geboren wurde."
Chester war recht unzufrieden mit der Antwort.
„Muss ich das verstehen?", fragte er deswegen ziemlich taktlos.
„Nein", war Valons Antwort dazu. „Aber ich bin noch viel mehr."
Der Assassine wurde hellhörig. Da schwang etwas in Valons Tonfall mit, das Chester neugierig werden ließ und er verengte die Augen misstrauisch zu Schlitzen.
„Was bist du denn noch?"
„Ich bin..." Valon biss sich einen Hautfetzen ab und spuckte ihn dann auf den Boden, „...ein Alchemist."
Chesters Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Alchemist?", echote er, dann legte sich ein gequältes Grinsen auf seine Lippen. „Es gibt keine Alchemisten mehr im Land der Draconigena. Sie wurden alle ausgerottet."
Der angeblich menschliche Halb-Elf stand auf und schlenderte zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und blickte hinaus. Seine Antwort dauerte lange und der Wahnsinnige stieß einen tiefen, lauten Seufzer auf, um seiner Ungeduld Platz zu machen.
„Ich lerne noch", antwortete Valon schließlich. „Von der großartigen Camille."
Chester hatte weder etwas von einer Camille noch von einer großartigen Camille gehört. Doch für Valon schien sie der größte Schatz zu sein, denn als er den Namen ausgesprochen hatte, hatte der Junge nur gehaucht, voller Ehrfurcht, als habe er Angst, ihren Namen zu beschmutzen, oder als sei er gar unwürdig, ihn auszusprechen.
„Also, dir bringt irgendjemand Alchemie bei?", hakte Chester schließlich nach, auch wenn er es nicht wirklich glauben konnte. Seinem Wissen nach war Alchemie so hochkompliziert, dass nur die wenigsten fähig waren, sie auch tatsächlich anzuwenden. Valon kramte in einer seiner vielen Taschen herum und förderte eine kleine Phiole zutage, in der eine klare Flüssigkeit schwamm. Chester beobachtete ihn dabei genau, wie Valon den Verschluss löste und anschließend einen kleinen Schluck davon nahm, ehe sie wieder in seiner Manteltasche verschwand.
„So in etwa", antwortete dieser schließlich und der Assassine rollte genervt mit den Augen. Er hatte es mit Degen und Furax ausgehalten, doch dieser Valon war nun wirklich eine ganz andere Nummer.
„Wie bist du eigentlich hier reingekommen?", wollte er wissen.
Als Antwort hielt Valon nur einen Dietrich hoch, der im Schein der Sonne silbrig glänzte. Der Assassine nickte, obwohl sein Gegenüber dies nicht sehen konnte, dann spürte er, wie sich ein weiterer Schmerz in seinem Rücken langsam anbahnte. Er presste die Kiefer aufeinander und wandte sich von Valon ab, versuchte, seinen Schmerz nicht allzu deutlich zu zeigen.
„Ich kann es verlangsamen."
Valons Stimme drang an seine Ohren und der Wahnsinnige hob den Kopf leicht an, um ihm zu bedeuten, dass er zuhörte. Endlich ließ der Junge von dem Fenster ab und kam zu ihm herüber geschlendert. Währenddessen nahm er einen weiteren Schluck aus seiner kleinen Phiole und kramte mit der anderen zeitgleich mit einer Hand in einer anderen Tasche herum, förderte ein weiteres Glasfläschchen mit tiefgrüner Flüssigkeit zutage.
„Dreh dich um", befahl er mit leiser Stimme und wartete.
Chester beäugte die Substanz erst, doch mit einer weiteren Schmerzenswelle ergab er sich schließlich und wandte Valon seinen bloßen, blutigen Rücken zu. Der angebliche Alchemist tröpfelte ein wenig der grünen Flüssigkeit auf Vesanias zugekniffene Augen und im nächsten Moment entfuhr Chesters Lippen ein kleiner Schrei; mit einem Schlag schienen seine Schulterblätter zugefroren zu sein. Es war so kalt, dass es schon wieder brannte und der Assassine schnappte sich eines der kleinen Kissen und biss hinein, denn sonst wäre sein von Schmerzen gepeinigtes Brüllen wohl bis ans andere Ende der Stadt zu hören gewesen.
Wäre er in der Lage, sich noch irgendwie zu bewegen, dann würde er Valon wohl auf der Stelle umbringen. Aber so konzentrierte er sich auf die Schmerzen, versuchte, ruhig zu atmen und spürte, wie ihn erneut dicke Schweißperlen auf die Stirn traten, vor lauer Anstrengung, die er seinem so oder so schon geschwächten Körper gerade zumutete.
Und dann verflog der Schmerz und hinterließ nur ein dumpfes, betäubtes Pochen. In Chesters Körper löste sich sämtliche Anspannung und der Assassine nahm das durchgesabberte Kissen aus dem Mund, atmete mehrmals tief ein und aus, nur, um festzustellen, dass er keinen Schmerz mehr spürte, selbst den von Vesania ausgehend nicht, und sich so fühlte, als wäre er gesund.
Der Wahnsinnige sah sich nach Valon um, der in der Zwischenzeit in die Küche gegangen war und dort sämtliche Schränke durchsuchte. Chester stand auf und fühlte sich wie neu geboren: Seine Muskeln gehorchten ihm aufs Wort, er bewegte sich so geschmeidig wie früher und nichts erinnerte ihn mehr daran, dass er sich vor wenigen Augenblicken noch vor kaltheißen Schmerzen gekrümmt hatte.
„Was... was hast du getan?", wollte er wissen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Valon öffnete derweil eine hölzerne Schatulle und fand ein paar altbackene Kekse dort liegen, doch das schien ihn nicht weiter zu stören, denn er nahm sich einen und biss sofort hinein.
„Es betäubt", erklärte er schließlich. „Lahmgelegt. Damit breitet es sich nicht so schnell aus." Seine farblosen Augen fixierten Chester, während er langsam und bedächtig kaute. Ein paar Krümel hafteten an seinem Kinn und der Junge wischte sie mit einer Bewegung des Handrückens weg.
„...und wie lange hält es?"
Valon zuckte mit den Schultern. „Ein paar Stunden, mehr nicht."
Nur ein paar Stunden. Wenn Chester also nicht weiterhin eingeschränkt und lange genug am Leben bleiben wollte, wäre es klug, sich mit Valon zusammenzuschließen. Er richtete sich auf und kam mit selbstbewussten Schritten in die Küche hinein, während Valon sich einen weiteren Keks schnappte.
„Gut... Du willst Schutz... und ich brauche deine Fähigkeiten", fing der Wahnsinnige langsam an und schnappte Valon den Keks im Vorbeigehen aus der Hand. Valon sah ihm nach, dann nahm er sich einfach einen neuen. Ziemlich pflegeleicht, dieser Junge, befand Chester, während er das kleine Gebäckstück in der Mitte zerbrach und auf die beiden Hälften starrte.
„Ich glaube, wir können ins Geschäft kommen. Wenn du mir hilfst, Aleko zu finden."
„In Ordnung. Schutz gegen Tränke und Suche", fasste Valon nickend zusammen. Chester blickte ihn an; auch wenn Valon noch ein großes Geheimnis für ihn darstellte, so mysteriös und seltsam, wie der Kleine sich benahm, so hatte er doch bewiesen, dass ein sehr großes Potential in ihm schlummerte, das keineswegs verschwendet werden sollte. Der Assassine nahm sich vor, Valons Fähigkeiten so lange für sich zu nutzen, bis er sie nicht mehr benötigen würde und er sich Valons Person entledigen würde können. Der Junge mochte sich einiges einreden und vorstellen können, aber der schlaksige Assassine selbst wusste, dass ein überschätztes Selbstbewusstsein jedermanns Fall sein konnte.
Chester biss in eine seiner Kekshälften; sie schmeckten schal und nur noch wenig nach Vanille und die salzige Luft hatte sie trotz der hölzernen Schatulle ziemlich durchgeweicht. Dennoch, zum ersten Mal aß der Meuchelmöder ohne bedeutsame Schmerzen und er genoss es sichtlich.
„Wir sollten woanders hingehen", meinte Valon schließlich, leerte die Schatulle aus und klemmte sie sich unter dem Arm. „Wenn ich dich finden konnte, kann das jeder."
Chester musste zugeben, dass an der Sache was dran war und er nickte. Es war sowieso besser, sein Versteck regelmäßig zu wechseln, auch wenn an diesem Haus, dem Haus seiner ehemaligen Verlobten, so viele Erinnerungen dran hingen, dass es ihm schwer fiel, es einfach wieder zu verlassen.
„Ich hole Kosmos und Gwenny", meinte er schließlich, ehe er an der Tür noch einmal kurz innehielt. „Und wohin gedenkst du zu gehen?"
„Zu mir nach Hause", erwiderte Valon gedankenverloren. Er fragte nicht einmal nach, was es mit den Tieren von Chestern auf sich hatte und schien sich an ihnen auch nicht wirklich zu stören. Dem Assassinen konnte es nur recht sein, momentan war er nicht in der Stimmung, sich irgendwelche doofen Kommentare über seine Tochter anhören zu müssen...
„Ins Haus der Alchemisten."
Valon sah es nicht mehr, doch Chester rollte mit den Augen. Der Junge dachte tatsächlich, dass an diesem Alchemisten-Unsinn irgendetwas dran war... Und vielleicht war es das sogar wirklich, denn als was sonst konnte dieser seltsame Trank bezeichnet werden, der ihm sein Leben gerade ungemein erleichterte, wenn nicht als alchemistischer Trank?
Der Assassine nahm sich dennoch vor, vorsichtig und aufmerksam zu sein – er hatte Valon gerade erst kennengelernt und schaffte es noch nicht, den Kleinen vollständig einzuschätzen, dafür schien er zu viele Facetten eines Charakters zu besitzen. Doch er würde ihm helfen, seinen alten Freund zu finden und das war momentan das einzige, was zählte.
Chester musste diesen Wunderfluch loswerden, koste es, was es wolle!
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