Wunderfluch (Teil 2)

Der schlaksige Mann blieb an der großen, grob gezimmerten Holzwand stehen, an der sich sämtliche Steckbriefe, Bekanntmachungen sowie Arbeitsangebote tummelten. Sein eigenes, wahnsinnig grinsendes Gesicht starrte ihm entgegen – auf seinen Kopf waren zehntausend Goldstücke ausgesetzt und normalerweise würde Chester jetzt vor Stolz die Brust rausdrücken und sich imaginär und physisch auf die Schulter klopfen. Stattdessen glitten seine Augen beinahe schon desinteressiert über die immens hohe Summe und suchten nach andern Anhaltspunkten, die ihn weiterbringen könnten. Selbst Alekos Gesicht blickte ihm entgegen, schlecht gezeichnet und nicht im Entferntesten seine Schönheit einfangend, dazu war die Belohnung lächerlich niedrig angesetzt – der Magier verstand es, sich unauffällig zu verhalten und als gefahrlos zu gelten. Eine Sache, die Chester niemals im Leben hinbekommen würde, selbst wenn er es sich vornähme.

Wenn er so darüber nachdachte, dann waren er und Aleko im Grunde genommen vollkommen unterschiedliche Personen; sein Freund floh lieber, anstatt zu kämpfen, brachte es nicht übers Herz, jemanden umzubringen, machte sich nichts aus seinen großartigen Kräften... Chester hingegen wollte immer mehr Macht besitzen, er wollte, dass ihn die gesamte Welt kannte und man voller Ehrfurcht über ihn sprach. Es war schon verwunderlich, dass sich die beiden Männer stets so gut verstanden hatten, allerdings sagte man ja auch, dass sich Gegensätze anzogen – und wahrscheinlich brauchte Chester jemanden, der nicht dem Wahnsinn komplett verfallen war. Genauso, wie Aleko jemanden brauchte, der ihn dazu brachte, sein vollstes Potenzial auszuschöpfen.

Argh, bei Cataphractes, wie hatte es der Magier geschafft, so lange ohne ihn zu überleben? Wenn er Aleko fand, dann würde er ihn dahingehend regelrecht ausquetschen müssen. Ein frischer Wind kam auf und Chester erschauderte leicht. Die Winter in Amphitrite waren oft recht mild, doch die kalte, nach Salz schmeckende Luft, die vom Diamantmeer herüberwehte, tat ihr Übriges dazu. Chester schmeckte den Wind, ließ die minimalistischen Salzkristalle auf seiner Zunge zergehen und stierte auf das zugenagelte Brett, ohne wirklich zu lesen, was auf den ganzen quer durcheinander gewürfelten Blättern stand, während die Menschen an ihm vorbeigingen, hin und wieder anrempelten, sich hastig entschuldigten, nur, um anschließend weiterzuhuschen, zurück in ihre behaglichen Wohnzimmer mit dem prasselnden, Wärme spendeten Feuern.

Chester wusste, dass er noch stundenlang hier stehen und nichts tun konnte, zudem kündigte sich ein weiteres Ziehen in seinen Schulterblättern an. Er sollte nach Hause gehen, sich auf das Sofa setzten und warten, bis auch dieser Anfall abgeklungen war. Und gleichzeitig wäre es so einfach, hier, auf offener Straße zusammenzubrechen, entdeckt zu werden, nur, um anschließend zu hoffen, dass seinem Leben ein schnelles Ende gesetzt werden würde...

Der Schmerz kam unerwartet. Chester zog die Luft durch die Zähne ein und taumelte einen Schritt nach vorne, stützte sich mit beiden Händen an dem Brett ab. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er, standhaft zu bleiben, atmete kontrolliert ein und aus, während Vesania einen erneuten Schwall Blut über seinen Rücken schickte. Während er so dastand, keuchend und mit dicken Schweißperlen auf der Stirn, fiel ihm plötzlich ein kleiner Zettel auf, der mitten in dem Gewimmel hing, leicht zu übersehen und schwer zu finden. Einzig und allein zwei Zeilen waren in unordentlicher Schrift dahingekritzelt worden, nichtssagend und gleichzeitig aussagekräftiger, als alle anderen Botschaften gemeinsam.

Finde jeden.

-V.

Chester wagte es, eine Hand zu lösen und nach dem Zettel zu greifen. Er riss ihn von dem kleinen Nagel ab und hielt ihn sich anschließend mit zitternden Fingern vor die grauen Augen. Hatte... hatte Vesania ihn indirekt auf diese Botschaft aufmerksam gemacht? Jetzt, wo Chester sie in den Händen hielt, schien der Schmerz wieder abzuflauen und der Wahnsinnige schaffte es, sich ein bisschen besser zu konzentrieren.

Diese Nachricht... diese stumme Aufforderung, diesen Menschen irgendwie zu kontaktieren, ihn zu testen... die sprang dem Assassinen förmlich an wie ein wildes Tier mit ausgefahrenen Krallen. Chester ahnte, dass hinter diesen zwei Worten eine wohlüberlegte Tat steckte; er schaffte es, zwischen den Zeilen zu lesen.

Ich finde jeden. Auch dich, wenn du es willst. Überzeuge dich von meinen Fähigkeiten.

Das war es, was Chester aus der Botschaft herauslas. Und gleichzeitig schaffte er es, einen kleinen Teil des Charakters zu erspähen, der hinter diesem geheimnisvollen V steckte: Ein selbstsicherer Mensch, intelligent und weitsichtig. Er hatte diese kleine Nachricht mit Absicht so gestaltet, damit sie die normalen Menschen gar nicht wahrnahmen; er wollte Kunden haben, die eine andere Sicht auf die Welt besaßen, dazu fähig waren, hinter den Schleier aus Seidenstoffen und Schminke zu blicken, die einfach anders gestrickt waren, in ihrem Verhalten, ihrer Tätigkeit und ihren Gedanken. Kein Adeliger oder einfacher Bauer würde mit dieser Notiz wirklich etwas anfangen können; zwei Zeilen, noch nicht einmal die Kontaktdaten angegeben, was sollte dieser Unsinn? Da erlaubte sich doch sicherlich jemand einen Scherz... Doch Chester ahnte, dass genau das die Prüfung war – nur ein Mensch mit ähnlicher Intelligenz würde auf die Idee kommen, was genau dieser V hier eigentlich verlangte. Diese Nachricht konnte schon wochenlang hier hängen und noch nie war sie jemanden aufgefallen, noch nie war jemand hinter die Botschaft gekommen, die hier drin steckte.

Und ein Mensch, der es schaffte, so sehr die Aufmerksamkeit eines wahnsinnigen Assassinen zu fesseln und diese wohlüberlegte und gut durchdachte Botschaft zu hinterlassen... der musste tatsächlich fähig sein.

Zumindest fähig genug, ihm bei seiner Suche zu helfen.

Doch zuerst würde Chester diesen oder diese V kontaktieren; er würde ihn oder sie herausfordern, mit einer Aufgabe, die einiges an Talent und Intelligenz benötigte... Der Assassine schnappte sich einen der Nägel und ritzte sich damit die Fingerkuppe auf. Mit der blutbenetzten Spitze schrieb er auf die Rückseite der kleinen Notiz zwei Zeilen, die sich unwesentlich von den anderen unterschieden. Es war genau das, was V lesen wollte.

Finde mich.

-M.

Chester hängte den Zettel wieder zurück und hämmerte einen der Nägel in das Holz. Niemand schien ihn zu beobachten, keiner schien sich darum zu kümmern, was er gerade machte... So kurzsichtig, wie die Menschen durch die Welt rannten, wunderte es den Assassinen allerdings kaum.

Er trat langsam von dem Brett zurück und merkte, wie sich ein kleines Grinsen auf seine Lippen schlich. Es war ein seltsames Gefühl, zu lächeln, denn das hatte er über Monate hinweg nicht mehr getan. Doch jetzt, wo er einen Lichtblick hatte, einen Hoffnungsschimmer, endlich voranzukommen... Da schien es einfach aus ihm herauszubrechen und ein leises Kichern, hörbar nur für seine eigenen Ohren, drang aus seiner Kehle.

„Danke, Vesania", wisperte er mit glänzenden Augen.

Es dauerte eine Woche, bis er gefunden wurde.

Chester saß im Schneidersitz zwischen zwei Spiegeln und hatte sie so gedreht, dass er seinen Rücken betrachten konnte. Nun fing er langsam an, sich aus seinem Mantel und blutverkrusteten Hemd zu schälen, biss die Zähne fest aufeinander, als der harte Stoff mit einem klebrigen Ratschen von seinem Rücken gelöst wurde, die schorfigen Wunden aufriss und sich ein neuer Schwall Blut und Wundflüssigkeit über seinen Rücken ergoss.

Chester knüllte das Hemd zusammen und stemmte die Hände auf seine Knie, legte den Kopf in den Nacken und atmete mehrmals tief durch, bis der Schmerz halbwegs aushaltbar war. Die kühle Luft, die an seinen geschundenen, oberen Rücken drang, tat gut und linderte das höllische Brennen ebenfalls ein bisschen.

Doch als der Assassine die Augen öffnete, musste er sich beherrschen, nicht einfach umzukippen.

Er hatte sich tagelang nicht getraut, einen Blick auf Vesania zu werfen, denn es schockierte ihn immer noch zutiefst, was er dort sah:

Ihre Augen, früher blutrot, weit geöffnet und sich bewegend, waren geschlossen, kaum mehr als zwei schwarze Linien auf seinen Schulterblättern. Ihre Augenlider waren nur noch große, rote, blutige Flecken, aus den Augenwinkeln floss die zähe Flüssigkeit, tropfte stetig auf den Boden. Von den magischen, tätowierten Augen aus zogen sich etliche rote und schwarze Adern über seinen kompletten Rücken, kletterten an seinen Schultern hoch, bis sie die Arme erreichten und wanderten bis hin zu seinen Ellenbogen. Chester hielt ein paar Augenschläge die Luft an; die schwarzen und roten Adern waren stetig weitergewachsen, nahmen seinen Körper Schritt für Schritt in ihren Besitz.

Der Wahnsinnige hob einen Finger und legte ihn auf eine der schwarzen Adern an seinem Oberarm; es brannte und pochte wie wild und sofort drückte sich seine Haut an der Stelle ein, platzte auf und Blut lief heiß über seinen Arm. Chester nahm den Finger wieder herunter, starrte auf den blutigen Fetzen, den er mit abgerissen hatte, dann legte er den Kopf in die Hände und versuchte, sein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen.

...er würde sterben.

Wenn er Aleko nicht so schnell wie möglich fand, dann würde das, was von Vesania übrig geblieben war, ihn Stück für Stück weiter umbringen, bis er irgendwann seinen Schmerzen erlegen war oder einfach zu viel Blut auf einen Schlag verlor. Selbst jetzt schimmerte seine Haut bereits gespenstig weiß hervor, wirkte wie ein dünnes Stück Papier, das bei der kleinsten Bewegung zerreißen konnte.

Der Assassine hatte einige Mittelchen ausprobiert, Kräuter und Tinkturen, doch keine einzige hatte seine Beschwerden für länger als wenige Stunden schmälern können. Chester hatte sich oft gefragt, wie es wohl war, verflucht zu sein, und begrüßte die eigene Erfahrung, die er damit machte, nicht besonders.

Am Anfang war es nur der Wunsch gewesen, Vesania zurückbekommen, doch inzwischen ging es um sein eigenes Leben. Gegenüber diesem Wunderfluch fühlte sich der Wahnsinnige vollkommen machtlos und schwach und Chester spürte, wie zum zweiten Mal in seinem Leben eine panische Angst in ihm heranwuchs.

Wirre Pläne schlichen sich in seinen Kopf; einen einfachen Magier auffinden und diesen um Hilfe bitten, auf dem Schwarzmarkt nach Heilung suchen, diesen seltsamen Wunderheiler, der angeblich existierte zu finden... Pläne, die ihn einfach nicht weiterbringen würden, denn bis er einen von ihnen in die Tat umgesetzt hatte, wäre er längst gestorben.

Er war Nukritas nur knapp entkommen und damals war er verdammt stolz auf sich und sein Durchhaltevermögen, seine Stärke, gewesen. Wie hatte er damals auch ahnen können, dass das, was ihn zu einer der mächtigsten Personen des Landes gemacht hatte, ihn nun langsam töten würde?

„Alles besitzt einen Nachteil...", wisperte er vor sich hin und schloss die Augen. Er keuchte schwer und spürte, wie ihn seine Kräfte immer mehr und mehr verließen, physisch, wie auch psychisch. Es gab keine Worte, seine beinahe aussichtslose Situation zu beschönigen und Chester rechnete sich im Kopf aus, dass er wohl bis Ende des Monats die Pflanzen von unten betrachten könnte. Und selbst wenn er Aleko fand... es war nicht gesagt, dass sein Blut auch wirklich half. Vielleicht benötigte er auch das Blut der Magierin, von dem Vesania ursprünglich stammte, vielleicht war alles, was er sich in seinem Wahn erdacht hatte, vollkommen nutzlos und es gab nichts und niemanden im gesamten Land, der ihn von seinem Leiden erlösen könnte...

Der Assassine schnappte erstickt nach Luft.

Er hatte nie Angst vor dem Tod gehabt, einfach aus dem Grund, weil er seinen Fähigkeiten so weit vertraut hatte, dass er immer überleben würde, egal, in was für einer Situation er stecken würde. Und fünfundzwanzig Jahre seines Lebens hatte diese Philosophie wunderbar funktioniert, doch jetzt stand Chester einem Gegner gegenüber, dem er nichts entgegen konnte; und genau deswegen wuchs die Angst vor dem Tod in ihm beinahe ins Unermessliche.

Chester hob langsam den Kopf.

Er war ein Kämpfer.

Ein Assassine.

Einer der besten des Landes.

Wenn er sich diese Worte sagte, spürte er, wie ein kleiner Funken Hoffnung zurückkam und er griff nach einer der neuesten Tinkturen, die er sich auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte; angeblich sollte sie helfen, das Schließen von Wunden zu beschleunigen und der Assassine tat ein wenig auf seine Handfläche und sah dann in den Spiegel, um sie an der richtigen Stelle auftragen zu können.

Und da sah er den Mann.

In Anbetracht dessen, dass Chester vor sich nur ein Spiegelbild des Spiegels hinter ihm sah, ging er stark davon aus, dass der Mann tatsächlich vor ihm in einiger Entfernung im Hausflur stand.

Langsam ließ der Assassine die Hand sinken und beugte sich ein wenig zur Seite, linste über den hölzernen, angebrochenen Rahmen hinweg und erkannte in der Tat die seltsame Person im Halbschatten auf den Dielen stehen. Er hatte sich mit Absicht ein wenig seitwärts gestellt, damit der Spiegel hinter Chester sein Bild einfangen konnte und der Wahnsinnige blinzelte mehrmals, wusste einen Augenblick lang nicht so recht, wie er reagieren sollte. Dann, ganz langsam, ließ er die Hände sinken und rappelte sich auf; er gab ein schlechtes Bild ab, blutend, schwitzend und keuchend, dennoch besaß er noch genug Kraft, um sich gegen den dünnen Kerl, der sich im Dunkeln abzeichnete, zu verteidigen.

„Wer bist du?", verlangte er mit brüchiger Stimme zu erfahren und tastete gleichzeitig mit der rechten Hand nach dem Dolch, den er immer bei sich trug. Die Person trat ein paar Schritte vor und legte den Kopf fragend schief; der offene Mantel war viel zu groß und schleifte über den Boden, war über und über mit aufgenähten Taschen besetzt. Darunter erkannte Chester ein einfaches., weißes Hemd mit einer dunkelblauen Weste, eine dunkle, weinrote Stoffhose sowie lederne Stiefel, deren Absätze vom Staub draußen ganz dreckig waren. Bis auf den Mantel und die unordentlichen, nach allen Seiten abstehenden, schwarz-blauen Haare könnte man ihn für einen wohlhabenden Mann halten und etwas an dessen Haltung sagte Chester, dass er es hier mit keinem gewöhnlichen Menschen zu tun hatte.

„Ich bin Valon", erwiderte die Person, dessen Stimme ungewöhnlich hell klang. Chester kniff die Augen leicht zusammen, erkannte die weichen Gesichtszüge des jungen Mannes und begriff, dass dieser nicht einen Tag älter als sechzehn Winter sein konnte. Doch das war es nicht wirklich, was den Wahnsinnigen gerade beschäftigte.

Valon.

V.

Das hier war der... Junge, der die Nachricht an das Brett genagelt hatte, auf die er, Chester, reagiert hatte. Zugegeben, der Assassine hatte sich unter dem mysteriösen Mann jemand wesentlich anderen vorgestellt, aber allem Anschein nach musste er damit arbeiten, was er bekam. Was natürlich nicht hieß, dass er es auch tun würde, doch nachdem der Fremde sich vorgestellt hatte, entspannten sich Chesters Schultern ein wenig. 

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