Wunderfluch (Teil 1)

Vesania weinte.

Blutige Tränen flossen Chesters Rücken herab und der Assassine war versucht, sich den Mantel und das Hemd vom Leib zu reißen, um seinen brennenden Schmerzen Einhalt gebieten zu können. Eine Blutlache bildete sich bereits unter seinen Füßen und der Wahnsinnige hielt den Kopf gesenkt; seine Haare hingen ihm ins Gesicht, Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er verkrampfte die Finger so stark ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ein einsames Tropfen war der einzige Laut in der sonst so unnahbaren Stille, in der Chester bereits seit Stunden saß.

Der Assassine gab einen tiefen Seufzer von sich und stützte den Kopf in die Hände. Die Schmerzen pochten unaufhörlich in seinen Schulterblättern und strahlten durch seinen gesamten Körper, doch viel unerträglicher war die Stille in seinem Kopf. Seit er seine magische Tätowierung beinahe vollständig verloren hatte, waren Monate vergangen und sein Zustand hatte sich immer weiter verschlechtert: Die ehemaligen Augen Vesanias hatten sich in Wunden verwandelt; Wunden, die niemals mehr verheilten.

Aus dem einstigen Wunder war ein Fluch geworden, der Chester auf Schritt und Tritt begleitete.

Der Wahnsinnige hob den Blick leicht an und starrte auf die hölzerne Tischplatte, auf der sich blutige Krähenfüße abzeichneten; Gwendolyn saß an einem Ende und putzte ihr Gefieder; das Rascheln der Federn gesellte sich zu dem stetigen Tropfen hinzu und bildete eine Geräuschkulisse, die Chester unter normalen Umständen genossen hätte.

Von draußen schien Sonnenlicht in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer herein; Sonnenflecken tanzten auf dem azurblauen Teppich umher, warfen lange Schatten der Möbel an die Wände und verwandelten die salzige Luft in ein stickiges Etwas. Chester betrachtete die im Sonnenlicht sichtbaren Staubflusen, die langsam zu Boden glitten, dann stand er vorsichtig auf, seinen Rücken nicht allzu sehr belastend.

Das Blut und der Schmerz waren erst später gekommen, mitten auf seiner Reise. Plötzlich hatte sich ein roter Fluss über seinen Rücken ergossen und der Assassine war gestrauchelt und anschließend von Goldania gefallen. Das sonst so ruhige Pferd war panisch geworden, hatte geweitete Nüstern und einen angstvollen Blick gehabt, sodass Chester sie schweren Herzens freigelassen hatte, um sich ein neues Pferd zu suchen, das durch seine körperlichen Umstände nicht in die Flucht geschlagen wurde.

Außerdem hatte Vesania die gold-braune Stute gehasst und ihr zu Ehren hatte der Assassine sich einen schwarzen Hengst besorgt, dessen kurzes Fell im Licht bläulich funkelte. Einzelne weiße Haare wirkten wie der Sternenhimmel und Chester hatte ihm daher den Namen Kosmos gegeben.

Vesania wäre damit zufrieden gewesen.

Kosmos war ein Felsschmetterer, eine in Volcanius gezüchtete Rasse, deren Körperbau stämmig und im Gegensatz zu normalen Pferden recht klein war. Ihre Hufen waren mit Eisen beschlagen, da sie in den Bergwerken halfen, die wertvollen Erze aus dem Stein zu hauen und besaßen die Eigenschaft, reine Arbeitstiere zu sein, weswegen man sie nicht als reines Haustier halten sollte. Auch jetzt trabte Kosmos in dem weiten Garten umher und erkundete seine Gegend; er war ein junges, neugieriges Pferd, die lang, schwarz-wallende Mähne wehte im Wind hinter ihm her und seine Muskeln traten deutlich unter der Haut hervor, fest und kräftig, perfekt, um lange Strecken galoppieren zu können.

Chester liebte ihn und das stetige Huftrappeln beruhigte ihn auf eine Art, die er nicht wirklich beschreiben konnte. Blutige Fußstapfen folgten ihm, während der Assassine zum Fenster ging und eine der Vorhänge zur Seite schob. Auf den Straßen Amphitrites herrschte reges Treiben; Adelige in ihren bunten, pompösen Kleidungsstücken schlenderten an seinem kleinen Haus vorbei, unterhielten sich angeregt und winkten einander, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Die etwas weniger farbenfroh gekleideten Arbeiter begaben sich zu ihrem Arbeitsplatz oder kamen wieder, um sich auszuruhen. Einige eher unauffällig gekleidete Menschen gab es ebenfalls auf den Straßen – Händler aus anderen Königreichen, Besucher oder einfach nur Menschen, die in der Ersten Großen Stadt versuchten, Fuß zu fassen. Amphitrite war die Große Stadt im Land der Draconigena und beinahe jeden zog es dorthin. Chester fuhr sich durch seine braunen Haare mit dem leicht grünlichen Stich; er kam gebürtig aus Silva, doch er hatte dem großen Wald nie wirklich etwas abgewinnen können und seitdem er sechs oder sieben Jahre alt war, hatte er sein Zuhause in Amphitrite gefunden.

Es war ein seltsames Gefühl, wieder zurück zu sein, in dieser pompösen Stadt, in der jeder nach Aufmerksamkeit schrie, ob mit einem schrecklichen Kleid oder einem lächerlichen Namen.

Oben auf der gewaltigen Stadtmauer kauerten die Gargoyle-Statuen und während Chester zu ihnen hinaufblickte, überlegte er sich unfreiwillig, wie es Tenebrae wohl ging. Die Gargoyle-Dame, die mitnichten mit hoher Intelligenz gesegnet war, hatte sich Degen angeschlossen, dem hochnäsigen Schwertkämpfer aus Furax' Bande. Tenebrae selbst war tiefschwarz gewesen, mit wundervollen, rötlichen Augen, wohingegen diese Gargoyles auf der Mauer eher granitgrau anmuteten und lange nicht die gewaltige Größe Tenebraes erreichten. Chester bezweifelte allerdings, dass diese Statuen wirklich echt waren und er lehnte den schmerzenden Kopf gegen den Fensterrahmen und schloss die grauen Augen, um nachdenken zu können.

Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Aleko nicht mehr in Amphitrite war; die Stadt war groß und unübersichtlich, der perfekte Ort, um sich auf lange Dauer zu verstecken.

Und genau hier lag allerdings auch das Problem: Chester fand seinen alten Freund nicht. Er war der festen Überzeugung gewesen, ihn dort zu finden, wo er sich immer aufhielt, nämlich dem kleinen Haus auf dem Schwarzmarkt des Grausamen, doch Aleko hatte dieses Haus bereits vor Jahren zurückgelassen und sich eine neue Bleibe gesucht.

Chester war bei seiner Ankunft in Amphitrite bewusst geworden, dass er seit über fünf Jahren die Stadt nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte; in gewisser Weise hatte sich nichts verändert, dennoch fühlte er sich wie ein Fremder und Einheimischer zugleich. Und vor fünf Jahren hatte er seiner alten Gilde den Garaus gemacht und angefangen, sich einen Namen im Land der Draconigena zu machen. Wenn Jerry ihn jetzt sehen würde, verletzt und würdelos, so würde er ihn wohl auslachen und sich fragen, wie jemand wie er ihn jemals hätte besiegen können.

Ein erneutes Stechen fuhr durch seinen Rücken. Chester krümmte sich leicht zusammen, spürte, wie der Schorf von den Wunden abplatzte und sich neue Flüssigkeit auf seinem Rücken ausbreitete, von seinem Hemd und dem Mantel aufgesogen wurde. Der Assassine krallte sich an dem Fensterrahmen fest und atmete mehrmals tief ein und aus. Die Schmerzen kamen immer phasenweise, hielten sich ein paar Stunden, ehe sie abflauten und ihm ein wenig Ruhe gönnten. Chester hatte das Gefühl, dass Vesania versuchte, trotzdem mit ihm zu kommunizieren und er stellte sie sich vor, wutentbrannt und verletzt, weil er sie einfach nicht mehr wahrnehmen konnte.

Chester wünschte, er könnte sich entschuldigen. Ihr sagen, dass er das alles nicht gewollt hatte und er sich die alte Zeit mit ihr zurückwünschte. Er wollte ihre Stimme hören, das schrille, kreischende Lachen sowie die sanften, beruhigenden Worte. Er wollte ihre Anwesenheit spüren, ihre Macht, die Fähigkeiten, mit denen sie ihm immer geholfen hatte... In seinem Kopf herrschte diese unglaubliche Stille, die ihn noch wahnsinniger werden ließ, als er so schon war.

Chester spürte den harten Boden unter seinen Knien. Der Assassine hatte gar nicht bemerkt, wie er zusammengesunken war, doch nun lehnte er den Rücken gegen die Wand und zog die Beine an, umschlang sie mit seinen Armen, bettete die Stirn auf den Knien. Er holte mehrmals tief Luft, um sein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen und versuchte, sich zu konzentrieren. Langsam flaute der Schmerz in seinem Körper ab und der Assassine griff über sich, bekam die Fensterbank zu fassen und hievte sich langsam hoch. Noch immer herrschte reges Treiben auf den Straßen Amphitrites, die Nacht würde erst noch kommen und Chester beschloss, rauszugehen, um Nachforschungen über Aleko anzustellen.

...jetzt, wo Vesanias Tränen erst einmal versiegt waren, würde er ein paar Stunden Ruhe haben. Chester fuhr sich einmal über das unrasierte Gesicht; der dicke, braun-rötliche Flaum bedeckte seine Wangen und das Kinn und der Wahnsinnige erkannte sich, wenn er in einen Spiegel guckte, selbst nicht mehr wieder. Durch die ständigen Anfälle schlief er nur wenig, dicke, graue Augenringe zierten sein Gesicht, die Wangen waren eingefallen und er war ziemlich blass um die Nase geworden. Seine Haare hatte er bei seiner Ankunft in der Stadt mit seinem Dolch gekappt und nun standen sie wild und unordentlich in alle Richtungen ab.

...niemand würde in ihm den wahnsinnigen Assassinen erkennen, der er in Wirklichkeit war.

Allerdings... seit Vesania weg war, konzentrierte der Mann sich nur darauf, sie wieder zurückzubekommen und Chester war aufgefallen, dass er schweigsamer und ernster geworden war.

Hast du deinen Wahnsinn verloren?, hatte Degen ihn spöttisch gefragt, als Chester damals aufgewacht war. Allem Anschein nach lag in den höhnischen Worten mehr Wahrheit, als sich der Assassine eingestehen wollte und er biss sich auf die Lippen, bis sie beinahe blutleer waren.

Er würde wieder normal werden, ganz der Alte.

Das schuldete er zumindest Vesania, wenn schon nicht sich selbst.

Chester knöpfte seinen Mantel zu und öffnete die Haustür, um in das bunte Treiben Amphitrites einzutauchen. Er schlenderte über die breite Hauptstraße, die Hände tief in den Taschen, den Kopf gesenkt; ein paar Stadtwachen kamen mit klappernder Rüstung an ihm vorbei, würdigten ihm jedoch keinen einziges Blickes, sondern unterhielten sich weiterhin über ihre bevorstehenden Patrouillen.

Seit in Collis zwei Schattentänzer aufgetaucht waren, hatten die anderen Großen Städte ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Chester persönlich hatte dank seiner wirren Gedanken um seine magische Tätowierung nicht allzu viel davon mitbekommen, doch irgendwo in seinem Hinterstübchen hatte er dieses Ereignis mit Eve in Verbindung gesetzt.

Eve.

Seine alte Freundin aus der Gilde. Die Frau, die er eigentlich noch töten wollte, doch durch Furax und dem Treffen mit dem Lichtritter war er nie so weit gekommen, seinen Plan in die Tat umsetzen zu wollen. Der Assassine dachte an die schwarzhaarige Frau, die ihm eine gute Partnerin gewesen war. Intelligent, stark, mutig... Eve war eine perfekte Assassinin gewesen und er hatte sie dazu ermutigt, sich durchzusetzen. Ja, wäre er nicht gewesen, dann wäre sie wahrscheinlich jetzt schon tot, stattdessen streifte sie als Schattentänzerin durch das Land und hatte sich bereits einen Namen gemacht.

...Chester fragte sich, ob er sie besiegen könnte, wenn er sie jetzt treffen würde. Anfangs hatte er keine Zweifel gehabt, doch inzwischen konnte er es nicht sagen; er würde es herausfinden müssen, eines Tages, sobald er sich wieder auf dieses eigentliche Ziel konzentrieren konnte.

Doch zuerst brauchte er Aleko.

Der Assassine hielt vor einer Taverne inne und legte den Kopf in den Nacken, um das Schild lesen zu können.

Die singende Perle, stand dort in großen, geschwungenen und goldenen Lettern. Es war eine Taverne, in der Aleko nur zu oft Gast gewesen war, um irgendwelchen armen Adeligen das Gold aus der Tasche zu ziehen, um sich seinen luxuriösen Lebensstil leisten zu können. Doch Chester war schon einmal drin gewesen und der Wirt meinte, er habe diesen seltsamen Mann mit rotem Mantel und Zylinder schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Chester fragte sich, was Aleko dazu veranlasst hatte, seine alten Gewohnheiten einfach abzulegen, bis ihm einfiel, dass er seinen alten Freund im Endeffekt gar nicht mehr kannte.

Fünf Winter waren eine verdammt lange Zeit und er selbst... er selbst hatte sich stark verändert, wieso sollte also sein bester Freund in der Zeit festgehangen sein?

Langsam ging der Assassine weiter, vertieft in seine Gedanken.

Damals, in Volcanius, hatte sich sein Plan so verdammt einfach angehört, im Sinne seiner verrückten Gedanken, von denen er keinen einzigen wirklich hatte klar fassen können. Er war verwirrt gewesen, von Schmerzen gepeinigt und teilweise ohne Vesania regelrecht orientierungslos und aufgeschmissen, sodass er erst bei seiner Ankunft in der Ersten Großen Stadt an eventuelle Schwierigkeiten gedacht hatte.

Aleko war in den Sachen, die er konnte, unübertreffbar und wenn er nicht gefunden werden wollte, dann würde Chester wohl ganz Amphitrite auf den Kopf stellen können, und würde trotzdem keinen Erfolg haben. Der Assassine war bereits ziemlich schnell auf die Idee gekommen, dass er wohl fremde Hilfe in Anspruch nehmen müsste, um den Magier zu finden.

Doch bisher hatte Chester nicht einmal den Ansatzgefunden, um eine ausreichend fähige Person zu engagieren, und das, obwohl manmeinen könnte, in einer so großen Stadt wie Amphitrite müsste es jemanden geben.

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