Sigra'Kivi (Teil 3)
Tralir hatte ihr erklärt, dass der Kopfschmuck so etwas wie ein Rangabzeichen im Clan war. Es war eine einfache Regel: Je beeindruckender die Kopfbedeckung, desto höher der Rang. Lafadiel schien demnach einer von der hohen Sorte zu sein; allerdings war das auch ohne den Kopfschmuck erkennbar, immerhin stand er vor der Herrin des Clans Wache.
Eve stellte sich vor ihn hin und erinnerte sich an Tralirs kleinen Unterricht. Sie neigte den Kopf und sagte: „Eve begrüßt Lafadiel im Namen Cataphractes. Eve wünscht, mit Herrin Nyrociel zu sprechen."
Es war seltsam, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Doch Lafadiels Gesichtszüge, die zuvor noch so grimmig drein geschaut hatten, glätteten sich ein wenig und er antwortete: „Eve respektiert die Gepflogenheiten des Clans. Das kommt Eve zugute." Seine Aussprache der menschlichen Sprache besaß einen starken Akzent, doch er schien sie gut genug zu sprechen. Anschließend hob er die Zeltklappe ein wenig und rief etwas auf Elfisch in das Zelt hinein. Eine raue Stimme antwortete ihm und der Elf warf einen Blick auf die Assassinin.
„Eve darf eintreten. Nyrociel empfängt Eve."
Erneut senkte die Schattentänzerin den Kopf, um ihren Dank auszudrücken. Die Wildelfen waren ein respektvolles Volk und verlangten, dass man sich ihnen anpasste. Doch bevor die Assassinin den Eingang passieren konnte, erhob sich einer der Wölfe und huschte vor ihr hinein. Eve blieb stehen und hielt den Atem an, als der gewaltige Wolfskörper so nahe an ihr vorbeiging, dass sie die Kälte, die von dem Wesen ausging, spürte. Einen Geruch besaß der Wolf nicht, was die Schattentänzerin leicht irritierte, doch den Gedanken schnell wieder verwarf; es gab Wichtigeres, um das sie sich zu kümmern hatte.
Das Zelt war mit etlichen weiteren Fellen ausgelegt. In einer Ecke türmten sich besonders viele von ihnen, sodass Eve annahm, dass dort die werte Herrin des Clans ihre Nachtruhe hielt. Ansonsten war es sehr warm in dem großen Zelt und nur wenig befand sich in seinem Inneren; nur ein kleines, selbst gebautes Regal aus schmalen Brettern, auf dem sich etliche, kleine Tonschalen türmten, deren Inhalt Eve nicht erahnen konnte.
Und auf dem Boden, direkt auf einem besonders prächtigen, schneeweißen Fell, in dem einzelne Haare wie Diamanten glitzerten, stand eine junge Elfin, die Eve gerade Mal bis zur Brust reichte.
Da es verhältnismäßig warm in dem Zelt war, trug Nyrociel nur ein einfaches Lederkleid, dessen Säume mit braun-weiß gesprenkeltem Fell verziert waren. Es ließ ihre Arme frei, an dessen Handgelenken etliche Armbänder aus Holz, Knochen und anderen Materialien klimperten und rasselten. Um ihren Hals ruhte eine Kette, gefertigt aus kleinen Schädeln, deren dunkle Augenhöhlen Eve alle anzustarren schienen. Um ihre Hüfte gebunden trug Nyrociel einen langen Gürtel, an dem sich etliche kleine Ledersäckchen tummelten, deren Bedeutung Eve nicht wusste und ihre schmalen Beine waren mit etlichen Lederbändern umwickelt, die die Füße vollkommen ummantelten und somit eine Art Schuh bildeten. An ihren Fußknöcheln hingen ebenfalls einige kleines Kettchen, gefertigt aus einem Material, das Eve nicht identifizieren konnte, das sich jedoch dunkel von der hellen Haut abhob und einen wertvollen Eindruck machte. In einer Hand hielt die Wildelfin einen hohen Stab, an dessen Ende der Knochenschädel eines Wolfes thronte – anhand der Größe schätzte Eve, dass es sich nur um ein Jungtier handeln konnte. Der Stab selbst schien aus einem Ast geschnitzt worden zu sein, mit etlichen Runen und Symbolen verziert, sowie behangen mit Perlenketten aus Holz und Stein, weiteren, abgebrochenen Knochenstücken und glänzenden Federn. In den Augenhöhlen des Wolfsschädels schienen Rubine eingesetzt worden zu sein, die im schwachen Licht des Zeltes immer wieder funkelten und dem toten Tier einen lebendigen Ausdruck verliehen. Die Zähne des Schädels waren mit Tierblut angemalt worden, sodass der Stab ein wildes Aussehen erhielt und Eve war sich sicher, sollte sie den Stab anfassen, würde Schreckliches mit ihr geschehen.
Nyrociels Kopfschmuck war so beeindruckend, wie der Rest von ihr: Federn, ungefähr zwei Fuß lang, erstreckten sich aus einem knöchernen Haarkranz über ihren Kopf, bis auf den Rücken. Die Federn besaßen eine faszinierende Maserung von schwarz, weiß und braun und einen kurzen Moment dachte Eve an Phönixe, denn nur diese Wesen schienen solch wundervolle Federn zu besitzen. Doch woher sollte Nyrociel Phönixfedern haben, vor allem, um was für eine Art des seltenen Tieres handelte es sich hierbei? Der Haarkranz selbst sah wie ein Diadem aus; direkt in der Mitte thronte ein großer, weißer Stein, der perlmuttfarben schimmerte und in dem Eve ihr eigenes Spiegelbild erblickte, so glatt war dessen Oberfläche. Von diesem knöchernen Reif herab hingen lange Perlenketten, dessen Material Holz, Stein und irgendein wertvoller Edelstein zu sein schien und die sich immer wieder abwechselten, sodass sie zu den gewaltigen Federn farblich perfekt abgestimmt waren. Zwischen den ganzen Perlen, Knochen und Federn blitzten Nyrociels hüftlange Haare hervor; so golden wie das Herbstlaub der Bäume, in sanft geschwungenen Wellen und in einer Fülle, die Eve beinahe schon neidisch werden ließ.
Im Gegensatz zu den hellen Haaren und ihrer bleichen Haut hatte Nyrociel sich mit Kohle die Augen so schwarz umrandet, dass sie herausstachen wie bei einem Totenkopf. Ihre blutrot geschminkten Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln und ein wenig Blut bröckelte von ihrer Gesichtsbemalung ab, als sie mit kräftiger, selbstsicherer Stimme anfing in Menschensprache zu sprechen: „Nyrociel heißt Schattentänzerin Eve in dem Unüberwindbaren Gebirge willkommen. Eve hat einen weiten Weg auf sich genommen, um mit Nyrociel zu sprechen."
Ihre Stimme war rau und heiser, so, als habe sie zu viel geschrien, und sie brachte die Assassinin dazu, eine Gänsehaut zu bekommen. Ihr Blick huschte kurz zu dem Eisklauenwolf, der sich auf den Boden zu den Füßen der Herrin gelegt hatte und Eve keinen Moment aus den Augen ließ. Nyrociel bemerkte ihren Blick und legte dem Wolf eine Hand auf den Kopf, direkt zwischen den Ohren.
„Der Wolf heißt Nanuq. Wenn Nyrociel nichts befiehlt, wird Nanuq Eve nichts antun."
Endlich schaffte es Eve, dass ihre Zunge Worte formte. Sie verneigte sich vor der Herrin des Clans und antwortete: „Eve dankt Nyrociel für die Gastfreundschaft."
Nyrociel rief etwas auf Elfisch nach draußen, dann bedeutete sie Eve, sich hinzusetzen. Obwohl sie so klein und jung war, strahlte sie eine Autorität aus, die die Schattentänzerin von sich selbst nur zu gut kannte. Die Elfin war schon früh die Herrin ihres Clans geworden, von ihrem Volk erwählt, und das nur dank ihrer besonderen Fähigkeiten. Eve konnte sich nicht vorstellen, was genau Nyrociel so unglaublich gefährlich machte, aber sie beschloss, es lieber nicht herauszufinden.
Sie setzte sich auf eines der Felle und genoss es, dem langen Stehen endlich ein Ende zu bereiten und ihre Beine ausruhen zu können. Nyrociel wartete einen Moment, bis eine weitere Elfin das Zelt betrat. In ihrer Hand trug sie eine hölzerne Schale und während sie Eve neugierig betrachtete, stellte sie kleinere Schälchen, gefüllt mit Nüssen, Beeren und getrocknetem Fleisch vor ihr auf den Boden, anschließend reichte sie ihr einen dampfenden Holzbecher. Eve nahm ihn entgegen und sah zu, wie die Elfin Nyrociel ebenfalls einen reichte, sich so tief verneigte, dass ihre Stirn beinahe den Boden berührte und dann wieder hinaushuschte.
„Eve muss erschöpft sein", fing Nyrociel an und ließ sich in einem Schneidersitz nieder. Ihren Stab legte sie neben sich ab, doch der Assassinin fiel auf, dass sie ihn immer greifen konnte, um sich zu verteidigen. „Eve kann sich bedienen, wenn Eve hungrig ist."
Eve war in der Tat hungrig, aber sie schluckte den Hunger herunter und meinte: „Nyrociel ist zu freundlich. Aber..." Sie suchte einen Augenblick lang nach den richtigen Worten und nahm einen Schluck des Getränks. Es war trinkbar heiß, wärmte ihren immer noch kalten Körper und schmeckte nach Kräutern, die sie noch nie vorher gekostet hatte, jedoch nicht schlecht. „...Tralir erwähnte, dass Nyrociel Interesse an Eves Fähigkeiten besitzen könnte. Nyrociel hat bereits erkannt, dass Eve eine Schattentänzerin ist."
„Nyrociel erkennt vieles auf Anhieb", erwiderte die Herrin. „Eve kann Nyrociel in der Tat sehr nützlich sein." Die Herrin nahm ebenfalls einen Schluck, dann deutete sie mit einer Hand nach draußen. „Nyrociel beschützt die Halb-Menschen. Nyrociel hat dies zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Doch die Colliser töten Halb-Menschen immer weiter und das darf der Clan nicht zulassen. Nyrociel darf das nicht zulassen. Halb-Menschen verdienen ein Leben, wie alle anderen Wesen auch. Niemand sollte aufgrund der eigenen Existenz sterben und Nyrociel weiß, wie all diese Wesen ein besseres Leben erhalten können."
„Der Clan ist keine dauerhafte Lösung?"
„Nein." Nyrociel schüttelte beinahe schon traurig den Kopf. „Es gibt viel mehr Menschen als Elfen im Land. Nyrociel ist stark, aber die Stärke und Macht reichen alleine nicht aus. Nyrociel benötigt mehr Verbündete und auch Eve wird aus dem Plan Vorteile gewinnen können."
Eve runzelte die Stirn und rührte ihren Tee mit dem Finger um; ein paar Kräuter schwammen herum und wurden durch die Bewegung aufgewirbelt.
„Was ist der Plan?", wollte sie anschießend wissen.
Nyrociel berührte mit den Fingern den Stein in ihrem Diadem.
„Ein Herzstück des Weltenbaumes. Insgesamt gibt es fünf Stück, vier fehlen noch. Nyrociel ist sich sicher, dass alle Stücke den Weg zu Nyrociel finden werden. Und wenn sich alle fünf Teile vereinen, dann wird Arbor wieder auferstehen."
Eve kannte die Legende; jeder im Land der Draconigena hatte schon mal davon gehört, von dem untergegangenen Weltenbaum, der einst die Sechste Große Stadt dargestellt hatte, die Heimat der Andersartigen – bis die Magier und Alchemisten den Baum verflucht, ihm sein Herz entrissen und in fünf Teile gespalten hatten, die sich in dem gesamten Land verteilt hatten. Bisher hatte Eve dieser Legende nie viel Aufmerksamkeit geschenkt – sie war sich sicher gewesen, dass kein Fünkchen Wahrheit in ihr steckte, doch nach alledem, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte... Feyjassan, diese ganze Geschichte mit den alten und neuen Göttern... nun, sie war gewillter, Nyrociel zu glauben, als alles als pures Hirngespinst abzutun.
„Die Steine sind in alle Winde verstreut", meinte Eve. „Wie will Nyrociel sie alle finden?"
Bei Cataphractes, war es schwer, nicht in die alte Sprechgewohnheit zu fallen. Die Herrin des Elfenclans blickte an Eves Schulter vorbei nach draußen, ehe sie antwortete: „Nyrociel spürt es. Die Geister verraten es Nyrociel. Das Land verändert sich – alles verändert sich. Kein Halb-Mensch, kein Mutant und kein Magier wird noch viel länger als wenige Jahre warten – weniger als fünf harte Winter, anschließend werden alle Steine vereint sein. Mehrere Gruppen begeben sich bereits auf die Suche nach ihnen."
Die Geister sagten es ihr.
Wenn Eve Geister nicht mit eigenen Augen im Schattenreich gesehen hätte, hätte sie der Wildelfin wohl nicht geglaubt. Doch so beugte sie sich interessiert vor und fragte: „Nyrociel ist sich wirklich sicher? Fünf Winter? Das erscheint Eve als eine sehr kurze Zeit, die Umstände gravierend zu verändern."
„Fünf Winter", wiederholte Nyrociel bestimmt. „Nicht mehr. Nyrociel spürt die nahende Veränderung." Sie berührte ihren Stab mit einer Sanftheit, die Eve ihr gar nicht zugetraut hätte. Dann hob sie den Kopf und fuhr fort: „Eve kann Nyrociel helfen. Nyrociel spürt die gewaltigen Kräfte, die in Eves Körper schlummern. Eves Schatten zeigt in die andere Richtung, Eves Haut ist bereits ergraut... Eve hat viel Zeit im Schattenreich verbracht. Eve hat viel miterlebt... Der Schmerz in Eves Augen ist unübersehbar."
Eve zuckte vor Nyrociel zurück; die Wildelfin ließ sich nichts anmerken und fuhr mit den Fingern über die Federn ihres Stabs, fuhr die Konturen des Schädels nach und wisperte weiter vor sich hin: „Eve hat eine bestimmte Person verloren... Die Geister haben es Nyrociel verraten. Doch worauf sinnt Eve... auf Rache?"
„Eve... möchte zu den Zwergen wegen einer neuen Waffe..." Die Frage warf die Assassinin aus dem Gleichgewicht. Sie hatte sich noch keine wirklichen Gedanken darüber gemacht, wie sich ihre Zukunft weiter gestalten würde. Sie besaß keine Freunde mehr, keinen Lehrmeister, keinen Vater... Ihr einziges Familienmitglied war ihr größter Feind, doch der Kampf zwischen Licht und Schatten schien erst einmal eingestellt zu sein. In Collis hatte sie nur an ihre Flucht gedacht, doch jetzt... was wollte sie wirklich?
Diese Frage konnte die Assassinin selbst nicht beantworten.
„Wünscht sich Eve ein neues Heim? Ein Zelt, in dem Eve leben kann, in Sicherheit? Vielleicht wünscht Eve sich eine neue Gilde...", fuhr Nyrociel fort und schien eher zu sich selbst zu sprechen als zu der Assassinin.
Nie wieder fliehen müssen, sondern ein Leben wie damals in Amphitrite wieder aufnehmen. Unter Jerrys Führung war ihr nie langweilig gewesen, sie hatte genug Arbeit gehabt. Sie hatte es geliebt, Aufträge anzunehmen und auszuführen und jetzt, wo Nyrociel dies erwähnte... erkannte die Assassinin, wie sehr sie es vermisste, ihrem tatsächlichen Beruf zu folgen. Sie war Schattentänzerin geworden, um mehr Macht zu besitzen – diese Macht besaß sie nun, doch jetzt musste sie auch etwas daraus machen.
„Eve würde es niemals schaffen, alleine etwas aufzubauen", sagte die Schattentänzerin schließlich. „Nicht unter diesen Umständen."
Nyrociels Augen glitzerten auf. „Dann sollten Nyrociel und Eve die Umstände ändern. In Arbor wird Eve sich ein neues Leben aufbauen können. Doch dazu muss Arbor erst wiedererweckt werden."
Eve betrachtete den weißen, glänzenden Stein auf Nyrociels Haupt. Einer war schon mal da, auch wenn die Assassinin nur zu gerne nachfragen würde, wie die Elfin in den Besitz von ihm gekommen war. Sie blickte auf ihren Tee und sagte: „Eve wird helfen."
Ein weiterer Gedanke schlich sich in ihren Kopf und sie fügte schnell hinzu: „Wenn Nyrociel Eve... einen Gefallen tut."
„Einen Gefallen?" Nyrociel legte den Kopf schief. „Welchen verlangt Eve denn?"
„Das wird Nyrociel freuen." Eves Mundwinkel zuckten leicht. „Collis ist sehr geschwächt. Die Stadt hat Eve viel Böses angetan und Eve weiß, dass Nyrociel die Macht hat, sie endgültig zu zerstören."
Barry hatte in Collis einen guten Anfang gemacht – doch Eve wollte den Palast und alle in ihm befindenden königlichen Mitglieder brennen sehen. Sie wollte sehen, wie die Schneeflocke in ihre Einzelteile zerbrach, wie sich das sichere Gerüst langsam auflöste, bis nichts mehr übrig war, was an die einst so königliche Stadt erinnert hatte. Die Großen Städte kontrollierten und herrschten über das Land.
„Wenn die Großen Städte fallen", wisperte Eve und wusste genau, dass Nyrociel sie verstand. „Dann wird es viel einfacher sein, Arbor wieder auferstehen zu lassen."
„Nyrociel wird die Stadt angreifen", stimmte die Wildelfin schließlich zu. „Eve wird helfen."
„Zu gerne." Wenn sich Feyjassan noch in Collis befand... Eve hatte mit dem Mann noch eine offene Rechnung zu begleichen und sie schlug die Augen nieder. „Eve wird ihre Fähigkeiten gerne zur Verfügung stellen. Aber Eve braucht neue Waffen. Und Heilung." Sie deutete auf ihre verletzte Schulter.
„Das alles ist kein Problem", meinte Nyrociel. „Der Clan ist gut ausgerüstet."
Langsam stand die Wildelfin auf und ging in dem Zelt umher. Sie blieb vor dem Regal stehen und wählte mit Bedacht eines der Schälchen aus. „Nyrociel möchte, dass Eve anschließend nach Arensentia geht. Das gelbe Herzstück suchen."
„Eve wird vorher bei den Zwergen vorbeischauen. Eve hat da etwas zu erledigen." Sie hatte so oder so vorgehabt, sich Arensentia einmal anzuschauen. Armando hatte ihr von dem Königreich erzählt und sie wollte es ihm zu Ehren mit eigenen Augen ansehen. Dass Nyrociel sie dorthin schicken wollte, kam ihr also gar nicht mal so ungelegen.
„Natürlich." Nyrociel kam zu Eve und holte eine Fingerspitze der Kräuter heraus, ehe sie sie in Eves Tasse reinpustete. „Eve sollte trinken. Das hilft beim Wundheilen." Sie legte den Deckel auf das Schälchen und stellte es sacht in das Regal zurück. Eve starrte ihren nun veränderten Tee an, dann bat sie Lumen, auf sie Acht zu geben, ehe sie einen kleinen Schluck nahm.
Falls Nyrociel sie vergiften wollte, würde ihre Tätowierung sie sofort warnen.
Sicher, teilte Lumen ihr schließlich mit. Die Elfin versteht was von ihrem Handwerk.
Eve war sich sicher, dass ihr Handwerk eigentlich etwas ganz anderes war, aber sie entspannte sich ein wenig.
„Eve wird also nach Arensentia gehen. Hat Eve den gelben Stein gefunden, wird Eve zu Nyrociel zurückkehren", sagte die Herrin und ließ sich wieder in ihrem Schneidersitz nieder. „Bis dahin sollten die anderen Herzstücke ebenfalls angekommen sein."
Eve würde zu gerne nachfragen, warum sich Nyrociel in der Hinsicht so sicher war, doch die Elfin würde es wohl wieder auf ihre Geister schieben – und woher die das wissen wollten, war sowieso fraglich, weil Geister konnten zwar vieles, aber nicht in die Zukunft schauen. Eve musste sich folglich einfach auf Nyrociels Instinkte verlassen; sie bezweifelte, dass es in der kurzen Zeitspanne von fünf Wintern tatsächlich dazu kommen würde, den Weltenbaum von seinem Fluch zu befreien, doch die Assassinin verbot es sich selbst, zu weit zu denken; erst einmal würde sie diesen gelben Stein finden, wenn er überhaupt existierte, und dann konnte sie immer noch entscheiden, ob sie tatsächlich bei diesem wahnsinnigen Plan mitwirken wollte oder nicht. Doch Nyrociel war, egal ob verrückt oder nicht, eine wertvolle Verbündete, und Eve konnte es sich nicht leisten, es sich mit der Wildelfin zu verscherzen – sie hatte bereits ganz Collis gegen sich aufgebracht, die Elfen auf der Gegenseite zu wissen war dabei nicht hilfreicher. Außerdem...
Der Feind meines Feindes ist mein Freund, so ging doch dieses alte Sprichwort, nicht wahr?
Lumen gab nur ein Kichern von sich. Eve trank noch einen Schluck des Tees und sagte: „Dann wäre alles ja besprochen. Wird Eve eine Unterkunft bekommen?"
„Iseidha wird sich darum kümmern. Eve sollte die Elfin nach dem Gespräch darauf ansprechen."
Nyrociel betrachtete die Schattentänzerin mit einer seltsamen Miene. „Und Eve sollte sich ein wenig schonen."
„Das ist nur eine kleine Verletzung", winkte die Assassinin ab. „Das heilt wieder."
Nyrociels Lächeln war aufrichtig und zugleich traurig. „Eve weiß es nicht", stellte die Wildelfin aufrichtig verwundert fest. Die Schattentänzerin runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern.
„Eve weiß nicht, was Nyrociel meint. Wäre Nyrociel so gütig, Eve aufzuklären?"
Langsam kroch die Herrin näher zu ihr und griff nach ihren Handgelenken. Eve stellte den Becher auf dem Boden ab und ließ die Elfin gewähren. Misstrauisch zog sie die Stirn kraus, sagte aber kein Wort. Nyrociel fuhr über ihre Handinnenflächen, dann ließ sie plötzlich los und fummelte an ihrem Gürtel herum. Sie nahm ein Ledersäckchen hervor und ließ den Inhalt in ihre Handfläche purzeln – Eve erkannte, dass es sich um einen Haufen Knochen handelte, in denen etliche Symbole geritzt waren. Sie beugte sich weiter vor und war der festen Überzeugung, dass sie so etwas Ähnliches schon einmal gesehen hatte... nur wo genau, das wollte ihr nicht einfallen.
Nyrociel legte zwei der Knochen in die Mitte – einfache, platte Scheiben mit Symbolen, die Eve rein gar nichts sagten. Das eine sah wie eine Spirale aus, dessen Ende nach unten hin abknickte, das andere wie... eine Marionette? Die Schattentänzerin konnte es beim besten Willen nicht besser beschreiben.
Nyrociel nahm die restlichen Knochen in ihre Hand und schloss die Augen. Dann fing sie an zu sprechen; ihre Stimme verdunkelte sich, während die fremdartigen Wörter über ihre Lippen kamen.
Das hier war kein Elfisch mehr, das erkannte Eve sofort. Sondern eine ganz andere Sprache.
„Shumon Hrithen lilja'slin."
Dann warf sie ihre Knochen, die auf dem Fell um die beiden kleinen Scheiben verteilt blieben; einige Zeichen waren aufgedeckt, andere nicht. Nyrociel warf einen kurzen Blick drauf, dann sah sie hoch und blickte Eve direkt in die neugierig geöffneten, dunklen Augen.
„Sieben Monde", wisperte die Wildelfin.
„Was wird in sieben Monaten sein?", wollte Eve sofort wissen. So langsam wurde sie nervös, dank der ganzen Rätsel, in denen Nyrociel sprach. Die Wildelfin sammelte ihre Knochen in aller Ruhe wieder ein und verstaute sie in dem Ledersack. Dann kam sie wieder näher zu Eve und legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Bauch. Ihre Armbänder rasselten gegeneinander und die Elfin flüsterte mit Begeisterung in der Stimme: „Eves Nachkomme wird das Licht der Welt erblicken."
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