Sigra'Kivi (Teil 2)

Was Tralir mit Es dauert nicht lange tatsächlich meinte, war ein einwöchiger Ritt durch die hohen Schneemassen. Der Elf selbst ritt auf Vineeta, die mit den Bedingungen keinerlei Probleme zu haben schien, während Tango sich doch häufiger ausruhen musste, als es sonst der Fall gewesen wäre. Zwar waren Kresota dank ihres dichten Fells geeignete Kandidaten für das Leben in den Bergen, doch zwischen der zerklüfteten Landschaft und der unnachgiebigen Schneedecke hatten es selbst diese speziellen Pferde nicht einfach.

Tralir jedoch zeigte sich geduldig, machte häufig Pausen und schickte Vineeta mehrmals zum Jagen los, während er und Eve nebeneinander hergingen, ohne einem ersichtlichen Pfad zu folgen. Die junge Assassinin hatte es dank ihrer Schulter alles andere als leicht und wäre Lumen nicht gewesen, dann würde sie wohl ständig ausrutschen oder vor Anstrengung einfach zusammenbrechen.

Sigra'Kivi", erklärte Tralir ihr, während sie sich einen weiteren Berg hochkämpften, „liegt dort oben. Er ist unser Zuhause, bereits seit vielen Wintern. Die Geister haben Nyrociel dorthin geführt – ohne sie, hätte unser Clan es sehr schwer gehabt, zu überleben."

„Was bedeutet", Eve stützte sich an einem rauen Felsen ab und ein Schmerz schoss durch ihre verletzte Schulter, „Sigra'Kivi?"

Tralir verbesserte ihre elfische Aussprache und meinte dann: „In der Menschensprache so viel wie Versteinerter Baum."

Eve blieb stehen und hielt sich die Seite. Ihre Kondition war arg angegriffen und sie fühlte sich schwerfällig, solange sie mit ihrer Wunde zu kämpfen hatte. Tralir verband sie jeden Abend neu und gab ihr immer schmerzlindernde Kräuter zu trinken, doch dank ihrer Wanderung konnte der durchtrennte Muskel nicht richtig heilen. Eve hoffte, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen würde und Tralir hatte versprochen, dass sie sich im Clan definitiv besser darum kümmern könnten.

„Ich verstehe", keuchte sie. Die Luft hier oben war dünn, viel dünner als in Collis. Die Dritte Große Stadt war auf einer Berspitze erbaut worden, doch die Berge des Unüberwindbaren Gebirges gingen noch viel höher, viel weiter... beinahe schon wirkte es wie eine andere Welt. Wolken hingen am Boden, die Temperaturen fielen mit jeder Höhe, die sie passierten und der Schnee fiel unaufhörlich. Eve wusste, dass früher, als das Gebirge noch nicht weit erforscht gewesen war, viele hier oben gestorben waren, weswegen es den Beinamen Unüberwindbar bekommen hatte. Inzwischen gab es Tunnel und andere Wege durch das Gebirge, sodass man mit der in der Wüste liegenden Stadt Arensentia Handel betreiben konnte, doch niemand würde auf die Idee kommen, das komplette Gebirge raufzuklettern, nur, um anschließend auf der anderen Seite wieder runterzuklettern. Zu Collis selbst führte eine ausgebaute Handelsstraße, mitten durch den Berg hindurch und selbst diesen Weg hatte Eve damals als beschwerlich empfunden. Doch jetzt, ohne richtigen Pfad und mit der ständigen Gefahr, abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen, erschien ihr der Weg nach Collis wie ein Kinderspiel.

Und der Clan der Wildelfen lebte in diesem Gebiet. Eve fand es beeindruckend, dass sie unter diesen harten Bedingungen tatsächlich überlebten und in der Art und Weise, wie Tralir sich ohne große Schwierigkeiten über die ganzen Felsen und den Schnee bewegte, zeigte Eve, dass die Elfen sich an die Umstände ihrer Umgebung angepasst hatten – aber wer sein ganzes Leben in den Bergen herumkletterte, lernte eines Tages wohl auch, einen sicheren Stand zu haben.

Normalerweise, so hatte Tralir ihr erklärt, wäre er viel schneller unterwegs, indem er Abkürzungen benutzte, die für Tango und die verletzte, ungeübte Eve jedoch unpassierbar seien, sodass sie sich nun den etwas angenehmeren Wegen widmen mussten. Diese empfand die Assassinin zwar als nicht wirklich erholsamer, aber sie konnte sie gut vorstellen, was die Alternative war, deswegen verkniff sie sich jeglichen bissigen Kommentar, wenn Tralir sich über ihr langsames Vorankommen lustig machte. Sie war immerhin, trotzt ihrer immensen Macht als Schattentänzerin, in gewisser Hinsicht immer noch ein Mensch und keine überbegabte, talentierte Elfin, die ihr ganzes Leben damit verbrachte, Felsblock grau-braun von Felsblock braun-grau zu unterscheiden: Eve hatte die Orientierung schon lange verloren und sie hatte keine Ahnung, wie Tralir es schaffte, auf dem richtigen Weg zu bleiben, doch er schien gewisse Anhaltspunkte zu haben, die für die Augen der Assassinin (richtige wie auch tätowierte) vollkommen identisch aussahen.

Dazu war es bitterlich kalt und selbst Lumen war so konzentriert, ihr zu helfen, dass sie ganz vergaß, sich über die ganzen unerfreulichen Umstände, wie sonst auch immer, zu beschweren. In solchen Momenten begriff die Assassinin, dass es so viel gab, was sie nicht meisterte – früher hatte Eve sich für mächtig und regelrecht unbesiegbar gehalten, als Assassinin schien sie keine Grenzen gekannt zu haben. Dann, als Schattentänzerin, war ihre Ausbildung hart gewesen, sie hatte ihren Körper bis zur Erschöpfung angetrieben und erkannt, dass sie nur weiterkam, wenn sie hart an sich selbst arbeiten würde – und jetzt wusste sie, dass sie in so viel mehr Dingen Erfahrungen sammeln musste, dass sie im Endeffekt nur einen kleinen Bereich an Talenten absicherte und in anderen Dingen kläglich versagte.

Dieser Marsch durch die Berge zeigte ihr auf, dass sie keineswegs so großartig war, wie sie früher immer gedacht hatte.

Tralir kletterte über einen Felsen hinweg und half Eve dabei, ebenfalls nach oben zu kommen. Anschließend sorgten die beiden dafür, dass Tango den gefährlichen Sprung ebenfalls schaffte und die Assassinin lehnte sich gegen ihr treues Pferd, um einen Augenblick Luft zu schnappen.

„Wir sind da", erklärte der Elf neben ihr fröhlich und deutete mit der Hand in die Ferne.

Vor Eve breitete sich ein Plateau aus, von Schnee bedeckt und sich in gefühlt unendliche Weite ausdehnend. In der Richtung, in die Tralir deutete, erkannte sie schemenhaft ein paar schwarze Punkte und einen großen Baum, der einfach mitten auf dem Plateau stand, die kahlen Zweige gen Himmel streckte und die Wolken mit kleinen Ästen einfing. Da Eve inzwischen wusste, dass Tralir mit seinen Zeitangaben gerne sehr enthusiastisch umging, schätzte sie, dass sie mindestens noch einen halben Tag reiten müssten, um seinen Clan zu erreichen. Doch im Gegensatz zu der Kletterei in der vorherigen Woche schien der Ritt über das Plateau geradezu entspannend zu sein.

Vineeta rannte vor und stieß ein lautes Heulen aus – mehrere Eisklauenwölfe in der Ferne antworteten ihr und Tralir strahlte wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal ein Geschenk überreicht bekam.

„Kommt", meinte er zu Eve. „Nyrociel weiß, dass wir kommen. Sie wird Euch bereits erwarten. Und denkt an alles, was ich Euch beigebracht habe, wenn Ihr der Herrin gegenübersteht."
Eve schluckte schwer – alle Prüfungen, die Severin ihr unterzogen hatte, schienen ein Kinderspiel gewesen zu sein im Gegensatz zu dem, was sie nun erwartete.

Das Lager der Wildelfen war... beeindruckend.

Ein anderes Wort fiel Eve beim besten Willen nicht ein. Die Assassinin hatte noch nie einen der vier existierenden Elfenclans besucht und hatte sich deswegen nie vorstellen können, wie genau sie sich organisierten. Der Clan in den Bergen bestand aus einer Ansammlung von Zelten, gefertigt aus Tierhäuten. Überall brannten kleine Feuer, deren schwarzer Rauch im Himmel verschwand und die ständige Wärme hatte den Schnee geschmolzen. Der harte, steinige Boden, war mit etlichen Fellen von unterschiedlicher Farbe ausgelegt worden, von schneeweiß bis hin zu kohlschwarz. Mehrere Elfen liefen geschäftig umher, pflegten ihre Waffen – lange Speere mit gefährlich aussehenden Steinspitzen oder edle, kunstvoll gefertigte Bögen – nahmen erlegtes Wild aus, schnitten Wurzeln klein, ordneten Beeren in verschiedenen Schalen, kochten an einem der riesigen Kesseln, die über einigen Feuern hingen, nähten neue Kleidung, fertigten Schmuck an... Niemand saß nur herum und schien keine Aufgabe zu haben, alle packten mit an. Sogar die jünger aussehenden Elfen arbeiteten mit den Erwachsenen zusammen, unterhielten sich leise in ihrer melodischen Sprache miteinander. Und überall sah Eve Eisklauenwölfe herumlaufen. Die meisten saßen irgendwo und blickten wachsam umher, andere schliefen, wiederum andere lagen auf der Seite und fütterten die Welpen, die sich wie kleine, flauschige, weiße Schneebälle an die Zitzen drängten. Die Elfen schienen keine Angst vor den großen Wölfen zu haben und traten lachend um sie herum; einige hoben sogar die Hand, um durch das dicke Fell zu streicheln.

Mitten im Lager stand der große, steinerne Baum – Sigra'Kivi, wie Tralir ihn genannt hatte – und direkt an dessen Wurzeln befand sich eine dampfende, heiße Quelle. Einige Elfen wuschen sich in der Quelle, besaßen überhaupt keine Scham aufgrund ihrer Nacktheit, und schienen sich in den heißen Wellen zu entspannen. Ihre langen, meistens kunstvoll geflochtenen Haare lagen ausgebreitet auf den weichen Fellen, direkt neben den edlen, beeindruckenden und teilweise auch gewaltigen Kopfbedeckungen, die beinahe jeder, außer den jüngeren, im Clan trug.

Alles in allem wirkte das Zusammenleben sehr harmonisch und Eve konnte sich im ersten Moment nur schwer vorstellen, dass diese Elfen tatsächlich so wild und barbarisch waren, wie man es immer erzählte.

Vineeta gab ein zufriedenes Knurren von sich und rannte in das Lager hinein. Einige Elfen erkannten sie und riefen sich in ihrer Sprache etwas zu, begrüßten die Wölfin und hoben dann die Köpfe, um nach Tralir Ausschau zu halten. Als sie die schwarzhaarige Menschenfrau an seiner Seite erkannten, wurden sie plötzlich ganz ruhig und ihre Augen weiteten sich. Eve fühlte sich vorgeführt, wie eine seltene Attraktion in einer Spielmannsgruppe, doch sie streckte die Brust raus und ging mit selbstsicheren Schritten neben Tralir her.

Die Eisklauenwölfe kamen näher geschlichen und fixierten sie mit ihren eisblauen oder tiefschwarzen Augen; ihre Lefzen waren warnend hochgezogen, auch wenn kein Knurren ihre Kehle verließ und der weiße Dampf stieg als Atem aus ihrem geöffneten Maul hervor. Eve bekam eine Gänsehaut; nur weil Vineeta sich die Zeit über als erstaunlich zahm herausgestellt hatte, hieß dies noch lange nicht, dass es diese Wölfe ebenfalls waren; zudem wusste die Assassinin um die Gefahren, die von den wilden Tieren ausgingen und sie hielt lieber Abstand zu ihnen. Auch Tango spürte die feindliche Stimmung und stemmte die Hufe in den Boden, wollte nicht weitergehen. Sie warf den Kopf in die Luft und sträubte sich, stieg beinahe und Eve hatte Schwierigkeiten, sie festzuhalten.

Tralir nahm ihr die Zügel aus der Hand. „Die Menge an Wölfen ist schwer für sie", murmelte er ihr zu. „Ich werde mich um sie kümmern. Geht nur weiter; das große Zelt dort hinten ist das der Herrin. Der Elf, der Wache hält, trägt den Namen Lafadiel. Vergesst nicht, was ich Euch beigebracht habe!"

Eve hatte gehofft, dass der freundliche Elf sie weiterhin begleiten würde und war nicht erfreut, dass sie den Rest des Weges nun alleine antreten musste. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie viele der männlichen Elfen ihre Waffen erhoben hatten, sich in Angriffsposition hinstellten und sie misstrauisch musterten. Da sie selbst keine Waffen mehr besaß, versuchte Eve, sie zu ignorieren; im allergrößten Notfall musste sie Gebrauch von ihren Fähigkeiten als Schattentänzerin machen, doch sie war sich sicher, dass sie die Menge an Kriegern nicht im Alleingang besiegen könnte.

Insgesamt schien der Clan an die hundertfünfzig Mitglieder zu besitzen – Eve erinnerte sich daran, dass andere Clans angeblich größer waren und der von Nyrociel zu den kleinsten überhaupt gehörte. Wahrscheinlich lag das an den ständigen Kriegen mit Collis, vielleicht aber auch an den schweren Lebensbedingungen. Doch die Assassinin erkannte noch etwas – zwischen den ganzen mit Fellen und Lederhäuten bekleideten, wilden Elfen, erkannte sie auch die Halb-Elfen, die sich dem Clan angepasst hatten. Ihre lilastichigen Haare fielen in geflochtenden Zöpfen auf ihre Schultern, der Haarschmuck war lange nicht so beeindruckend, wie bei einigen anderen Elfen und ihre Gesichtszüge besaßen etwas Menschliches. Eve hatte noch nie einen Halb-Elfen kennengelernt, aber sie erkannte die groben Unterschiede zu ihren reinblütigen Verwandten sofort.

Und es waren gar nicht mal so wenige Halb-Elfen. Auf ihren Weg zu dem größten der Zelte registrierte Eve mindestens ein Dutzend und sie nahm an, dass es noch einige mehr von ihnen gab. Nyrociel schenkte diesen Wesen tatsächlich ein Zuhause und Schutz und niemand schien sich an deren Mischblut zu stören.

Sie sind alle so feindselig, erkannte Lumen. Sieh dich vor, Eve.

Ich bin mir sicher, dass sie nichts unternehmen werden, solange Nyrociel ihnen nichts befiehlt, antwortete die Assassinin in Gedanken. Tralir hatte ihr erklärt, dass der Clan nach strengen Regeln lebte und sich voll und ganz ihrer Herrin unterwarf. Ein Grund mehr, sich nur auf Nyrociel zu konzentrieren – zumindest vorerst.

Die Assassinin kam bei dem Zelt an. Es war mit verschiedenen Zeichen angemalt worden, die sich dunkel von den hellen Häuten abhoben. Der erwähnte Elf, Lafadiel, sowie zwei Eisklauenwölfe hielten vor dem Eingang Wache; selbst im Sitzen waren die Tiere einen halben Kopf größer als Eve und ihre langen, grau-rosa Zungen hingen heraus, während das tödliche Gift an ihren Zähnen heruntertropfte und in den Fellen zu ihren Pfoten versank. Lafadiel selbst war mindestens so groß wie Eve – ein seltsamer Umstand für die Assassinin, die dank ihrer Größe auf die meisten Menschen herabschauen musste. Nun jedoch konnte sie direkt in Lafadiels smaragdgrüne Augen blicken, umrahmt von langen, schwarzen Wimpern. Er hatte eine Art Kriegsbemalung in seinem Gesicht aufgetragen, bestehend wahrscheinlich aus Tierblut, der dunkelroten Farbe nach zu urteilen, und sie schenkte ihm ein düsteres Auftreten, was durch die mehrschichtige Kleidung und dem Knochenschmuck, der um seinen Hals hing, nur noch verstärkt wurde. In seiner Hand hielt er einen langen Speer, dessen Steinspitze mit Federn geschmückt war, die im schwachen Wind träge flatterten. Seine nussbraunen Haare waren zum Großteil von seinem Kopfschmuck verdeckt: Ein imposantes Teil, wie Eve zugeben musste. Es schien aus mehreren, blank polierten Knochen zu bestehen, ineinander so verschachtelt, das sie auf seinen Kopf passten und wie ein Helm wirkten. Etliche knöcherne Schwänze hingen herunter, seinen Rücken entlang, bis sie auf den schmalen Hüften zum Liegen kamen, bei jeder Bewegung leise gegeneinander stießen und ein unheilvolles Klackern erzeugten. Etliche kurze Federn vervollständigten das Bild, genauso wie scharfe, gezackte Steine, die beinahe wie eine Krone wirkten, hölzerne Perlen, aufgezogen auf langen Schnüren und zwischen den Schwänzen verteilt. Die Federn erstreckten sich über seinen gesamten Schädel in verschiedenen, braunen Farbnuancen, schillerten mit prächtigen Mustern um die Wette, sodass Eve sich fragte, um welchen Vogel es sich bei ihnen wohl gehandelt hatte, denn bisher hatte sie nur wenige Tiere in den Bergen gesehen.

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