Sigra'Kivi (Teil 1)

Eve erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen.

Du bist wach, begrüßte Lumen sie sofort. Ihre Tätowierung wirkte aufgeregt und schien sich kaum richtig konzentrieren zu können; ihre Stimme bereitete Eve noch mehr Schmerzen und die Assassinin gab ein leises Stöhnen von sich. In ihrer Schulter breitete sich ein Feuer aus, und als die Schattentänzerin sie probeweise bewegen wollte, schoss ein so starker Schmerz durch ihren Arm, dass sie sofort aufhörte und schwer keuchte.

„Nicht bewegen."

Die Stimme klang hell und melodisch, doch eindeutig männlich. Sie besaß einen schweren Akzent, sprach die einzelnen Wörter betont langsam und deutlich aus, als müsste sie sich erst an die Sprache gewöhnen. Sofort bemerkte die Schwarzhaarige, wie sich jemand neben sie kniete und sanfte Hände vorsichtig ihre Schulter abtasteten. Es tat höllisch weh und Eve zog die Luft durch die Zähne ein.

„Der Stachel hat Euren Muskel durchtrennt. Ihr müsst ihn ruhig halten, damit alles zusammenwachsen kann."

Eve wandte den Kopf und öffnete die Augen. Der helle Schein eines Feuers blendete sie zuerst, doch nach einiger Zeit hatten sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt und sie erkannte eine hagere Gestalt, gekleidet in etliche, schneeweiße Felle, neben sich sitzen, den Verband an ihrer Schulter zurechtrückend.

Die langen, braunen Haare fielen ihm über die Schultern und wurden teilweise von einem beeindruckenden Kopfschmuck, der aus etlichen, kleinen Knochen und Federn bestand, verdeckt. Um seinen Hals hing eine Kette mit einer weißen Pfote und baumelte während seinen Bewegungen sanft hin und her. Eve starrte die spitzen Ohren an und erkannte, dass hier neben ihr ein richtiger Elf saß.

Lumen, dachte sie. Wer ist das?

Er hilft uns, antwortete ihre Tätowierung. Ich habe ihn machen lassen, als ich erkannt habe, dass er uns versorgt.

Das war keine Antwort auf ihre Frage, aber Eve wusste, dass sie aus Lumen manchmal nur schwer Informationen herausbekam, vor allem, da die Tätowierung sich häufig gar keine Gedanken darüber machte, wer vor ihr stand, sondern nur was.

„Wer seid Ihr?", fragte sie und spürte, wie staubtrocken sich ihr Mund anfühlte. Sie hustete ein wenig und der Elf griff hinter sich und förderte eine Schale mit geschmolzenem Schnee zu sich, um sie ihr an die Lippen zu halten. Eve griff mit der Hand ihres unverletzten Armes danach und sah ihn auffordernd an. Er lächelte und in seinen dunklen Augen glitzerte ein gewisser Schalk; er genoss die Situation hier sichtlich.

„Ihr könnt mich Tralir nennen", stellte der Elf sich anschließend vor. Eve musterte noch einmal seine Kleidung und den Knochenschmuck, dann meinte sie: „Ihr seid einer von Nyrociels Wildelfen."

Tralir neigte den Kopf. „Das ist richtig." Er wandte sich um und Eve sah, wie er ein wenig Fleisch, das auf kleinen Spießen am Feuer briet, wendete. Erst jetzt sah sich die Assassinin mehr in der Höhle um und erkannte Tango in einer Ecke stehen und irgendetwas fressen. Sie wirkte ängstlich, hatte die Ohren zurückgelegt und stapfte immer wieder mit den Hufen auf. Als Eve den Blick weiter wandern ließ, erkannte sie den Grund für die Nervosität ihres Pferdes:

Ein riesiger, schneeweißer Wolf, der gerade mal eine Handbreit kleiner als Tango selbst war, lag hechelnd auf dem Höhlenboden. Aus seinem Maul kam trotz der gemütlichen Wärme der Atem als weiße, kleine Wolken heraus und seine kristallblauen Augen blickten wachsam umher. Im Endeffekt war es ein prächtiges Tier, wunderschön anzusehen, erhaben und anmutig, dennoch wusste Eve, dass mit einem Eisklauenwolf nicht zu spaßen war. Die glänzenden, perlmuttschimmernden, handlangen Krallen an jeder Pfote waren nicht zu unterschätzen, abgesehen davon besaßen diese Tiere ein tödliches Gift.

„Keine Angst. Vineeta ist zahm."

Vineeta gähnte und bettete dann den Kopf auf ihre Pfoten, ließ Eve und Tralir jedoch nicht aus den Augen.

„Tango auch", erwiderte Eve, der nichts Besseres einfiel.

Tralir lachte und sagte: „Das habe ich anders gesehen. Euer Pferd ist sehr störrisch gewesen, als ich Euch heruntergeholt habe."

In Eves Mundwinkel zuckte ein leichtes Lächeln. „Aber sie hat Euch nicht getreten."

Der Elf lachte erneut und reichte Eve ein Stück des Fleisches. Sie konnte nicht erkennen, um was für eine Art es sich handelte, doch ihr Magen knurrte und so nahm sie es, als Tralir ihr versicherte, es sei nicht vergiftet. Anschließend machte er sich daran, Tee für sie beide zu kochen. Er wirkte geschäftig und redete wenig, doch das konnte auch daran liegen, dass er ihre Sprache nicht so gut beherrschte. Eve genoss ihr karges Mahl und trank noch ein paar Schlucke von dem Wasser. Sie wusste, dass Tralir ein Segen für sie war, ohne den sie nur schwer überlebt hätte und fragte: „...wieso habt Ihr mir geholfen?"

Tralir warf einen Blick zu ihrem Schatten.

„Ihr seid eine begabte Frau." Dann senkte er den Kopf. „Herrin Nyrociel sucht Frauen wie Euch."

Also war seine Hilfe nicht ohne Hintergedanken. Das war Eve schon von vornherein bewusst gewesen und sie setzte sich so hin, dass sie ihre Knie mit einem Arm umschlingen konnte, während der andere nutzlos herabbaumeln musste, um zu heilen.

„Ich soll Euch also zu Eurer Herrin begleiten?"

„Ja." Tralir sah ihr in die Augen. „Ihr werdet es nicht bereuen. Die Herrin ist eine starke Verbündete."

Eve hatte bereits etliche Geschichten über Nyrociel und ihre Wildelfen gehört; sie waren unglaublich mächtig, brachten dem Königreich Collis Chaos und Verzweiflung und nichts schien sie aufhalten zu können. Nyrociel selbst galt als aggressiv und angriffslustig und gemeinsam mit ihren Eisklauenwölfen verwandelten sie das Unüberwindbare Gebirge in ein gefährliches, tödliches Gebiet. Sie war in der Tat eine Elfin, die man nicht zum Feind haben wollte; zudem sollte sie angeblich magische Kräfte besitzen, was sie für Eve noch einmal interessanter machte.

„Ich wollte zu den Zwergen", antwortete sie dennoch – ihre vorrangige Mission sollte nicht in Vergessenheit geraten.

Tralir wartete, bis das Wasser kochte, dann warf er einige Kräuter hinein, ehe er antwortete: „Das könnt Ihr auch. Sobald Ihr mit Herrin Nyrociel gesprochen habt."

Er warf einen Blick in ihre Richtung, mit seinen warmen, braunen Augen.

„Nur ein Gespräch. Hört Euch die Herrin an. Danach könnt Ihr entscheiden."

Eve zögerte zuerst, doch dann machte sie die Andeutung eines Nickens. Tralir hatte ihr geholfen, sich um ihre Schulter gekümmert und sie an einen warmen Platz gebracht. Als Assassinin würde sie ihn vorerst nicht töten, zudem schuldete sie ihm einen Gefallen. Irgendwo besaß die Assassinin doch noch eine gewisse Ehre und sie würde sich die Worte der Wildelfin anhören, bevor sie eine endgültige Entscheidung treffen würde; es konnte immerhin nicht schaden und wer wusste schon, vielleicht lagen ihre Interessen ja in einem gemeinsamen Bereich.

Tralir wirkte erleichtert und sagte: „Sehr gut. Bevor wir hingehen, muss ich Euch ein wenig erklären."

Eve runzelte die Stirn.

„Und was genau?", wollte sie wissen, während sie dabei zusah, wie Tralir die Kräuter aus dem kochenden Wasser fischte und die blassgrüne Flüssigkeit auf mehrere Schalen verteilte. Eine davon stellte er Vineeta hin, die andere Tango und die vorletzte reichte er Eve.

„Gute Kräuter. Sie wärmen und heilen", erklärte er und nickte, als wäre das selbstverständlich. Eve schnupperte erst einmal, empfand den leicht bitteren Geruch als angenehm und beschloss, dass sie einen Schluck probieren würde, sobald der Tee ein wenig heruntergekühlt war. Mit dem Feuer un den Decken auf dem Boden war es angenehm in der Höhle und man konnte schnell vergessen, dass sie sich inmitten eines harten Winters befanden.

„Wie ist Euer Name?", wollte Tralir wissen

„Eve", antwortete die Assassinin.

„Eve...", wiederholte der Elf und nickte. „Namen sind wichtig. Namen sind Respekt. Sprecht Herrin Nyrociel stets mit Namen an."

„Gut." Eve wusste nicht, wieso Tralir dies extra erwähnte, doch sie spielte mit. Tralir runzelte die Stirn, dann sah er sie eindringlich an und wiederholte: „Stets mit Namen. Kein Ich. Kein Du. Kein Ihr. Nur der Name."

„Wieso denn das?" In Eves Ohren klang das reichlich lächerlich.

„Es ist Tradition. Wer einen Namen hat, dem gebührt Respekt, dass man ihn ausspricht. Ein Name ist etwas Besonderes, ein Individuum wie die Person selbst. Ich, Du, Ihr... das alles sind Verallgemeinerungen. Respektlos. Der Name ist das, was Respekt ausdrückt."

„Es gibt Menschen, die haben den gleichen Namen", wagte Eve es, einzuwerfen.

„Bei uns nicht." Tralir schüttelte den Kopf. „Erst, wenn ein Name stirbt, darf er neu vergeben werden."

Eve hatte ebenfalls schon Gerüchte über die seltsamen Verhaltensweisen der Wildelfen gehört. Viele Menschen befanden sie deswegen als unterentwickelt und regelrecht verblödet, doch sie ahnte, dass da viel mehr hinter stecken musste.

„Wenn eurem Clan diese Namen so wichtig sind", fing sie nachdenklich an, „wieso redet Ihr normal mit mir?"

Tralir lächelte und es wirkte schon beinahe melancholisch. „Die Menschen sind freundlicher, wenn man ihre Traditionen aufgreift. Ich habe wenig Probleme damit, meine Sprechweise zu ändern, doch viele andere Elfen nicht." Er legte den Kopf schief und schien in einer Erinnerung zu schwelgen, ehe er mit leiser Stimme fortfuhr: „Viele Halb-Menschen reden wie Ihr. Ich bin oft der erste Kontakt zu ihnen. Ich kann sie vorbereiten. Herrin Nyrociel wird sehr böse, wenn man ihr nicht den gebürtigen Respekt zollt."

Das klingt ja nach einer verflucht angenehmen Person, mischte Lumen sich mit vor Sarkasmus triefender Stimme ein.

Mag sein, aber sie soll sehr mächtig sein und ich weiß aus Erfahrung, dass man die Mächtigen nicht verärgern sollte, antwortete Eve. Zu Tralir sagte sie: „Nun gut. Ich werde mir Mühe geben, mich daran zu halten."

Tralir wirkte erleichtert; vielleicht waren viele Menschen stur und sahen es nicht ein, der Wildelfin mit dieser Art von Respekt zu begegnen... Eve konnte sich vorstellen, dass schon einige Treffen mit der Clanherrin zu einem frühen Tod geführt hatten.

„Aber ich kann kein elfisch."

„Herrin Nyrociel beherrscht Eure Sprache mit Perfektion", antwortete Tralir. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, dieser leicht verträumte Ausdruck auf seinem Gesicht, wie ein Glanz in seine nussbraunen Augen trat... er verehrte seine Herrin wirklich, das sah man ihm an. Wahrscheinlich taten das alle Wildelfen, obwohl Nyrociel für ihre Verhältnisse verdammt jung war. Eve kannte ihr genaues Alter nicht, doch sie wusste, dass die Elfin die hundert Jahre noch nicht überschritten hatte und gemessen an diesen Maßstäben war Nyrociel in Menschenjahren gerechnet, vielleicht ein Mädchen von achtzehn Wintern. Elfen selbst erreichten vielleicht ein Alter von dreihundert bis vierhundert Jahren, doch viele starben aufgrund der Konflikte mit den Menschen schon viel eher. Eve hatte bisher nur eine einzige Elfin kennengelernt, und das war Tinjin gewesen, die extrovertierte Elfin aus dem Clan des Riffs der Tausend Träume, die bei ihnen in der Gilde oft zu Besuch gewesen war, um Nachrichten zu überbringen. Wenn sie Tinjin mit Tralir verglich, dann bemerkte sie doch große Unterschiede zwischen den einzelnen Clans.

„Ruht Euch aus", sagte Tralir. „Es ist dunkel, wir werden morgen losgehen. Es dauert nicht lange bis zum Clan."

Durch den Tee und die Kräuter spürte Eve, wie sich die Müdigkeit bereits anbahnte. Obwohl sie normalerweise niemals so leichtsinnig einem Fremden vertrauen würde, wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Also legte sie sich auf die Decken und achtete darauf, ihren verletzten Arm nicht allzu sehr zu belasten. Dann schloss sie die Augen und schlummerte beinahe sofort ein. 

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