Schleichendes Verderben (Teil 3)

Sie fanden die Elfin in dem Versammlungssaal, in dem Nukritas die restlichen Lichtritter zum ersten Mal gesehen hatte, und störten sie in einem Gespräch mit einer anderen Frau, die er noch nicht kannte. Ihre schlohweißen Haare waren zu einem einfachen Zopf gebunden, der zwischen zwei gewaltigen Engelsflügeln auf dem Rücken zum Liegen kam. Die Flügel selbst waren beeindruckender als die von Cheva oder Belle, strahlend weiß mit winzigen, diamantenen Spitzen, die ihr Funkeln im gesamten Raum verteilten. Dazu trug die Frau ein schlichtes, elegantes und lang wallendes Kleid, dessen samtiger Stoff im Schein des Lichtes schimmerte. Als sie sich umdrehte, blickte Nukritas in ein wohlgeformtes, herzförmiges Gesicht mit silbernen Lippen und großen, himmelsblauen Augen. Ihre Hände lagen gefaltet auf ihrem Bauch, der sich wie bei einer Schwangeren nach außen wölbte.

„Ah, Mutter Tirelle", begrüßte Ilias sie und neigte den Kopf als Zeichen des Respekts. Nukritas machte es ihm mit einiger Verspätung nach.

„Lichtritter Ilias. Welch eine Freude", sagte Tirelle mit einem Lächeln. Ihre Stimme war sanft und leise und schien niemals lauter werden zu können. „Und dann muss der Mann neben Euch Lichtritter Nukritas sein."

„Ja, der bin ich..." Nukritas wusste nicht so wirklich, mit welchem Titel er Tirelle ansprechen könnte.

„Nennt mich Mutter", half sie ihm. „Denn ich bin eine."

„Vielen Dank... Mutter", meinte Nukritas etwas zögerlich und es kam ihm reichlich seltsam vor, eine fremde Person so zu nennen. „Und ich... beglückwünsche Euch zu Eurer Schwangerschaft."

Tirelle senkte den Blick und strich über ihre Bauchdecke. „Ich danke Euch", meinte sie. „Alle zehn Jahre einen neuen Engel zu gebären ist die einzige Aufgabe, die ich besitze. Neben der Erziehung meiner Kinder natürlich. Wo wir von meinen kleinen Engeln sprechen... Ich spüre, dass es Belle und Cheva bei Euch sehr gut ergeht. Bitte passt weiterhin auf sie auf. Cheva ist mein jüngstes Kind und sie ist mir sehr an mein Herz gewachsen."

„Natürlich", versprach Nukritas eilig. „Ehe ihnen etwas passiert, stelle ich mich zwischen sie."

Tirelle lächelte ein wenig breiter, sie schien sehr glücklich über seine Antwort zu sein. Dann wandte sie sich an Keona, die sich freundlicherweise nicht über die Unterbrechung beschwert hatte: „Wie es aussieht, haben die beiden Herren ein Anliegen. Ich werde Euch jetzt verlassen, Keona, und nach meiner Schwester suchen."

„Ciella wird sich bei den Stallungen befinden", antwortete die Elfin. „Ich hörte, sie befehligt dort ihre neuen Söhne."

Tirelle bedankte sich, dann ging sie mit gemächlichen Schritten aus dem Raum, wobei ihre Flügel im Takt sanft mitwippten.

„Was wollte Mutter Tirelle von dir?", fragte Ilias sofort mit neugierigem Augenfunkeln.

„Sie wollte, dass ich die Knochen für sie werfe", antwortete Keona. „Um zu erfahren, ob ihr neuer Engel gesund wird. Also das gleiche, wie jedes Jahrzehnt. Und wie jedes Jahrzehnt werde ich nichts Außergewöhnliches feststellen." Keona rollte mit den Augen, dann wandte sie sich an Nukritas. „Schön, dass du auch mal wieder hier vorbeischaust. Du scheinst das Ebenenwechseln gemeistert zu haben."

„Eigentlich war es nur mein Glaube", antwortete der Lichtritter. „Und somit eher ein Wunder." Er zuckte hilflos mit den Schultern.

„Glaube oder Wunder, das zählt alles nicht. Wichtig ist, dass du es geschafft hast. Wir bekommen hier im Himmel zwar viel mit, was im Land passiert, aber leider nicht alles. Erzähl, wie geht es denn Gregorius und Tryson?"

„Der General hat sehr viel mit dem Andrang unserer neuen Rekruten zu tun. Wir führen auch jetzt das Ritual wieder ein, das junge Paladine ablegen müssen, um den Titel zu erhalten. Und Tryson nimmt sich den neuen Templern an, ist aber momentan ein bisschen verzweifelt", erzählte Nukritas rasch. „Ich bin gekommen, um Euch um Hilfe zu bitten, Lichtritterin Keona."

Ilias half ihm und erklärte der Elfin das derzeitige Problem. Keona schüttelte den Kopf und biss sich unzufrieden auf die Lippe, dann sagte sie: „Wärst du noch dort unten gewesen, Ilias, wäre das nicht passiert. Es gibt gute Gründe, wieso die Mutantenexperimente verboten worden sind."

„Das Einzige, was die Großen Städte in den letzten Jahrhunderten richtig gemacht haben", ergänzte Ilias. „Und dennoch lässt sich nichts rückgängig machen." Ein stummer Vorwand an die Lichtritterin, Nukritas nichts zum Vorwurf zu machen. Keona nickte nur, sie erkannte den Ernst der Situation.

„Ich werde schauen, was ich herausfinde", versprach sie und wuselte an ihnen vorbei, wahrscheinlich, um die kleine Schatulle mit den schwarzen Wurzelstücken zu holen. Nukritas ging ein paar Schritte und die Stille war ihm unangenehm. Deswegen sah er zu Ilias und fragte: „Wie geht es Glaube eigentlich? Er müsste auf dem Weg der Besserung sein... immerhin wächst der Glaube der Menschen stetig an. Sie müssen mich nur einmal sehen und plötzlich werden sie wieder religiös."

„Das scheint mir mehr eine Modeerscheinung zu sein", antwortete Ilias. „Aber es glauben tatsächlich mehr von ihnen als vorher und wir spüren das auf der Himmelsebene. Glaubes Kraft wird mit jedem Tag stärker, auch wenn es noch lange dauert, bis er auf dem Stand seiner alten Macht sein wird. Und momentan glauben die Menschen an dich, Nukritas."

„An mich?", wiederholte der Lichtritter verdutzt. „Ich meine, natürlich, sie sehen mich, aber..."

„Nichts aber. Für einige von ihnen scheinst du eine Art neuer Gott zu sein. Glaube erkennt immerhin, wo der Glaube der Menschen hingeht und er geht eindeutig zu dir. Und das bedeutet, dass unsere Götter davon noch nicht allzu viel haben."

„Ich bin kein Gott... Ich will gar keiner sein", sagte Nukritas. „Es reicht mir schon, ständig zu leuchten und von allen angestarrt zu werden, da brauche ich keine regelmäßigen Ehrungen!"

Ilias lachte. „Du würdest nie zum Gott aufsteigen. Dafür bist du zu bescheiden", meinte er mit einem Augenzwinkern. Das beruhigte Nukritas ein wenig und er atmete erleichtert aus. Ilias musterte ihn eine Weile, dann sagte er: „Ich habe dich in Collis beobachtet. Du hast mein Herz berührt, als du meintest, dich für die Ausgestoßenen einsetzen zu wollen."

Nukritas sagte zuerst nichts darauf. Tryson und Gregorius hatten ihm gut eingebläut, diesen Plan erst einmal ruhen zu lassen, bis sie Seth gefunden und mehr Paladine sowie Templer besaßen, doch er freute sich, dass Ilias auf seiner Seite zu sein schien. Und das ohne irgendwelche Einwände.

„Diese Wesen, sie brauchen einen Ort zum Leben. Es ist eine Schande, was vor zweihundert Jahren geschehen ist und sie müssen mit Konsequenzen leben, für die sie nicht verantwortlich sind. Ich war immer der Meinung, dass man auf sie aufpassen muss, damit sie sich nicht selbst schaden konnten. Gerade Magier stellen unausgebildet für sich selbst die größte Gefahr dar."

„Ob es wohl viele unausgebildete Magier gibt?", fragte Nukritas und hatte bereits Angst vor der Antwort, ehe sie überhaupt ausgesprochen wurde.

„Das kann ich selbst nicht so genau beantworten. Wie Keona schon sagte, wir wissen hier viel, aber nicht alles. Die meisten Magier, ob sie auf der Straße leben oder nicht, haben jemanden an ihrer Seite, der ihnen hilft, mit ihrer Macht richtig umzugehen. Aber du glaubst nicht, wie viele von ihnen sterben, wie viele magisch begabte Glasseelen die Engel zerstören müssen, Kinder und Jugendliche, die ihre Kräfte entdecken und es nicht schaffen, sie zu bündeln. Ich verstehe die Angst vor Magiern, aber diese Angst richtet sich gegen die falschen von ihnen."

Nukritas nickte langsam. Ähnliche Gedanken hatte er vor nicht so geraumer Zeit selbst gehabt und er meinte: „Anstatt die Magier zu töten, sollte man sie ordentlich ausbilden."

„Und lehren, wie man sich benimmt", ergänzte Ilias. „Du glaubst gar nicht, wie viele machthungrige Magier es bereits gegeben hat, die die Kirche erschlagen musste, weil sie sonst zu einer zu großen Gefahr geworden wären. Die Kirche war nie gegen Magie, aber um die Menschen zu beruhigen, musste sie es werden."

„Aber die Zeiten sind vorbei", beruhigte Nukritas ihn. „Unter Gregorius' Führung wird so etwas nicht passieren. Ich werde daran arbeiten, ihnen ein Zuhause zu geben und dann werden alle Magier ausgebildet und geachtet werden. Genau wie die Mutanten. Die Halb-Elfen. Und was es sonst noch alles gibt."

„Das sind ehrenvolle Gedanken." Keona gesellte sich wieder zu ihnen und ihre Miene war ausdrucklos, ihre Augen blickten ernst. „Aber du solltest dich deinem vorrangigen Problem widmen, ehe du ein ganzes Land ins Chaos stürzen möchtest, um eine Stadt wieder aufleben zu lassen."

Ihre harten Worte trafen Nukritas wie eine schallende Ohrfeige und der Lichtritter trat einen kleinen Schritt zurück.

„Ins Chaos stürzen...?", wiederholte er fragend.

Keona sah ihn beinahe schon traurig an. „Glaubst du etwa tatsächlich, ein solches Vorgehen wird keine Opfer erfordern?"

Nukritas hoffte es zumindest, aber er wusste gleichzeitig auch, dass es mit vielen Kämpfen verbunden sein würde. Aber davon zu sprechen, ein ganzes Land ins Chaos zu stürzen erschien ihm dann aber doch ein bisschen übertrieben.

„Fünf Jahre, Nukritas", meinte Keona zu ihm. „Gib dem Land noch fünf Jahre Zeit. Dann sammelst du deine Leute und marschierst in Richtung des Weltenbaumes. Hat Tryson dir die Legende bereits erzählt?"

„Nein, ich hatte bisher keine Zeit..."

„Dann warte damit auch oder lies sie in der Bibliothek selbst nach", fiel Keona ihm ins Wort. „Und hör mir jetzt bitte genau zu." Ihre Stimme klang eindringlich und Nukritas schluckte schwer, blieb ruhig und renkte den Kopf um der Elfin zu zeigen, dass er zuhörte.

„Ich habe die Wurzeln nach diesem Seth befragt und Beunruhigendes herausgefunden. Sie sprechen von einem Ding, das in das Land eindringt und immer stärker wird. Aber es braucht einen Körper, um sich zu manifestieren."

Ilias runzelte die Stirn. „Wieso sollte Seth so etwas tun?", fragte er. Keona schloss die Augen und fuhr fort: „Das ist der Teil, den ich nur schleierhaft deuten konnte. Aber Seth scheint... ein Vasall des Schattenreiches geworden zu sein. Ich weiß nicht, wie Liz'Pali dieses Werk vollbracht hat, aber sie hat es geschafft, Seths Seele als Fluchmeister an sich zu binden und schafft es daher, ihn zu kontrollieren."

„Wartet bitte Keona", unterbrach Nukritas sie. „Ich bin verwirrt. Wer ist Liz'Pali und was ist ein Fluchmeister?"

Keona seufzte schwer auf und schien zu überlegen, wie sie die Fülle an Informationen verständlicher erklären konnte. Dann sah sie wieder auf und meinte: „Du kennst doch Nyrociel, richtig?"

„Ja. Die Wildelfin, die ihre seltsame Magie anwenden kann", meinte Nukritas. „Jeder kennt und fürchtet sie. Angeblich."

„Das Angeblich kannst du streichen. Du solltest sie fürchten. Nyrociel ist eine Totengeistmagierin, auch Knochenzunge genannt." Keona zeigte ihm die schwarzen Stöcke, in denen etliche Symbole eingeritzt waren. „Persönlichkeiten wie Nyrociel besitzen eine besondere Verbindung zu Geistern. Mithilfe ihrer Knochen und den alten drakonischen Schriftzeichen schaffen sie es, sie bis zu einen gewissen Grad zu kontrollieren, in dem sie bestimmte Symbole in die Knochen einritzen. Jeder Geist, dessen Knochen man besitzt, ist ein Fluch- oder Wundermeister. Und diese Meister sind dazu da, um Flüche oder Wunder in die Welt zu entlassen. Das ist die Macht, die Nyrociel besitzt. Sie legt die Knochen auf den Boden in einer bestimmten Anordnung und gibt ihrem Fluchmeister somit die Anweisung, welchen Fluch er in die Welt schicken und wen er befallen soll. Das gleiche funktioniert mit Wundern genauso gut, aber die Verbindung zu Fluchmeistern ist um einiges einfacher... außerdem braucht man die Knochen einer Heiligen, um einen Wundermeister zu schaffen und an solche Knochen zu kommen ist äußerst schwierig. Deswegen sind die meisten Totengeistmagier auf Flüche und nicht auf Wunder spezialisiert."

Nukritas nickte vorsichtig. Er glaubte zu verstehen, was Keona ihm erklärte.

„Und Ihr seid... ebenfalls so eine Magierin?", fragte er, als er anfing, die Teile des Puzzles zu einem Ganzen zusammenzusetzen.

„Ja. Zu Lebzeiten war ich eine der bekanntesten Knochenzungen, die es im Land gab. Sie sind allerdings sehr selten, weil es eine bestimmte Voraussetzung braucht, um überhaupt dazu fähig zu sein, die Geister spüren zu können."

„Und die wäre?", fragte Nukritas neugierig.

„Man muss gestorben sein", erklärte Keona. „Soweit ich weiß, ist Nyrociel kurz nach ihrer Geburt verstorben, aber die Engel haben ihre Seele nicht schnell genug zerschmettert, ehe ihre alte Schamanin das Baby wiederbelebt hat. Nyrociel hatte somit Kontakt zur Geisterwelt und besitzt deswegen ihre Gabe."

„Ich kann das nicht", meinte Nukritas, der bekanntlich ja ebenfalls gestorben war. Keona lachte leise. „Wärst du kein Lichtritter geworden, könntest du das ebenfalls. Außerdem hast du viel von einem Totengeistmagier: Du kannst Drakonisch sprechen, unsichtbare Wesen sind für deine Augen sichtbar und du kannst deine Wunder wirken. Wärst du kein Lichtritter geworden, hättest du dich in dem Zeitpunkt, wo deine Seele ins Land zurückgekehrt ist, zum Magier gewandelt."

„Das scheint mir... kompliziert zu sein", meinte Nukritas und rieb sich den Kopf, der vor Anstrengung, der Magierin zu folgen, bereits pochte.

„Als Lichtritter solltest du solche Sachen wissen", wies Keona ihn streng an. „Je früher du anfängst, es zu lernen, desto besser ist es. Aber um jetzt zurück zu Seth zu kommen."

Ilias mischte sich ein: „Seth ist kurzzeitig gestorben und ich kann mir vorstellen, dass Liz'Pali die Macht verfügt, seine Seele abzufangen, ehe sie in seinen Körper zurückgekehrt ist."

„Das ist möglich. Es erfordert ein enormes Talent an Magie, eine Seele zu einem Fluchmeister zu wandeln und diesen anschließend wieder in einen Menschen zu stecken. Seth müsste allerdings ein Erkennungsmerkmal gehabt haben..."

Nukritas hörte schon gar nicht mehr zu, sondern starrte auf die Wurzeln, die Keona immer noch zwischen ihren Fingern hielt. Langsam ging er darauf zu und haschte danach. Die Elfin, die Nukritas gar nicht hatte kommen sehen, erschrak und zuckte zurück, aber da hatte der junge Paladin das anvisierte Stück bereits geschnappt und fuhr mit dem Finger über das eingeritzte Symbol, das entfernte Ähnlichkeit mit einer Marionette besaß.

„Ich habe das schon einmal gesehen...", murmelte er. „Auf Seths Haut haben sich nach seiner Mutation viele Zeichen gebildet. Und das hier... war eines davon. Ich konnte sie aber nicht lesen."

„Drakonische Schriftzeichen. Die geschriebene Sprache der Götter, die seit Jahrhunderten aber weder gelehrt noch genutzt wird, außer bei den Totengeistmagiern", murmelte Keona. „Aber damit wäre die Frage auch schon einmal geklärt. Auf Seths Haut müssten sich noch mehrere Symbole befinden, die ganz genau erzählen, zu wem er gehört, wer in der Lage ist, ihn zu befehligen, welche Flüche er in die Welt lassen kann, wie stark er ist... Das, was sonst in den Knochen eingeritzt ist, wurde auf seiner Haut verewigt. Ich kann Liz'Pali nicht leiden, aber sie hat etwas Großartiges geschaffen."

„Und Liz'Pali ist...?"

„Ein Phantom im Schattenreich. Vor der Zeit der Götter, die du kennst, sind die Phantome Götter gewesen. Und Liz'Pali, früher auch als Zilliap bekannt, war die Göttin der Magie. Wenn jemand immense magische Kräfte besitzt, dann ist sie das."

Nukritas rieb sich eine pochende Stelle in seinem Kopf. „Ich glaube, ich brauche ein wenig Zeit, das alles zu verarbeiten."

„Lass dir nicht zu viel Zeit", warnte Keona. „Du musst Seth aufhalten, bevor er das Ding trifft, damit es sich in seinem Körper festsetzen kann."

Über die ganzen Erklärungen und neuen Informationen hatte Nukritas beinahe seine ganzen Sorgen vergessen, doch jetzt sah er wieder auf und fragte: „Und wo genau ist dieses... Ding?"

Keona schlug die Augen nieder. „Das weiß ich leider nicht. Egal, wie oft ich die Wurzeln befragt habe, sie wollten mir keine Antwort geben. Aber ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird."

„...wie lange habe ich noch Zeit, bis es kommt?"

„Ein paar Monate, vielleicht bis zum Sommer, aber spätestens im Herbst ist es mächtig genug, einzudringen. Und dann ist das Land dem Untergang geweiht."

Das war nicht mehr viel Zeit. Nukritas seufzte schwer auf und fuhr sich durch die Haare. Seit er zum Lichtritter geworden war, war kein einziger Tag ohne ein Problem oder eine Sorge vergangen und es schien so, als würde sich dieser Zustand in nächster Zukunft nicht wirklich ändern. Doch er wusste, was zu tun war: „Dann schlage ich vor, ich gehe zurück und setze alle meine fähigen Soldaten auf ihn an."

„Deine fähigen Soldaten werden nicht genug sein." Die Türen öffneten sich und eine weitere Frau trat ein, eine, die Mutter Tirelle zum Verwechseln ähnlich sah, wäre ihr Bauch nicht flach, ihre Lippen nicht silbern schimmernd, sondern golden und riesige, silberne Drachenschwingen aus ihrem Rücken brachen, anstatt der bekannten Engelsflügel. Hinter ihr trat einer der Ciellen-Ritter ein, dessen weiße Marmorrüstung mit roten Adern durchzogen war und in dessen Schwingen sich das Muster fortsetzte. Er trug einen gewaltigen Schild und ein langes Schwert mit sich und seine Schritte stapften schwer auf dem Boden auf und erzeugten jedes Mal einen dumpfen Laut, bis er stehen blieb. Ciella, die Mutter dieser beeindruckenden Krieger, blieb stehen und meinte: „Das ist Guerre. Ich werde ihn dir mitgeben, damit du etwas für den Kampf hast."

Nukritas starrte den Krieger, der ihn um zwei Köpfe überragte, mit offenem Mund an, ehe er sich an seine Manieren erinnerte, und sich hastig verbeugte. „Ich danke Euch... ähm... Mutter?"

Ciella lachte laut auf. „Ich trage zwar diesen offiziellen Titel, aber ich hasse ihn. Nenn mich Ciella oder General. Ich bin nicht wie meine Schwester, dieses zerbrechliche, ewig schwangere Ding. Meine Ciellen-Krieger werden einmal alle fünfzig Jahre geboren und es ist eine große Ehre, dass ich dir einen zur Seite stelle, Nukritas-Vojin."

„Ich bin sprachlos", sagte Nukritas und meinte das auch tatsächlich so. Ciella schüttelte belustigt den Kopf, dann wandte sie sich an ihren Sohn: „Du wirst die Befehle dieses Lichtritters bis zu deinem Tod befolgen."

Guerre nickte und schlug sich mit einer Faust auf die Brust. Dann drehte er sich zu Nukritas um und ging vor ihm auf die Knie, neigte das Haupt und bot ihm seine Waffe dar. Der Lichtritter wusste nicht so recht, was er tun sollte und sah fragend zu Ilias.

„Du musst seinen Schwur annehmen", erklärte er ihn freundlicherweise. „Ciellen-Ritter sprechen nicht. Zumindest habe ich noch nie einen von ihnen fröhlich plaudern gehört."

„Heganon setzt große Hoffnung in dich", meinte Ciella und musterte Nukritas von oben bis unten. „Aber du musst noch sehr viel lernen. Und damit solltest du dich beeilen."

Das hatte er schon häufiger gehört. Nukritas erwiderte aber nichts, sondern sagte versucht feierlich zu dem Krieger: „Ich... äh... nehme Euren Schwur an, Krieger Guerre... Ähm... Ihr dürft Euch erheben."

Auch wenn das reichlich holprig vorgetragen war schien es zu genügen. Guerre richtete sich auf und steckte sein Schwert weg, dann wartete er anscheinend auf weitere Anweisungen.

„Du wirst lernen, mit ihm umzugehen", versprach Ciella.

„Und nun solltest du gehen", meldete sich Keona wieder zu Wort. „Jeder Atemzug, den du hier tätigst, ist eine Verschwendung."

Nukritas nickte und machte sich bereit, die Himmelsebene mitsamt seines neuen Anhängsels zu verlassen – mit der besorgten Frage im Hinterkopf, wie die Kirche auf seine plötzliche Abwesenheit wohl reagiert hatte. 

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