Schleichendes Verderben (Teil 2)
„Du hast uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt", meinte dann eine Stimme neben ihm. „Das nächste Mal sagst du uns bitte vorher Bescheid."
Der junge Lichtritter öffnete die Augen und erkannte Ilias neben sich stehen. Der tote Lichtritter hielt ihm eine Hand hin und in seinen Augenwinkeln entstanden kleinen Fältchen, als er schmunzelte und seinen vorherigen Wörtern so eine Lüge strafte: Er freute sich, Nukritas zu sehen und war sichtlich stolz auf ihn.
Nukritas ergriff die Hand und ließ sich hochhelfen. Einen Moment hielt er inne, um sich umzusehen, doch seit seines letztens Aufenthaltes hier hatte sich nicht viel verändert. Mehrere Engel in Rüstungen gingen umher und trugen die verstorbenen Glasseelen mit sich, um sie aus dem Körper zu befreien und ihnen die ewige Ruhe zu schenken, die sie verdienten. Doch gleichzeitig spürte Nukritas eine seltsame Schwingung, die das harmonische Bild aus dem Gleichgewicht geraten ließ. Es war nur ganz fein und der Lichtritter konnte nicht sagen, woher sie stammte. Doch sein Gesichtsausdruck musste für sich allein sprechen, denn Ilias meinte: „Du spürst es also auch."
„Was ist denn los?", wollte Nukritas wissen. „Die Kirche gewinnt immer mehr Anhänger. Je mehr Leute mich sehen, desto mehr glauben sie auch. Es müsste euch doch besser gehen."
„Du vergisst, dass wir einen Gegenspieler haben", erwiderte Ilias und der Blick seiner warmen, braunen Augen wurde ernst. „Das, was im Land geschieht, hat Auswirkungen auf unsere Ebene."
„Aber Severin ist tot...", hauchte Nukritas und seine Stimme wurde immer leiser. Severin, oder Aloysius, wie er eigentlich hieß, war Ilias' Bruder zu Lebzeiten gewesen. Der Tote gab einen schweren, traurigen Seufzer von sich und sah zur Seite, blickte auf seine eigene Schulter, als er antwortete: „Ich habe schon immer mit Aloysius gelitten... Aber als er starb... Ich sah, wie Mutter Tirelle persönlich seine Glasseele zertrümmerte, weil sie sonst niemals gegangen wäre. All das Böse, all die Wut, die Trauer und all das Leid, was aus Severin herausgebrochen ist... Es hat den Himmel verpestet."
Ilias führte den sprachlosen Nukritas zu einem kleinen Teich, etwas abseits, der allerdings, nicht wie die anderen, glasklar und freundlich wirkte, sondern tiefschwarz wie Teer und leise vor sich hin blubberte. Ein paar zertrümmerte Splitter schwammen in der schwarzen Masse herum, gingen unter und tauchten an anderer Stelle wieder auf. Nukritas starrte ein paar Wimpernschläge lang auf den zerstörten Teich, dann fragte er: „Aber... wie konnte das passieren? Ich dachte, so etwas ist unmöglich!"
„Nein, leider nicht. So etwas passiert häufiger, wenn man Schattentänzer tötet. Seine Seele ist zwar im Schattenreich, aber... Er ist noch nicht wirklich tot. Und das, was aus ihm geworden ist, spiegelt sich nun hier wieder: Eine abgrundtiefe schwarze Hülle ohne Seele."
Ilias wandte sich ab, aber er sprach weiter: „Einige Teiche haben sich nach ein paar Jahren wieder erholt, doch weder Glaube noch Mutter Tirelle ist der Meinung, dass dies bei diesem hier je passieren wird."
Nukritas senkte die Augenlider und sagte: „Also war es ein Fehler, ihn zu töten?"
„Ich bin mir sicher, für dich selbst ist es der größte Fehler gewesen", antwortete Ilias und legte dem jungen Lichtritter eine Hand auf die Schulter. Nukritas starrte jedoch weiterhin auf die Seelenstücke seines Vaters und schluckte schwer, ehe er sich doch abwandte.
„Wie sieht Eves Seele aus?", wollte er dann wissen.
„Ich wusste, dass du das fragen wirst." Ilias fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und blickte in die Ferne. „Die Seele der Schattentänzerin befindet sich noch immer in den Wolken über dem Königsreich Collis. Ein Lichtritter namens Eagon ist dort und hält uns auf dem Laufenden. Jedoch..." Er stockte und Nukritas konnte sich bereits vorstellen, wieso. Leise wispernd beendete er den Satz für den älteren Lichtritter: „...ist sie bereits so verdorben wie die von Severin."
„Wahrscheinlich sogar mehr", erwiderte Ilias und seufzte schwer aus. „Ich erlebe selten einen Menschen wie Eve. Von Anfang an war ihr Leben von Leid und Schmerzen geplagt. Hass und Wut haben sie beherrscht, angeführt von ihrem unerbittlichen Stolz. Um Eves kaltes Herz zu erweichen, muss schon jemand Besonderes in ihr Leben treten und jemand mit solch stahlharten Nerven gibt es im Land nicht."
Nukritas schloss die Augen. Er wollte solche harten Worte nicht hören, aber er wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen. Und dennoch war er sich sicher, dass er seine Schwester eines Tages erweichen konnte.
„Im Land nicht", antwortete der junge Paladin deswegen mit schwerer Stimme. „Aber dafür im Himmel."
Ilias bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, einer Mischung aus Stolz und Melancholie, doch er entgegnete nichts, sondern deutete in Richtung der Kirche der Götter. Nukritas ging mit vorsichtigen Schritten vor; das Gras umspielte seine Füße und federte seine Schritte ab, so, als würde er auf einem dicken Teppich gehen. Auf einer Weide grasten mehrere Pegasi, die die Köpfe hoben und wieherten, leicht mit ihren gewaltigen Schwingen raschelten und dann an den Zaun getrabt kamen, in der Hoffnung, die Lichtritter hätten eine Leckerei für sie.
Ilias blieb stehen und streichelte einem kleineren Pegasus die warmen Nüstern, dann sagte er: „Wir vermissen einen Pegasus. Du weißt nicht, wo es sein könnte?"
„Slugen." Nukritas rollte mit den Augen. „Ich habe keinen fauleren Pegasus als ihn kennengelernt. Belle und Cheva haben ihn mitgebracht, als sie die Himmelsebene verlassen haben."
Ilias lachte leise. „Kennst du denn viele Pegasi?"
Nukritas deutete auf die Weide voller lebhafter fantastischer Wesen. Doch dann bekam sein Gewissen einen leichten Stich und er sagte: „Es tut mir Leid... dass ich die Engel nicht zurückgeschickt habe. Jedoch-"
„Es ist gut", meinte Ilias und ließ von dem Pegasus ab, das fröhlich wieherte und die wallende Mähne in die Luft warf. „Viele Lichtritter werden von Engeln begleitet. Oder wurden es... Früher, als wir zahlreicher gewesen sind. Mutter Tirelle weiß, dass es ihren Kindern gut geht und das ist das einzige, was für sie zählt."
Tirelle, die Mutter aller Engel und auch diejenige, die Belle und Cheva gebärt hatte, war für Nukritas immer noch ein Mysterium. Genau wie ihre Schwester Ciella, die Mutter sämtlicher Ciellen-Krieger, steinernen Kämpfern, die sich jedem Befehl beugten, den man ihnen gab. Einige dieser Krieger standen vor der Kirche Wache, ihre Rüstung gefertigt aus feinstem weißen Marmor, ihre Gesichter starr und unbeweglich wie bei einer Statue. Ihre Flügel waren ledern wie bei einem Drachen und in ihren Händen hielten sie große Schilde und beeindruckende Waffen wie Langschwerter, Hellebarden oder Speere.
„Wieso hast du sie nicht mitgebracht?", fragte Ilias schließlich, während sie langsam weiterschlenderten. In der Himmelsebene ging alles recht ruhig und gemächlich zu, immerhin besaßen die Einwohner ja genug Zeit dazu.
„Es war eine eher spontane Entscheidung, hierhin zu kommen", erklärte Nukritas und dachte an seine beiden besten Freundinnen, die nun alleine in der Kirche zurechtkommen mussten. Aber wahrscheinlich warteten sie bei der Glocke auf ihn, im Schneidersitz und die Flügel sittsam am Rücken angelegt.
„Du hast doch bestimmt ein Anliegen, nicht wahr?", wollte Ilias anschließend wissen.
„Ja", gab Nukritas zögernd zu. „Ich weiß nicht, ob es wirklich eine so gute Idee war, euch um Hilfe zu bitten, aber..."
„Wir Lichtritter halten zusammen Nukritas, egal, was passiert", beruhigte Ilias ihn. „Was liegt dir auf dem Herzen?"
Nukritas erzählte Ilias von Seth, von dem sie immer noch keine Spur hatten, wo er sich aufhalten könnte. Der alte Lichtritter hörte ihm stirnrunzelnd zu und schien eine Menge Fragen zu haben, doch er stellte keine einzige von ihnen, bis der junge Paladin geendet hatte: „Und ich dachte, vielleicht kann Lichtritterin Keona ihn finden. Oder mir einen Hinweis geben, wo ich suchen kann. Seth muss wieder zu uns kommen, es ist viel zu gefährlich, ihn einfach draußen frei herumlaufen zu lassen."
„Das ist eine ernste Angelegenheit", stimmte Ilias ihm zu. „Ich hoffe, Tryson grämt sich selbst für seine Tat."
„Das tut er", meinte Nukritas mit leiser Stimme. „Er isst kaum noch und schläft nur noch selten. Was für seine Laune natürlich nicht gerade von Vorteil ist."
„Tryson war schon immer ein bisschen schwierig. Aber ich kann es ihm nicht verübeln", meinte Ilias. „Lass uns Keona suchen und schauen, ob sie uns helfen kann."
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