Sandkörner (Teil 2)
„Ihr seht bezaubernd aus", meinte Keanu und musterte sie von oben bis unten. „Shaulee, du passt auf unsere liebreizende Nouleera auf. Sie unterliegt deiner Verantwortung."
Shaulee, die in einen prächtigen, orangefarbenen Mantel gekleidet war, trat zu ihr und legte ihr beide Hände auf die Schultern.
„Natürlich", hauchte sie und lächelte ihren Anführer an, ehe sie Nora bedeutete, mit ihr zu kommen. Die Schleiertänzerin war versucht, sich auf die Lippen zu beißen, doch sie wusste, dass Shaulee sie dafür anmeckern würde, also knabberte sie stattdessen an der Innenseite ihrer Wange. Wirklich schminken und fertigmachen würden sie sich erst im Anwesen von Baron Khasib, daher reichte Shaulee Nora eine große Tasche mit allen Utensilien, die sie benötigen würden.
...sobald sie reich waren, würden sie niemals wieder ihr eigenes Gepäck tragen, geschweige denn, zu Fuß laufen müssen. Nora schwang sich die Tasche über die Schulter und erntete von Keanu zum Abschied ein aufmunterndes Nicken. Danach vertiefte er sich jedoch sofort wieder in seine Dokumente, während Dajana zu ihm schlich, um über seine Schulter zu linsen. Nora war seit ihrer Ankunft bei Keanu nur äußerst selten draußen gewesen; als junge Frau bewegte man sich nicht im Ismir, der am äußersten Stadtrand lag und sich dann in einem weiten Kreis die Stadtmauer entlang zog. Shaulee war, soweit Nora wusste, hier geboren und aufgewachsen und sie kannte die engen, stinkenden Straßen wie ihr eigenes kleines Zimmer in ihrem Lehmhäuschen.
Noch war die Sonne nicht vollständig unter gegangen, sondern zeigte sich als große, rote Scheibe am Horizont. Ihre Sonnenstrahlen tauchten die Fünfte Große Stadt in ein rotes Licht und ließ sie warm und einladend aussehen. Der Ismir war eines der größten Elendsviertel in der Stadt – insgesamt gab es drei unterschiedliche von ihnen, am äußersten Rand der Stadt, direkt neben der Stadtmauer. Auch jetzt war das gewaltige Bauwerk nur wenige hundert Fuß von ihnen entfernt und erhob sich drohend über die beiden jungen Mädchen, warf einen langen Schatten auf die Stadt.
Direkt in der Mitte von Arensentia stand das Herz, der Königliche Palast. Er war auf einem erhöhten Podium erbaut worden, von dessen Standpunkt aus man die gesamte Stadt überblicken konnte. Die verschiedenen Stadtteile in Arensentia waren in Ringen um den Palast herum angelegt und mit mehreren Treppen aus Sandstein verbunden, sodass sie sich stets auf unterschiedlichen Höhen fortbewegten. Es war ein einfaches System, jedoch sehr wirkungsvoll.
Nouleera war noch nie weiter als bis zum Marktplatz vorgedrungen. Er war der mittlere Ring in ihrer Stadt, trennte die niedere Schicht von der höheren, war groß und breit angelegt. Dort herrschte vor allen abends und nachts ein reger Betrieb, doch Nora hatte sich noch nie alleine dort hin getraut. Auf dem Marktplatz sammelten sich die meisten Gefahren und warteten nur darauf, zuschlagen zu können.
Doch heute war ihr Ziel nicht der Marktplatz, sondern der Schwarzmarkt des Ismirs. Seltsamerweise fühlte Nora sich dort erheblich wohler, obwohl sich die dunkelsten Gestalten in diesem Ort zusammentrafen, um ihre krummen Geschäfte zu erledigen. Shaulee und sie gingen durch eine enge Gasse, in der man unmöglich nebeneinander stehen konnte und traten dann auf eine etwas breitete Straße. Selbst in einem Elendsviertel brannten nachts etliche Öllampen, die von den Arbeitern der Stadt immer wieder aufgefüllt und entzündet wurden. Manch einer behauptete, in Arensentia waren die Zustände nur halb so schlimm, wie es sich anfühlte. Nora hatte nie eine andere Stadt gesehen, sie war die Hitze und den Sand gewöhnt, und konnte sich Wetterbedingungen wie Schnee oder Regen überhaupt nicht vorstellen. Für sie waren das Mythen, auch wenn Keanu erzählt hatte, dass es vor etlichen Jahren einmal einen sehr heftigen Regenguss gegeben hatte, aber... Wasser, das einfach vom Himmel fiel? Für viele im Land der Draconigena war das normal und einige hassten ihn sogar, doch für die Wüstenbewohner war dies von unschätzbarem Wert.
...wenn Nora darüber nachdachte, dann war es unglaublich faszinierend, wie unterschiedlich die Königreiche in einem einzigen, großen Land sein konnten. Nora folgte Shaulee, die sich zielsicher über die flachen Steine bewegte, mit denen die Wege in Arensentia angelegt waren. Die Glöckchen um ihre Fuß- und Handgelenke gaben kaum ein Geräusch von sich, doch sollte Shaulee ihr Tempo erhöhen, dann würde Nora in dieser Hinsicht versagen.
Sie wusste nicht, warum Keanu darauf bestand, dass sie lernte, sich so vorsichtig und leise fortzubewegen, doch es war eine Bedingung gewesen, dass er sie bei sich aufnahm, und so hatte Nora ohne großartig nachzufragen zugestimmt. Manchmal erschien ihr das Gewicht der kleinen, gold- und bronzefarbenen Glocken wie Blei und zog sie so weit runter, dass sie glaubte, im Sand versinken zu müssen. Doch in Wahrheit waren es nur ihre eigenen Zweifel, die sie in diese traurige Stimmung brachten und immer wieder musste Nora sich erinnern, dass sie dieses Leben aus eigenem Willen erwählt hatte.
Die beiden jungen Frauen kamen an einem riesigen, aus roten Steinen erbauten Haus vorbei. Licht drang durch die unverglasten Fenster heraus auf die dämmrigen Straßen und lautes Gelächter wehte zu ihnen herüber.
Der Samowar war die beste Taverne im Ismir, in der schlechte Tänzerinnen auftraten und noch schlechterer Fusel ausgeschenkt wurde, doch Nora mochte die Atmosphäre dort. Wenn man sich durch den Vorhang duckte und den Fuß über die Türschwelle setzte, dann wurde man herzlich von einer der Wirtinnen und Besitzerinnen empfangen, an einen Tisch gesetzt und sofort kamen zwei weitere Mädchen und brachten kalten Tee und süßes Gebäck an den Tisch. In dem kleinen Gebäude stand in der hintersten Ecke ein runder Tisch mit einer hübschen Kaktuspflanze als Dekoration; das Stuhlbein des rechten Stuhls wackelte ein wenig und der ganze Tisch stand so schief, dass er mit ein bisschen Stoff gerade gerückt werden musste, doch genau jener Platz war es gewesen, an dem Nouleera Keanu zum ersten Mal getroffen hatte. Damals war Klimper bei ihr gewesen, hatte dieses mysteriöse Treffen arrangiert. Seitdem hatte sie den Halb-Elf nicht wieder gesehen, sich also nie bedanken können.
Doch heute war es soweit und als der Schwarzmarkt des Ismirs in Sicht kam, zog sie die Schultern zurück und drückte die Brust heraus, um selbstsicherer zu wirken.
Shaulee ging die schmale Treppe zwischen zwei eng aneinander stehenden, kleinen Häusern hinunter und betrat das Untergewölbe, auf dessen großer Fläche, die sich über das halbe Elendsviertel erstreckte, der Schwarzmarkt stattfand. Einzig und allein mehrere Öllampen dienten zur Beleuchtung des zwielichtigen Orts und nicht wenige finstere Gestalten saßen in Ecken oder hinter ihren kleinen, aus dünnen Holz gefertigten Ständen, blickten sie unverwandt an und folgten jede ihrer Bewegungen. Nora folgte Shaulee, die sich zielsicher durch die Gassen bewegte; Klimper fand man zu ziemlich jeder Tageszeit am gleichen Ort, wenn er denn in der Stadt war, ein Grund mehr, wieso der Halb-Elf so vielen bekannt war. Bei ihrem ersten Gang hinunter in den Schwarzmarkt hatte Nora sich vor jeder Bewegung gefürchtet und war ängstlich zusammengezuckt; sie hatte ein leichtes Opfer abgegeben und wenn Klimper nicht gewesen wäre, um ihr zu helfen, wer wusste schon, wo sie gelandet wäre?
Es gab bestimmt eine bessere Wahl als Keanu, allerdings auch eine bedeutsam schlechtere. Shaulee arbeitete bereits seit Jahren mit dem Mann zusammen und schien ihre Entscheidung nie bereut zu haben.
Langsam kamen sie Klimpers Stand immer näher. Inzwischen kannte Nora etliche Gesichter des Schwarzmarktes, denn sie alle kehrten immer wieder, einige freundlich, andere weniger. Zögernd winkte sie Leeja zu, die ihr zuzwinkerte, ehe sie damit fortfuhr, einem großen Mann die Kräuter, die auf einem Tuch auslagen, zu erklären und ihre besondere Wirkung hervorzutun.
Klimper selbst kramte gerade in einer seiner Kisten herum, die unter seinem Stand verstreut herumlagen und hob erst den Kopf, als sich Shaulees Schatten über ihn senkte. Nora betrachtete seine beinahe schwarzen Haare, die in dem orangefarbenen Licht rötlich und purpurn schimmerten. Er besaß die für einen Arensentianer charakteristische, dunkle Haut, doch es war eher ein sanftes Haselnussbraun, als das tiefe Schokoladenbraun, das Shaulee besaß. Sie stemmte die Hände in ihre wohlgeformten Hüften und lächelte den Halb-Elfen an, als dieser sich langsam aufrichtete und ein bisschen Sand von seiner beigefarbenen Stoffhose klopfte.
„Wie ich sehe hat Keanu meine Nachricht bekommen."
Er nickte zu etlichen Stoffballen hin, die Shaulee sofort in Augenschein nahm. Nora trat vorsichtig aus dem Schatten hervor und der Halb-Elf bemerkte sie sofort: „Nouleera! Du bist immer noch bei Keanu? Das ist ja interessant."
„Sie macht sich ganz gut", meldete Shaulee sich zu Wort und strich mit den Fingern über den glänzenden Seidenstoff, der mit aufwendigen Stickereien verziert war. Klimper lächelte sie an und sagte: „Natürlich tut sie das. Ich habe ein Auge für Talent." Er zwinkerte ihr zu und Nora errötete unwillkürlich.
„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt...", fing sie zögernd an, doch der Halb-Elf schnitt ihr sofort das Wort ab: „Worte nützen mir in dieser Welt nichts. Du bist mir einen Gefallen schuldig und ich hoffe, dass du dieses Versprechen eines Tages halten wirst."
Nora blinzelte erst verwirrt, doch dann nickte sie. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Du kannst dich darauf verlassen", antwortete sie und näherte sich Shaulee, um sich die Stoffe ebenfalls anzusehen. „Und auch, wenn dir Worte nichts nützen, so hoffe ich, dass du daran glaubst, wenn ich dir mein Wort gebe, dir zu helfen, wenn du es für nötig erachtest."
„Lasse diesen Worten Taten folgen und ich werde dir dankbar sein", erwiderte Klimper und kam ebenfalls zu ihnen geschlendert. Er war auf eine betonte Art lässig und schien die Gefahr, die durch seine bloße Existenz hervorgerufen wurde, wissentlich auszublenden. Stattdessen setzte er ein breites Grinsen auf und fragte: „Ist es das, was Keanu sich vorgestellt hat, Shaulee?"
„In der Tat", schnurrte die Schleiertänzerin begeistert. „Wie machst du das nur?"
„Ich habe meine Methoden." Klimper zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen den Stand. Nora betrachtete sein längliches Gesicht mit den halb mandelförmigen, grauen Augen. In ihnen blitze der Schalk und ein gewisses Maß an Intelligenz; das musste jedoch auch so sein, denn sonst hätte der Halb-Elf niemals so lange in Arensentia überlebt. Dajana hatte ihr erzählt, dass Klimper sich förmlich aus dem Nichts heraus eine Existenz aufgebaut, Verbindungen geknüpft und seine Fähigkeiten genutzt hatte, um nun dort zu stehen, wo er es heute tat. Es hieß, der Halb-Elf besaß die Kontakte zu den gefährlichsten Menschen aller drei Schwarzmärkte in Arensentia und war somit so etwas wie eine goldene Fundgrube für jeden einzelnen Schurken, der Hilfe benötigte. Man mochte ihn einfach wegen seiner lockeren, offenen Art und auch wenn Nora ihn bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte, so war sie stets fasziniert von seinem unbekümmerten Charakter gewesen.
„Hast du heute noch einen Auftrag?", wollte Klimper wissen und half Shaulee, einen purpurroten Stoff auszuwickeln, damit sie sich das komplette Muster darauf anschauen konnte.
„Ja. Nora ist ebenfalls dabei; es ist ihr erster", erzählte die Tänzerin ihm und beugte sich so weit vor, dass ihre Nasenspitze beinahe die Stickerei berührte. „Wir sind bei Baron Khasib von Kleora."
Klimper erstarrte einen kurzen Augenblick. Shaulee, die mit der Musterung der Ware beschäftigt war, bemerkte dies nicht, Nora jedoch sehr wohl. Sie runzelte die Stirn und fragte: „Kennst du ihn, Klimper?"
Der Halb-Elf warf ihr einen raschen Blick zu. „Du lernst schnell", gab er zu und lächelte schelmisch. Jetzt hob auch Shaulee den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Wenn du etwas weißt, dann raus damit."
„Informationen kosten", erwiderte Klimper mit leidvoller Stimme. „Aber ihr seid gute Kunden und ich kann Keanu gut leiden. Abgesehen davon... Der Schwarm zeigt langsam Interesse an ihm."
Shaulees Kopf schoss so schnell nach oben, dass sie sogar vergaß, auf ihre Glöckchen zu achten. Laut klingelten sie, doch die Schleiertänzerin interessierte das nicht. Stattdessen wandte sie ihre volle Aufmerksamkeit zu Klimper und fragte mit Unglauben in der Stimme: „Der Schwarm?"
Der Halb-Elf nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Er hat sich in letzter Zeit einen Namen gemacht. Und die Sandkörner haben den Schleiereulen den Tanz bei Baron Khasib stibitzt. Bei solchen Situationen wird der Schwarm nun mal aufmerksam."
Der Schwarm.
Nora hatte keine Ahnung, wer genau damit gemeint war, doch es mussten besondere Persönlichkeiten sein. Alleine schon an Shaulees Reaktion merkte sie, dass mit diesem Schwarm bestimmt nicht zu spaßen war, wenn man in seine Fänge geriet.
Die Begriffe Sandkörner und Schleiereulen hingegen sagten ihr sehr wohl etwas.
Die Sandkörner, das waren sie selbst. Keanu hatte ihre Tanzgruppe so genannt, doch den genauen Grund dahinter wusste Nora nicht. Die Schleiereulen hingegen waren die berühmteste Gruppe in ganz Arensentia. Die schönsten und begabtesten Frauen tanzten dort und ihre Anführerin, Nejla, galt als schönste Frau in Arensentia, auch wenn noch niemand ihr unverschleiertes Gesicht gesehen hatte. Vollkommen in weiß gekleidet tanzten sie wundervolle, atemberaubende Tänze, wirbelten so schnell um her und bewegten sich so geschmeidig, dass einem vom bloßen Zusehen beinahe schon schwindelig wurde. Dajana hatte sie einmal mitgenommen, um ihr zu zeigen, wie eine Schleiereule sich bewegen konnte und Nora war entmutigt in sich zusammengesunken, in dem Glauben, niemals so gut zu werden.
„Das wird Keanu freuen", meinte Shaulee nachdenklich. „Wird der Schwarm Kontakt aufnehmen?"
Klimper sah sich kurz um, dann beugte er sich zur ihr und wisperte: „Er soll morgen in den Samowar kommen, gegen Abend. Ich hole ihn dann ab und bringe ihn zum Nest."
Shaulees Augen glänzten ein wenig, doch es konnte auch vom Schein der Öllampe kommen. Sie nickte und überreichte Klimper anschließend die Geldkatze voller Gold. Der Halb-Elf öffnete den Beutel und holte ein paar der Münzen heraus, wog sie prüfend in der Hand und ließ sie anschließend gegeneinander stoßen, sodass sie klimperten.
„Ihr könnt sie nach eurem Auftrag mitnehmen. Oder ich bringe sie morgen mit. Wie es euch lieber ist."
„Mir ist jetzt schon bewusst, wie es mir lieber ist", erwiderte Shaulee, die niemals auf die Idee kommen würde, solche Arbeit zu verrichten. Sie war zum Tanzen geboren, nicht zum schwer Arbeiten und an dieser Lebensweisheit hielt sie fest. Sie winkte Nora zu und die Tänzerin neigte den Kopf zum Abschied, ehe sie der Älteren folgte.
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