Sandkörner (Teil 1)
Nora wachte auf, als die Sonne unterging.
Sie hatte nicht wirklich geschlafen; es war mehr ein sanftes Dösen in der Nachtmittagssonne gewesen, die unbarmherzig auf die Stadt niederbrannte und selbst den härtesten Geist dazu brachte, sich in der angenehmen Kühle eines Lehmhauses zu verstecken. Eine Weile noch lag sie auf ihrer dünnen Matratze, die nichts anderes als das Fell eines Wüstenfuchses war – rötlich braun mit weißen Sprenkeln – ehe sie den Oberkörper aufrichtete und die Beine anzog. Die Glöckchen, die um ihre Hand- und Fußgelenke geschnürt waren, gaben keinen einzigen Ton von sich, als sie aufstand um an die Wasserschüssel zu gelangen, aus der sie sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, sich den Schlaf aus den Augen rieb und ihre samtene, durchsichtige und mehrschichtige, lavendelfarbene Kleidung zu richten. Glöckchenklingeln ertönte viel zu laut.
Ihr Zimmer verdiente diese Bezeichnung gar nicht; es war mehr eine kleine Kammer, mit einem Loch in der Wand, das als Fenster diente, wo sie einen groben Vorhang aus Stoff vorgehangen hatte, um die Hitze abzuhalten. Nora glitt über den sandigen Lehmboden hinweg und setzte sich auf die gehärteten Steine, aus denen das Haus bestand, beugte sich vor und schob den Vorhang leicht zur Seite.
Die Luft hatte sich bereits deutlich abgekühlt; die ersten Sterne funkelten am Himmel und sie konnte das Sternenbild Kreon erkennen, das sich deutlich von den anderen abhob und über die Stadt zu wachen schien. Von den unteren Etagen hörte sie bereits, wie etliche andere Mitglieder ihrer Gilde langsam aufstanden; leise Stimmen drangen zu ihr hoch und Nora erkannte deutlich die von Keanu, ihrem Anführer. Die andere Stimme war leiser, doch definitiv weiblich; sie gehörte Shaulee, einer ihrer Besten und somit auch der Person, der Nora indirekt unterstellt war.
Ihr Magen knurrte leicht. Nora spreizte die Finger und legte sie auf ihre Bauchdecke und konnte das Grummeln und Rumoren beinahe schon spüren. Sie fuhr sich mit den Fingern der anderen Hand, an denen etliche Ringe glitzerten, durch ihre samtigen, schwarzen Haare, beschloss, das sie ordentlich genug aussahen, und huschte anschließend die Treppe hinunter in den großen und einzigen Raum im Erdgeschoss, in dem sie sich alle die meiste Zeit aufhielten.
Keanu saß an einem Tisch und grübelte über ein paar Papieren, während Shaulee sich an ein paar Weintrauben gütig tat. Ihre schmalen, dunklen Augenbrauen schossen in die Höhe, als sie Nora erkannte und sie meinte: „Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du verschläfst."
„Niemals", erwiderte die Angesprochene und ging mit versucht geschmeidigen Schritten auf die hübsche Frau zu. Shaulee war das Sinnbild einer perfekten Frau aus Arensentia: Dunkle, nussbraune Haut, dicke, schwarze Haare, in denen sich ein paar blonde Strähnen verirrt hatten, dazu große, bronzefarbene Augen. Sie räkelte sich in einem luftigen Rock, der aus gerade mal drei Schichten zu bestehen schien, purpurrot und perfekt passend zu ihrer Hautfarbe. Ihr Oberteil bedeckte genauso wenig, und Nora beneidete Shaulee um ihre perfekt geformten Brüste mit den dunklen Nippeln, die sich durch den Stoff hindurch abzeichneten.
Ein leises Klingeln ertönte von ihren Fußglöckchen und Nora hielt inne, blickte schockiert nach unten.
Shaulee lächelte leicht. „Da muss noch jemand viel mehr üben", schnurrte sie wie eine Katze und warf einen Blick zu Keanu, der jedoch nur mäßig interessiert abwinkte.
„Sie ist neu", meinte er und beugte sich weiter vor, um einen Punkt auf einer grob gezeichneten Karte zu markieren.
Shaulee bot Nora ein paar der Früchte an und das Mädchen griff beherzt zu.
„Du musst dich stärken", sagte sie währenddessen. „Keanu ist im Begriff, dich heute Nacht einzusetzen."
Nora verschluckte sich beinahe an der Weintraube. Sie hustete ein wenig und nahm dann den angebotenen Kelch mit Wasser an, um sie herunterzuspülen und ihre trockene Kehle zu benetzen.
„Heute?", fragte sie und klang dabei entsetzter, als sie eigentlich vorgehabt hatte. „Aber ich dachte, ich bin noch nicht so weit..."
Shaulee beugte sich vor. „Das bist du auch noch nicht. Aber du bist nicht alleine." Sie zuckte mit den Schultern und lehnte sich dann wieder in dem moosgrünen, mit goldenen Stickereien verzierten Sofa zurück. Sie hob die Hand nachlässig und das Glöckchenband an ihrem Handgelenk gab helle Töne von sich. Keanu hob verärgert den Kopf und sein Blick schien sie durchbohren zu wollen.
„Du solltest mit gutem Beispiel voran gehen, Shau", brummte er. Die Angesprochene drehte sich lasziv auf den Bauch und winkelte die Beine an, blickte den Anführer unter ihren dichten, schwarzen Wimpern an. Nora war beeindruckt von Shaulees Wimpern; anders als andere Menschen besaß sie zwei Wimpernkränze, sodass sie noch voller und sinnlicher wirkten, als normale Schminke es jemals bewerkstelligen könnte. Nora beobachtete jede einzelne ihrer Geste, die, wie sie wusste, einstudiert war, jedoch vollkommen natürlich an ihr wirkte.
„Entschuldige, Keanu", meinte Shaulee und stützte das Kinn auf einer Handfläche ab. Kein Glöckchenklingeln war zu hören und Nora beneidete sie darum, wie spielend leicht Shaulee dieses Kunststück bewerkstelligte.
Eines Tages würde sie genauso gut sein, das schwor Nora sich.
„Nouleera, ich möchte, dass du Shaulee heute begleitest." Keanu stand von seinen Plänen auf und streckte sich ein wenig. Sein Rücken knackste leicht und er zischte, hielt sich eine Hand an das Steißbein.
„Brauchst du eine Massage?", wollte Shaulee wissen und streckte ihm eine Hand entgegen.
„Nein", knurrte Keanu und rollte die Schultern nach hinten. „Mir geht es gut. Heb dir das für deine Kunden auf."
„Och..." Shaulee rollte sich auf den Rücken und legte einen Arm über ihre Stirn. Nora pflückte sich eine weitere Weintraube ab und steckte sie sich in den Mund. Sie liebte die süßlichen, doch leicht säuerlichen Früchte über alles und genoss es, als die Haut zerplatzte und der Saft sich in ihrem Mundraum ausbreitete.
„Wer ist es denn heute?"
„Baron Khasib von Kleora. Er ist in Arensentia zu Besuch und möchte meine wundervollen Schleiertänzerinnen zumindest einmal gesehen haben."
„Kann man Kleora überhaupt als Dorf sehen?", fragte Shaulee mit einem Stirnrunzeln. „Das besitzt doch nur drei Häuser, wenn ich mich recht erinnere!"
„Setze noch eine null dahinter und rechne die riesige Jadeschuppenechsenzucht mit ein, die Khasib besitzt."
Nora hob beeindruckt eine Augenbraue. Jadeschuppenechsen waren wertvolle Geschöpfe der Wüste und bisher hatten es nur die Elfen des hiesigen Clans geschafft, die großen, wütenden Tiere zu zähmen und für ihre Zwecke zu nutzen. Dass der Baron von Kleora welche besaß machte ihn für Arensentia, der Fünften Großen Stadt, zu einem wertvollen Verbündeten.
Ein leises Glöckchenklingeln verriet ihr, dass sich jemand zu ihnen nach unten gesellte. Nora blickte zum Treppenaufgang und erkannte Dajana dort stehen, eine Hand in die prächtige Hüfte gestützt. Ihre bronzefarbene Haut schimmerte im Licht der Kerzen, die Keanu angezündet hatte, wirkte wie flüssiges Metall. Ihre Haare, ein wunderschönes, dunkles Braun mit einem starken, rötlichen Stich, waren mithilfe einer Flechtfrisur um ihren Kopf geschlungen und hingen über der rechten Schulter bis auf ihre Brust. Sie war nicht viel älter als Nora, vielleicht ein oder zwei Sommer, doch sie wirkte bereits um einiges reifer und erwachsener als sie selbst.
Nach Shaulee war Dajana ihre beste Schleiertänzerin der Gilde und selbst die hochrangigen Adeligen verzehrten sich nach ihr. Sie kam tänzelnd die letzten Treppenstufen herunter und ließ sich dann neben Shaulee auf dem Sofa nieder. Ihre durchsichtige Kleidung verhüllte nur wenig, wie bei ihnen allen, und das helle Grün wirkte auf ihrer Haut farbenfroh und sinnlich.
Man konnte über Keanu sagen, was man wollte, aber er wusste, wie man eine Frau passend einkleidete.
„Werde ich auch mitgehen?", fragte Dajana mit ihrem schweren Akzent. Sie war keine reine Arensentianerin, doch woher ein Elternteil von ihr stammte, wusste sie selbst nicht so genau. Jahrelang hatte sie in Silva gelebt, ehe sie mithilfe einer Spielmannsgruppe weggegangen war, nur, um sich schließlich Keanu anzuschließen.
„Nein." Ihr Anführer schüttelte den Kopf. „Ich brauche dich woanders. Außerdem schaffen Shaulee und Nouleera das alleine."
Dajana fixierte Nora mit ihren dunklen, warmen Augen und sie lächelte.
„Unser kleinstes Sandkorn übernimmt die größte Aufgabe? Bist du dir sicher, dass das weise ist, Keanu?" Es war nicht so, dass Dajana sie nicht mochte, im Gegenteil. Nora und sie kamen wirklich gut miteinander aus und die junge Frau hatte ihr vieles, was sie heute konnte, beigebracht. Doch leider wusste Dajana deswegen auch, wo Noras Stärken und Schwächen lagen und sie machte sie häufig Sorgen, dass Nora einen Kunden nicht zufriedenstellen konnte.
Es war nur Zufall gewesen, dass sie Keanu getroffen hatte, und Nora wusste, unter normalen Umständen wäre sie niemals eine Schleiertänzerin geworden. Wenn ihr Vater niemals diese andere Frau geheiratet hätte... Dann würde sie heute noch dort wohnen, eine einfache Bäuerin mit der Aussicht, jemanden von besserem Stand heiraten zu können.
Nun schwang sie die Hüften in wundervollen, transparenten Tüchern, um Männer zu begeistern. Ihre Mutter würde sich in ihrem Grab umdrehen, wenn sie davon erführe. Es gab viele Schleiertänzergilden in Arensentia und Keanu war bestrebt, seine eigene zu der besten und anerkanntesten zu machen. Wenn ihre Gruppe gut lief, dann würden sie aus ihrem schäbigen Haus im Ismir, ihrem Elendsviertel, ausziehen und sich ein besseres in einer wohlhabenderen Gegend leisten können. Doch bis dahin würde noch viel Zeit vergehen, doch Keanu wirkte alles andere als ungeduldig, sondern machte kleine, sichere Schritte, die zu ihrem Erfolg führen würden.
Es klopfte an ihrer Tür.
Dajana und Shaulee sahen beide zu Nora, die pflichtbewusst aufstand, um sie zu öffnen. Vor ihr stand ein verhüllter Mann und nickte ihr leicht zu, ehe er ihr einen Zettel entgegenstreckte. Nora nahm ihn an und der Fremde verschwand so schnell, wie er gekommen war. Nora schloss die Tür wieder und faltete die Nachricht auseinander.
„Was steht drin?", wollte Keanu sofort wissen
„Sie ist von Klimper. Er hat deine bestellten Stoffe", erzählte Nora, deren smaragdfarbene Augen rasch über die schnell geschriebenen Zeilen huschten.
Keanus Miene wurde heller und ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Wundervoll", meinte er und ging zu einer hölzernen Kiste, in dem sie ihr ganzes Gold aufbewahrten. Er füllte ein paar Münzen in eine Geldkatze und hielt sie Shaulee hin. Die Frau bedachte ihn mit einem Blick, dass solche Arbeit für sie unter ihrer Würde war, doch nach einem auffordernden Zucken seitens Keanu seufzte sie schwer auf und nahm sie entgegen.
„Du kannst sie mit Nora abholen, bevor ihr zu Khasib aufbrecht", erklärte Keanu. „Die Stoffe sind überaus wichtig für mich."
„Ist da denn auch etwas Hübsches für mich dabei?", wollte Shaulee wissen und wog den Ledersack prüfend in ihrer Hand. Keanu schnaubte wohlwollend aus, ehe er meinte: „Für dich ist immer etwas Schönes dabei. Klimper hat mir versprochen, exzellente Stoffe zu liefern und bisher hat dieser dreimal verfluchte Halb-Elf sein Wort stets gehalten."
Jeder in Arensentia kannte Klimper.
Auf dem Schwarzmarkt war der Halb-Elf so etwas wie eine Legende und Mythos zugleich: Man wusste, dass er lebte, konnte es aber gar nicht fassen.
Nora selbst hatte ihn nur einmal persönlich getroffen und sie faltete den kleinen Brief mehrmals in der Mitte, um ihre Nervosität zu verstecken. Shaulee richtete sich schließlich auf und streckte sich; ihr Rücken bog sich in einem perfekten Hohlkreuz und sie ließ die Hände über ihre Hüften gleiten, fühlte den samtenen, leichten Stoff und lächelte glücklich. Shaulee war eine Frau, die für dieses Leben gemacht war. Von Nora konnte man das Gegenteil behaupten und sie hoffte, dass Keanu nicht den gleichen Gedanken hegte.
„Dann wollen wir uns mal auf den Weg machen." Mit wiegenden Hüften ging sie zu einem Sessel, auf dem sich etliche, bodenlange, aus leichtem, buntem Stoff gefertigte Mäntel befanden. Shaulee wählte zwei von ihnen aus und warf einen zu Nora rüber, die ihn auffing und dann in die weiten Ärmel schlüpfte. Mit einem geflochtenen Stoffgürtel taillierte sie das Kleidungsstück und sah dann an sich herunter. Der Farbton des Stoffes glich dem mitternachtsblauen Himmel und mit großen Augen fuhr sie über die feinen Stickereien, die ein überwältigendes Bild eines Wüstenfuchses darstellten. Kleine Smaragdsplitter waren als Augen und Krallen eingenäht worden und alles in allem musste das Kleidungsstück mehr gekostet haben als Nora in einem harten Monat verdienen würde.
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