Legenden leben nicht (Teil 3)
Die Spielmannsgruppe hatte in einem der unteren Plateaus ihr Lager aufgeschlagen. Dem Anschein nach scherten sie sich nicht um den gehobenen, luxuriösen Lebensstil der Adeligen, sondern fühlten sich unter normalen Arbeitern und dem alltäglichen Dreck der Stadt viel wohler. Am Rand des Lagers hatten sich einige Kinder versammelt, brav in Reihen gesetzt und lauschten mit angezogenen Knien und großen Augen einem Mann mit hellen Haaren und strahlend blauen Augen, die Eve an die Cyanflocken erinnerte, eine spezielle Blumenart in Collis, die nur wuchs, wenn es bitterkalt war und der Schnee in Massen fiel. Er erzählte ihnen wohl etwas und seine sanfte Stimme, die selbst die kaltherzige Assassinin sofort für sich einnahm, wehte zu ihr herüber:
„Unsere Elfin und der Mensch sahen sich in die Augen und verliebten sich sofort ineinander. Und unsere beiden Schneeflocken, die vollkommen identisch aussahen, als wären sie Zwillinge, wussten, dass sie Großartiges vollbracht hatten, die beiden zueinander zu führen. Die Schneeflocken akzeptierten jeder für sich, dass sie zwar anders, jedoch nicht alleine waren, denn sie hatten sich selbst. Sie blieben jahrelang an der Seite ihrer Freunde und schlussendlich wurde in unserem Land der erste Halb-Elf geboren."
„Warum gibt es jetzt keine Halb-Elfen mehr?", fragte ein kleines Kind mit piepsiger Stimme. Der Geschichtenerzähler lächelte leicht und beugte sich verschwörerisch vor. „Es gibt sie noch", sagte er mit gedämpfter Stimme. „Aber sie verstecken sich vor uns Menschen. Sie wollen lieber alleine und für sich sein, denn viele von uns verstehen ihr wertvolles Wesen nicht."
„Meine Mama hat gesagt, die Halb-Elfen zerstören unsere Welt", meinte ein kleiner Junge, der wohl schon ein wenig älter war als die anderen. „Was sagst du dazu, Dainius?"
Der Angesprochene stand langsam auf. Auf seiner Hose zeichneten sich nasse Flecken ab, weil er im Schnee gekniet hatte und er streckte sich ein wenig, wahrscheinlich, um seine Schultern zu locken.
„Ich erzähle nur Geschichten", meinte er schließlich. „Aber wenn ihr älter seid, kann könnt ihr euch ein eigenes Bild davon machen. Und jetzt huscht von dannen, eure Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen."
Die Kinder nickten und stoben lachend auseinander. Nur der Junge war geblieben und ging zu dem Geschichtenerzähler hin. Eve konnte dessen Alter schlecht einschätzen, doch sie nahm an, dass er bereits mehr als vierzig Winter hinter sich hatte. Dainius sah auf den Kleinen herab und kniete sich dann wieder hin, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.
„Was gibt es?"
„Ich habe das hier für dich gespart", meinte der Junge mit zögernder Stimme. Er streckte eine Hand aus und ein paar Silbermünzen lagen in der kleinen Handfläche. „Weil du uns immer Geschichten erzählst. Es macht die anderen Kinder so glücklich und unbeschwert."
Dainius blickte auf das Silber nieder und ein Lächeln zierte seine schmalen Lippen Dann streckte er eine Hand aus und schloss die Finger des Kindes über die wertvollen Münzen.
„Behalte es", sagte er mit leiser Stimme. „Du brauchst es mehr, als wir. Dennoch weiß ich deine Geste zu schätzen."
Der Junge hielt sich die Hand mit dem Geld vor die Brust; seine Augen leuchteten und seine Wangen waren noch mehr gerötet, als so schon durch die Kälte.
„Danke", hauchte er, dann drehte er sich um und verließ das Lager mit langsamen Schritten. Es scheinen gute Menschen zu sein, bemerkte Lumen nachdenklich. Können sich Spielmänner so etwas überhaupt leisten?
„Diese hier anscheinend schon", wisperte Eve und ließ den Blick über den Rest des Lagers schleifen. Mehrere Personen saßen an einem Lagerfeuer und kochten; wiederum andere flickten ein Zelt oder schnitten Gemüse und Fleisch. Die meisten von ihnen trugen weite Mäntel, die Kapuzen über die Köpfe gezogen, damit ihnen nicht allzu kalt wurde. Vor einem Zelt saß ein junger Mann und jonglierte mit ein paar Bällen, ein kleines, schwarzes Wesen neben sich im Schnee liegend. Eve versuchte zu erkennen, um was für ein Tier es sich genau handelte, als sie ein kleines Räuspern neben sich hörte.
„Habt Ihr in besonderes Anliegen?"
Dainius stand neben der Assassinin und blitzte sie beinahe schon fröhlich an. Das Blau seiner Augen wirkte unnatürlich und die Schattentänzerin, die generell keine körperliche Nähe bevorzugte, wich vor ihm ein kleines Stückchen zurück, stieß dabei gegen einen großen Karren, der mit etlichen Decken beladen war, anscheinend, um die Ware darunter vor dem Schnee zu schützen. Ein paar Pferde standen angebunden an einer Hauswand, doch es waren normale Reittiere, keine Kresota wie Tango. Dennoch schienen sie robust zu sein und dank der Decken auf ihren Rücken schienen sie mit dem Wetter auch keine Probleme zu haben. Ungefähr fünf Zelte standen herum, wovon eines bedeutsam größer als der Rest war. Vielleicht war dies eine Art gemeinschaftliches Zelt für wirklich schlechtes Wetter, ansonsten konnte sich Eve keinen Reim auf diesen offensichtlichen Unterschied machen. Die Spielmannsgruppe schien ungefähr ein Dutzend Mitglieder zu besitzen; eine vollkommen legitime Größe, meistens waren sogar noch mehr mit von der Partie.
„Der Blutwolf schickte mich zu euch", antwortete Eve und hielt Tangos Zügel fester, denn das Pferd schien sich zu den anderen gesellen zu wollen. Dainius bemerkte das und quittierte dies mit einem einfachen: „Lasst sie doch los; sie wird schon nicht weglaufen", ehe eine weitere Stimme sie unterbrach: „Barry hat sie geschickt?"
Eve sah sich um. Der Jongleur vor dem Zelt war aufgestanden; seine Bälle lagen achtlos im Schnee und er kam mit einigen Schritten zu ihnen. Er musste jünger als sie selbst sein, besaß dunkles, schokoladenbraunes, unordentliches Haar, die er wohl selbst schneiden musste, so unregelmäßig, wie die Spitzen aussahen. Seine Haut war blass, die Gesichtszüge weich und sympathisch, doch am meisten zogen Eve die meeresgrünen Augen an, die zum Rand hin einen leicht bräunlichen Schimmer besaßen. Seine Stimme war hell, noch lange nicht so faszinierend wie die von Dainius, doch an seiner Haltung war etwas, das Eve irgendwie seltsam vorkam. Sie konnte nicht sagen, was genau es war, doch es schien, als würde der Jongleur irgendwie... standhafter sein als andere Menschen.
„Wie unhöflich von mir. Ich heiße Korvin." Er streckte die Hand aus, die Eve geflissentlich ignorierte.
„Eve", meinte sie stattdessen knapp. „Und wenn der Blutwolf mit wirklichem Namen Barry heißt, dann ja. Er hat mich geschickt."
„Wir können ihr nicht vertrauen, wenn er sie geschickt hat", zischte Korvin Dainius zu. Dieser schüttelte nur den Kopf und antwortete mit normal lauter Stimme: „Nur weil du dich mit ihm gestritten hast, heißt das noch lange nicht, dass er uns Böses will."
„Sieh dir ihren Schatten an. Du weißt, was das bedeutet."
Eve schaffte es gerade eben noch, nicht zusammenzuzucken. Sie wirbelte herum und sah einen weiteren Mann hinter sich stehen. Er war kleiner als sie, besaß einen sehnigen Körperbau und seine Kleidung wirkte so, als würde er sie schon etliche Jahre tragen. Das Auffälligste an ihm allerdings waren die seltsamen, silbernen Konstruktionen, die er an seinen Händen trug: Ein breiter Ring um seine Handgelenke, von denen jeweils zehn lange Stränge ausgingen, die an der Ober- und Unterseite der Finger entlangliefen. Im zweiten Segment wurden sie zusätzlich von einem kleinen Ring gehalten und schlussendlich endeten sie ihn kurzen, spitzen Dornen auf den Fingerkuppen, die schon beinahe wie Krallen aussahen.
Seine Handflächen waren blutig und aufgerissen; mehrere Narben und halb verheilte Wunden zeugten von alten Verletzungen mit diesen Waffen und Eve wusste mit einem Schlag, wen sie vor sich hatte.
„Ihr seid Jackal Silberklaue", meinte sie. „Ein ziemlich gefährlicher Kämpfer, wenn ich mich nicht irre." Sie hatte während ihrer Ausbildung zum Assassinen von dem Mann gehört. Wer der Spielmannsgruppe zu nahe kam oder sich mit ihr anlegte, bekam es mit Jackal zu tun – einem waschechten, geschickten Kämpfer, den angeblich noch nichts zu Boden gezwungen hatte. Jackal starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht an. Kein Deut eines Lächelns zierte seine Lippen und in seinen Augen fehlte ein gewisser Glanz. Dennoch wirkte er nicht so wie Feyjassan, der halb tot gewesen war, sondern eher so, als schien er emotionslos zu sein.
Das war natürlich unmöglich und Eve bewunderte Jackal für dessen schauspielerische Leistung.
„Solltest du nicht Angyly helfen?", fragte Dainius belustigt.
„Keine Lust." Jackal drehte sich um und schien das Interesse an ihnen verloren zu haben. Eve sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher und fragte: „Ist er immer so?"
„Ja." Korvin stellte sich neben sie und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. „Aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran." Dann linste der Jongleur auf ihren Schatten. „Er geht ja zum Licht hin!"
„Das ist das Merkmal der Schattentänzer. Dann scheint Ihr die junge Frau zu sein, nach der gesucht wird", stellte Dainius beinahe schon im Plauderton fest.
„Und die nicht gefunden werden will", fügte Eve hinzu. „Ich will aus der Stadt raus. Und der Blutwolf meinte, ihr könntet mir dabei helfen."
„Wir nehmen keine neuen Mitglieder auf." Korvin zuckte mit den Schultern. „Zu gefährlich."
„Was ist an euch denn schon gefährlich?", fragte Eve mit spöttischer Stimme und ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. „Da hatte ich mehr Angst vor dem Narren."
„Man sollte Baranger nicht unterschätzen", erwiderte Dainius. „In ihm schlummern sehr große, magische Kräfte. Außerdem hat er sich mit Rrustem verbündet und steht unter seinem besonderen Schutz."
„Legenden leben nicht. Rrustem ist seit langem tot." Eve kannte die skurrile Geschichte von gefährlichen, mordlustigen Echsenmenschen, so genannten Scheusalen, nur zu gut. Einst sind sie Menschen gewesen, die von den Alchemisten zu diesen grauenvollen Mutanten gemacht worden waren; einige behaupteten, dass sie sich fortgepflanzt hatten, um nicht auszusterben, aber die Assassinin bezweifelte dies zutiefst: Wenn diese Wesen, die zehn Mal stärker als ein normaler Soldat waren, wirklich noch lebten, dann hätten sie sich längst schon zu erkennen gegeben.
„Wir können sie nicht mitnehmen", beharrte Korvin, als habe er ihren Einwand gar nicht gehört.
„Wir lassen Aatos entscheiden", antwortete Dainius. „Du weißt, dass nur er das darf. Er ist unser Anführer." Bei der Erwähnung dieses Namens schlich sich ein trauriger Ausdruck auf Korvins Gesicht und er senkte betrübt den Kopf.
„Natürlich", murmelte er und sah dann an seinem Bein herunter. Eve folgte seinem Blick und erkannte das kleine Wesen wieder, das nun jedoch wach und zu ihnen gestapft gekommen war. Zu ihrem Erstaunen erblickte sie einen kleinen Greif mit tiefschwarzen Federn, durchsetzt von einigen, goldenen Akzenten. Das Tierchen breitete die Flügel aus und öffnete den Schnabel; ein leises Gurren war zu hören, als Korvin es hochhob und anfing, im Nacken zu kraulen. Die giftgrünen Augen hingegen fixierten Eve unentwegt.
„Ich glaube, sie ist hungrig", erklärte er mit glasigem Blick, als würde er in vergangenen Erinnerungen schwelgen. „Ich werde sie füttern."
Dainius nickte nur, dann wandte er sich wieder an die Assassinin. „Korvin hat nicht ganz unrecht; es ist ein Risiko, jemanden zu helfen, der nicht zu uns gehört. Allerdings habt Ihr selbst Probleme und ich bin mir sicher, wir können uns einigen. Aber zuerst möchte ich Euch Aatos vorstellen."
Eve fühlte sich mit einem Mal beobachtet. Sie drehte den Kopf leicht und erkannte aus den Augenwinkeln heraus Jackal an einem der Karren stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, und sie fixierend. Die Schattentänzerin wunderte sich über dieses Verhalten und ihr kamen die Worte des Blutwolfes wieder in den Sinn. Diese Spielmänner verbargen etwas und waren nicht das, was sie vorgaben zu sein. Doch sie waren derzeit Eves einzige Möglichkeit, unbemerkt aus der Stadt herauszukommen, deswegen ließ sie Tangos Zügel los und vertraute darauf, dass der Kresota schon nicht weglief. Tatsächlich gesellte sie sich sofort zu den anderen Pferden und eine kleine, zierliche Frau trat zu ihr und bot ihr wohl ein wenig Hafer in einem Beutel an. Bei der Bewegung verlor sie ihre Kapuze ein wenig und Eve erkannte die bläulich-violette Farbe ihrer Haare. Einzelne, von Natur aus gefärbte Strähnen waren nichts ungewöhnliches im Land der Draconigena und man konnte daran immer ziemlich gut erkennen, aus welchem Königreich eine Person stammte, doch solch intensive Farben hatte sie noch nie gesehen. Binnen weniger Augenschläge erkannte sie die spitzen Ohren, die unter ein paar Strähnen hervorlugten und obwohl sie am liebsten ruckartig stehen geblieben war, ging sie souverän weiter, ließ sich nichts anmerken.
„Ja", hörte sie Dainius vor sich sagen. „Angyly ist eine Halb-Elfin."
War das das große Geheimnis der Spielmannsgruppe?
Dass sie ein Wesen versteckten, das normalerweise getötet würde?
Eve wusste nicht warum, doch Halb-Elfen schienen für den Adel eine ungeheure Gefahr darzustellen, weswegen man sie seit etlichen Jahren systematisch jagte und ermordete Heutzutage lebten nur noch wenige von ihnen und es wurden immer weniger, denn nicht viele schafften es, sich lange genug zu verstecken. Doch Angyly wirkte glücklich und unbeschwert, während sie schüchtern Tangos Nüstern streichelte. Ihre Augen glänzten und sie lachte leise, drehte den Kopf, bis sie Jackal fand und ihm strahlend winkte.
Dainius blieb vor dem riesigen Zelt stehen und öffnete die Klappe. Er steckte den Kopf rein und murmelte mit fragender Stimme etwas. Den genauen Wortlaut konnte Eve nicht verstehen, doch es schien die Stimme eines alten Mannes zu sein, so knarzig und abgehackt wie sie klang.
„Du kannst reinkommen. Aber ich warne dich – hintergehst du uns, wirst du hier nicht lebend herauskommen."
Das war eine Drohung, die Eve schon häufiger gehört, die sich jedoch nie bewahrheitet hatte. Sie warf den Kopf in den Nacken und tauchte unter Dainius' Arm hinweg in das Innere des Zeltes, in dem es mollig warm war. Die Assassinin blickte nach vorne und würde der schlaksige Geschichtenerzähler nicht direkt hinter ihr stehen, wäre sie wohl direkt wieder herausgerannt. Selbst Lumen, die ja sonst immer was zu sagen hatte, fand keine Worte bei dem, was sie durch Eves Gedanken huschen sah.
Denn vor der Schattentänzerin räkelte sich am Boden eine Legende.
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