Legenden leben nicht (Teil 1)
Eve rieb eine erneute Ascheschicht auf Tangos rostrote Flecken in ihrem Fell.
„So ein Blödsinn", murmelte sie vor sich hin. „Warum hat sich Severin kein unauffälligeres Pferd aussuchen können?"
Das wäre ja langweilig, kommentierte Lumen. Ein großartiger Schattentänzer verdient ein großartiges Pferd. Einen kurzen Augenblick schwieg sie. Wie du.
Die Assassinin wusste nicht so recht, ob sie sich tatsächlich als großartig bezeichnen konnte, doch sie ließ ihre Tätowierung in dem Glauben. Eine Diskussion mit Lumen war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte.
Glücklicherweise blieb Tango vollkommen ruhig und schien sich an dem Dreck in ihrem Fell nicht sonderlich zu stören. Stattdessen streckte sie die Schnauze vor und berührte mit den Nüstern sanft die eines karamellfarbenen Hengstes, der wieherte und allem Anschein nach ziemlich erfreut mit den Hufen scharrte.
„Euer Pferd scheint sich für Olliver zu interessieren", meinte eine Stimme. Eve linste zur Seite und erkannte den Besitzer des Hengstes neben dem abgebrannten Feuer knien, den Versuch tätigend, der schwarz-grauen Asche erneut ein paar wärmende Funken zu entlocken. Die Assassinin zog sich ihre Kapuze noch weiter ins Gesicht und antwortete nicht; stattdessen klopfte sie Tango freundschaftlich auf den Hals und machte sich anschließend daran, ihre Taschen zu kontrollieren, ob sie auch nichts vergessen hatte.
Dieses Ritual machte sie inzwischen täglich, seit knapp zwei Wochen und dennoch ließ Eve ihre innere Unruhe nicht wirklich los. Sie hatte nichts von dem Kampf zwischen Nukritas und Severin mitbekommen, aber sie wusste, dass ihr Mentor verloren hatte. Und nachdem dies geschehen war, hatte Eve schnell handeln müssen:
Leif und Quentin waren festgenommen worden, ebenso wie Armando. Sie selbst hatte es gerade eben geschafft, ein paar nützliche Utensilien aus der Schokolaterie einzustecken, sich einen langen Mantel und Tango zu schnappen und in das Elendsviertel von Collis zu fliehen. Jeder, der die Stadt verließ, wurde kontrolliert und inzwischen war Eves Gesicht nicht mehr unbekannt. Doch hier, in dem heruntergekommenen Gebiet der Dritten Großen Stadt, schien niemand wirklich nach ihr zu suchen – und wenn doch, dann würde sie niemand erkennen. Tango war getarnt und konnte nun als erstaunlich großes Pferd durchgehen, während sie selbst darauf achtete, niemanden zu nahe an sich treten zu lassen. Und dennoch hatten sich die ersten Tage als nicht einfach gestaltet. Gerade Tango war recht störrisch gewesen und als Kresota hatte sie die besondere Eigenschaft, ihren Herren treu zu bleiben. Eve hatte mehrere Tage gebraucht, dem Pferd verständlich zu machen, dass Severin nicht wieder kommen würde und schlussendlich hatte sich Tango damit abgefunden, mit Eve zu reisen. Immerhin kümmerte sich die Schattentänzerin um das Pferd und die beiden verband zumindest ihre gemeinsame Erinnerung an Severin. Zwar würde es wohl noch Monate, wenn nicht Jahre, dauern, bis Tango sie als neue Herrin akzeptierte, aber Eve durfte auf ihrem Rücken reiten und wurde nicht mehr gebissen, wenn sie ihr einen Apfel zum Fressen hinhielt.
Eve hatte schon häufig unter schlimmen Bedingungen gelebt, aber das hier war wirklich ihre härteste Prüfung. Es schneite, der Winter war endgültig hereingebrochen und verwandelte das Land in ein wunderschönes, grausames, glitzerndes und todbringendes Wunderland. Ihr Mantel war von guter Qualität, gefüttert und hielt sie somit genügend warm, dennoch fror sie in den Nächten erbärmlich. Tango, die zwar in Silva gezüchtet, jedoch in Collis aufgewachsen war, besaß ein erstaunlich dickes Fell, um den Temperaturen zu widerstehen – Kresota-Pferde besaßen generell eine sehr gute Anpassungsgabe, weswegen sie ja auch so beliebt bei den Adeligen waren. Glücklicherweise war Eve nie eine der Personen gewesen, die ihre Umgebung begutachteten und bewunderten und der Schattentänzerin war schnell klar geworden, dass der Winter ihr einen entscheidenden Vorteil verschaffte: In der klirrenden Kälte und dem immerwährenden Frost gingen selbst die Wachen nur äußerst ungerne auf Patrouille und sie war, gerade in den unansehnlichen Elendsvierteln, erst einmal sicher.
... sie benötigte nur einen Plan, aus der Stadt herauszukommen.
Anfangs hatte Eve versucht, mithilfe des Schattenreiches zu entkommen, doch sie war noch nicht stark genug, außer sich selbst noch Tango auf die andere Ebene zu verfrachten, von daher war dieser Plan schnell wieder in Vergessenheit geraten. Bisher hatte sie noch keinen Anhaltspunkt gefunden, wie sie schnellstmöglich aus der Stadt herauskam und ihr dämmerte der Gedanke, dass sie wohl den harten Winter aushalten musste, bis das Königspaar den Glauben besaß, sie sei schon längst über alle Berge geflohen.
Oder erfroren.
Letzteres war ihr lieber, denn Eve bevorzugte es, als tot zu gelten, sodass niemand nach ihr suchen würde. Die Assassinin sah zu der kläglichen Feuerstelle und überlegte einen Moment, die Nacht hier zu verbringen. Allerdings sah der Mann so aus, als würde er versuchen wollen, ihr näher zu kommen und Eve konnte sich keine weitere Aufmerksamkeit leisten. Also griff sie nach Tangos Zügeln und drehte sich um.
„Auf Wiedersehen. Möge Chalwa Euch beschützen!", rief er ihr hinterher. Eve starrte nur stur geradeaus, Tango folgte ihr braven Schrittes und gemeinsam drangen sie immer weiter in das Elendsviertel ein. Hier gab es nur wenige Häuser, die man als heile bezeichnen konnte; den meisten fehlten Fenster und Türen, teilweise waren ganze Mauern rausgerissen und lagen als große Steinhaufen irgendwo mitten auf den Wegen. Aber selbst ein solch vollkommen kaputtes Haus war gegen die Kälte besser, als ohne den Ansatz von Schutz auf der Straße übernachten zu wollen. Bisher hatte die hochgewachsene Frau immer einen Unterschlupf gefunden, meist für sich und Tango alleine. Eingekuschelt in ihren Mantel auf dem harten Boden hatte sie stets Stunden gebraucht, um einzuschlafen, bis ihr schließlich irgendwann die Augen zugefallen waren. Am Morgen dann wurde sie vom Licht und erneut herunterfallenden Schneeflocken geweckt, hatte ihre Sachen geordnet, Tango mit mehr Schmutz eingerieben – denn ihre roten Flecken waren hartnäckig und kamen selbst durch die dickste Schicht wieder durch – eine Kleinigkeit gegessen und sich anschließend ein paar Stunden Ruhe gegönnt, ehe sie weitermarschiert war. Sie wusste, dass sie niemals am gleichen Ort zu lange bleiben durfte; die unteren Plateaus waren größer als die oberen, somit war es einfach, sich jede Nacht woanders zu verstecken.
Die schlimmsten Zeiten waren die, in denen sie sich ausruhte und ihre Gedanken nicht länger ausblenden konnte. Dann kamen in ihr sämtliche Emotionen hoch, die sie am liebsten vollständig aus ihrem Körper verbannen würde. Sie hasste Gefühle, außer denen, die ihr nützlich sein konnten, wie Hass oder Wut. Ja, wenn sie wütend war, dann schienen sich ihre Fähigkeiten ins Unermessliche zu steigern. Zwar hatte Severin versucht, aus ihr einen warmherzigen Menschen zu machen, doch er war bei ihr immer auf Granit gestoßen. Und jetzt, wo er tot war, würde Eve erst Recht nichts an ihrer Persönlichkeit ändern. Bisher war sie sehr gut so durchgekommen, wie sie war, und das würde sich auch in Zukunft wohl nicht wirklich anders gestalten.
Eve holte aus ihrer Tasche ein kleines mit Schokolade überzogenes Brötchen heraus. Durch die Kälte war es angefroren, aber noch essbar und die Assassinin spürte, wie die dünne Glasur beim Zubeißen krachte und sich der süßliche Geschmack auf ihrer Zunge ausbreitete. Doch ihre Gedanken kreisten nicht um ihre kleine Mahlzeit, sondern um einen zerknitterten Brief, den sie in ihrer Tasche mit sich trug. Er knisterte leicht, während sie durch die verdreckten Straßen ging, und die Worte, die Severin aufgeschrieben hatte, hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Eve.
Everette.
Meine Tochter.
Wenn du diese Zeilen zu Ende gelesen hast, dann wirst du mich hassen. Ich kenne dich gut genug, um dich dahingehen einschätzen zu können. Aber bevor ich zu dem heiklen Thema komme, möchte ich dir sagen, wie unfassbar stolz ich auf dich bin. Ich kann selbst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, nicht wahrhaben, was für eine starke, selbstbewusste und talentierte Frau du geworden bist – und das, obwohl du so viel in deinem Leben erlebt hast, was viele andere Menschen wohl vollkommen aus der Bahn geworfen hätte.
Ich bin nie der Vater gewesen, der ich hätte sein wollen. Ich habe meine Tochter weggegeben, nur, um zu verlangen, dass sie zu meiner Assassinengilde gegeben wird, damit ich mich um sie kümmern konnte. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie man dich zur Sklavin machte.
Ich habe meinen Sohn auf die Türschwelle der Kirche der Götter gelegt, in der Hoffnung, er wird ein gutes und erfülltes Leben ohne mich haben.
Ich hätte euch beide – dich und Nukritas – gerne besser kennengelernt und stelle mir vor, was aus uns geworden wäre, wenn ich kein Schattentänzer gewesen wäre. Ein normaler Mensch mit einer normalen Familie? Ohne Leid und Schmerzen?
Das ist eine angenehme Vorstellung.
Doch leider kommt es meistens nie so, wie man es sich gewünscht hätte.
Auch für dich nicht.
Nukritas wird mich heute töten, das habe ich im Gefühl. Und selbst, wenn er nicht siegen kann, ich werde ihn siegen lassen. Ich muss diesem Kampf von Licht und Schatten ein vollkommenes Ende setzen und ich werde dies auch tun.
Und hier, Eve, hier kommst du ins Spiel, denn der Lichtritter, Nukritas-Vojin, ist dein Bruder.
Ich habe dir nie etwas gesagt, denn ich wollte dich nicht noch mehr aufregen. Aber es ist die Wahrheit. Ich selbst habe den Fehler begangen, meinen eigenen Bruder zu töten und ich bitte dich, es mir nicht gleichzutun. Natürlich weiß ich, dass du und Nukritas vollkommen unterschiedlich seid, doch er ist die einzige Familie, die du noch besitzt. Und deswegen bitte ich dich, dass du nicht gegen Nukritas kämpfen wirst, Eve. Du bist seine große Schwester und solltest auf ihn aufpassen, statt ihn vernichten zu wollen.
Das Gold in dem Beutel ist die restliche Belohnung für den Mord an Prinz Serage. Es wird wohl für eine Weile reichen, damit du dir erst einmal keine Sorgen um deine finanzielle Situation machen musst.
Kümmere dich gut um Tango.
In Liebe,
Severin
Zuerst hatte die Schattentänzerin den Brief zerknüllt und weggeschmissen. Doch nur wenige Stunden später war sie auf Knien auf dem dreckigen Boden herumgekrochen, hatte vergeblich das Stückchen Papier gesucht, bis sie es wieder in ihren zitternden Händen gehalten hatte. Mit Severins letzten Worten an ihre Brust gedrückt, war sie schlussendlich eingeschlafen, hatte wilde Träume gehabt, bis es Lumen irgendwann zu viel geworden war und ihre Tätowierung ihr sämtliche Bilder aus ihrem Kopf gestohlen und nichts anderes als Schwärze hinterlassen hatte. Eve hatte diesen Umstand zwar begrüßt, dennoch war sie entkräftet am nächsten Tag aufgewacht und hatte mehrere Stunden gebraucht, sich aufraffen zu können.
Dieser Lichtritter ist noch hier, meinte Lumen, die wie immer ihre Gedanken las.
Willst du ihn herausfordern?
Eve wusste, dass sie Severins Nachfolge antreten sollte, doch gleichzeitig... Ihr Lehrer hatte sie darum gebeten, ihren... Bruder (es fiel ihr schwer, so von einem ihr gänzlich Unbekannten zu denken) nicht zu verletzten, geschweige denn zu töten, und auch wenn Eve sonst niemand war, der solche lächerlichen, letzten Wünsche erfüllte, so stammte er von Severin und die Assassinin wollte ihn in Ehren halten.
Das weiß ich noch nicht, antwortete sie stattdessen. Erst einmal muss ich aus dieser Stadt fliehen.
Inzwischen wurde es immer dunkler und die Schattentänzerin schlang sich ihren Mantel enger um den Körper. Eiszapfen hingen von den kaputten Dächern und Fenstersimsen, trügerisch schön in der kalten Landschaft. Die Dinger konnten gefährlich werden und sie selbst hatte einen benutzt, um jemanden, der ihr zu aufdringlich gewesen war, zu töten. Ein direkter, kräftiger Stich ins Herz und der junge Mann hatte nur Blut gespuckt, um anschließend leblos zusammenzubrechen. Sie besaß zwar noch immer keine richtige Waffe, abgesehen von dem kleinen Dolch, den sie aus der Schokolaterie hatte mitgehen lassen, und ihre Gedanken wanderten zu ihrem Krallenhandschuh, den sie vor Monaten verloren hatte. Äußerlich gesehen war er nichts Besonderes gewesen, nur ein abgewetzter, brauner, ellenlanger Handschuh, doch wenn man einen Mechanismus in der Handfläche betätigte, hatten sich drei lange, silbern glänzende, scharfkantige Krallen aus dem gefütterten Leder geschoben und somit eine todbringende Waffe dargestellt, die Eve äußerst gerne genutzt hatte.
Der berühmte Krallenhandschuh der Krallenassassinen, die es bekanntlich nicht mehr gab. Da Chester angeblich tot war, war sie allem Anschein nach das letzte, übrig gebliebene Mitglied.
...der Gedanke war seltsam und ganz langsam blieb die Assassinin stehen. Sie dachte daran zurück, wen und was sie alles bereits in ihrem Leben verloren hatte, bis ihr, mit einem plötzlichen Schlag bewusst wurde, dass sie im Endeffekt niemanden mehr hatte, zu dem sie gehen konnte.
Sie könnte natürlich versuchen, Armando und die anderen vor dem Galgen zu retten, doch die Schattentänzerin war nicht auf den Kopf gefallen und wusste, dass ein solcher Versuch nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Sie könnte versuchen, nach Amphitrite, der Ersten Großen Stadt, die im Nordwesten des Landes lag, zu gelangen, um ihren alten Magierfreund Aleko aufzusuchen, doch dieser Weg erschien ihr zu lang, außerdem würde sie nichts gewinnen und wäre irgendwann von dem selbstverliebten Mann nur genervt.
Was ist eigentlich mit Pagannax?, wollte Lumen wissen. Wurde er damals von Chester umgebracht?
Pagannax war der Zwergenschmied gewesen, der ihre Krallenhandschuhe angefertigt hatte. Wie es ein solches Wesen zu dieser Gilde geschafft hatte, hatte Eve nie wirklich herausfinden können, doch sie glaubte, sich zu erinnern, dass Chester zwar sämtliche Assassinen ermordet, jedoch einige der Bediensteten verschont hatte. Ob Pagannax nun darunter gewesen war oder nicht vermochte sie nicht zu sagen, doch ein kleiner Funken Hoffnung keimte in ihr auf – vor allem, weil der Zwerg in all den Jahren sein Handwerk mit Sicherheit noch nicht verlernt hatte.
Wenn Pagannax überlebt hatte, dann war er vielleicht in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Mittelgroßbergstadt.
Als Eve noch eine Sklavin gewesen war, hatte er es ihr erzählt und die Zwerge bewohnten das Innere des Unüberwindbaren Gebirges. Also waren sie im Endeffekt in Eves unmittelbarer Nähe.
... es war nur eine Hoffnung, doch Eve würde wohl kein besserer Plan als dieser auf die Schnelle einfallen, denn wenn sie floh, musste sie wissen, wohin. Die Zwerge besaßen überall etliche versteckte Eingänge im Unüberwindbaren Gebirge und hatten sogar direkte Handelswege ins Königreich Collis erlaubt, obwohl sie meistens lieber nur für sich blieben.
Doch es war ein Plan und Eve war bestrebt, alles daran zu setzten, solange sie nur einen Weg fand, zu überleben.
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