Keine Monster (Teil 4)
„Warte." Korvin hielt sie zurück, als Eve sich schon umgedreht hatte. Die Assassinin war ein wenig verärgert; sämtliche Freunde von Severin waren tot und die Hinrichtungen vorbei.
Was sollte denn noch kommen?
Als Eve über die Schulter blickte, weiteten sich ihre Augen. Fünf Wachen traten auf das Podest und hielten in ihrer Mitte zwei junge Menschen, kaum älter als zwanzig Winter. Sie gaben ihnen einen festen Stoß und beide fielen auf die Knie, vor der gesamten Menschenmenge. Eve erkannte, dass ihre Hände mit einer Eisenkette vor dem Körper zusammengebunden waren, ebenso wie ihre Füße. Zwar besaßen die Ketten ein wenig Spiel, damit die beiden Personen selbst hatten laufen können, dennoch waren sie in ihrer Bewegungsfreiheit arg eingeschränkt. Eve fragte sich, welche schrecklichen Verbrecher solche Sicherheitsmaßnahmen erforderten und betrachtete die beiden genauer.
Die Frau, eine rothaarige Person, hob zuerst den Kopf. Ihre Haut war schneeweiß, die Augen groß, doch sie blickte nicht ängstlich umher, sondern eher hasserfüllt. Sie trug ein einfaches, graues Kleid, das sämtliche Vorzüge ihrer Figur verdeckte; ihre Haare waren verfilzt und lang und eine Schmutzschicht bedeckte ihren gesamten Körper. Sie sah sich einmal auf den ganzen Platz um, dann wandte sie sich dem Jungen zu, der neben ihr kauerte. Vorsichtig legte sie beide Arme um ihn und zog ihn zu sich heran, denn er zitterte, und Eve konnte mit Bestimmtheit sagen, dass er es nicht wegen der Kälte tat, auch wenn er nur ein einfaches Hemd und eine Stoffhose trug, die kaum genug Haut bedeckte, als dass die Kälte nicht gefährlich werden konnte. Doch etwas an dem Jungen war seltsam; als er einen Arm hob und sich an der Frau festhielt, erkannte sie an dessen Handgelenk eine Naht, als wäre er an diesem Körperteil zusammengenäht worden. Die Haut dort klaffte blutig-rot auf, schien ausgefranst zu sein. Die Ränder wölbten sich leicht nach außen, verdeckten die groben Stiche nur halbwegs und schienen nie wieder zusammenwachsen zu können.
...und trotzdem konnte er seine Hand bewegen und er tat dies ohne Schmerz, außer, er hatte sich schon so sehr an ihn gewöhnt, dass er ihn nicht mehr bemerkte. Langsam hob auch er den Kopf; seine zerzausten, braunen Haare hingen ihm über die Stirn in die großen, grauen Augen, seine Atmung ging unkontrolliert und er rückte näher zu der Frau heran. Er war vollkommen verängstigt und schluckte schwer, ehe er den Kopf ergeben senkte und still vor sich hin zitterte.
„Vrinda und Klaif", ertönte die Stimme des Henkers, der hinter sie getreten war. Ladonnis hatte sich ein wenig zurückgezogen und wurde von seinen Wachen umringt, als hätten sie Angst, dem König könne etwas passieren. Eve runzelte die Stirn... wer waren diese beiden Menschen, dass man sie als so gefährlich einschätzte?
Die Antwort würde sie in wenigen Wimpernschlägen erhalten.
„Geborene Mutanten."
Die Menschenmenge keuchte auf und wich einen Schritt zurück. Neben ihr spannte sich Korvin an; er biss die Kiefer fest aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten, und schien drauf und dran zu sein, die Bühne stürmen zu wollen.
Eve legte ihm eine Hand auf den Arm und erinnerte ihn: „Nimer hat gesagt, du sollst keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen."
Der Jongleur senkte den Kopf.
„Ich weiß", brachte er schließlich hervor. „Aber sie sind wie ich. Nur ohne das Glück, das ich besitze."
„Vor sechzig Jahren wurden sie von einem Alchemisten in die Welt gesetzt. Diesen haben wir vor kurzem entdeckt und ihm seine gerechte Strafe erteilt: Den Tod", fuhr der Henker fort.
Die Leute um sie herum jubelten auf. Alchemisten waren die verpöntesten Menschen im gesamten Land; ihre Taten waren widerlich gewesen, abstoßend und ekelerregend... und es war verwunderlich, dass einige tatsächlich glaubten, sie könnten mit dieser Tätigkeit durchkommen. Aber noch schrecklicher als ihre Erschaffer waren die Mutanten. Jeder hatte Angst vor ihnen, jeder hasste sie, jede verstieß sie... Eve blickte zu Korvin und dachte an die anderen Mutanten der Spielmannsgruppe. Sie verstand, wieso Aatos wollte, dass er hierhin ging: Er sollte nachschauen, ob es sich bei Vrinda und Klaif tatsächlich um zwei der ihren handelte.
„Und heute werden sich seine Experimente ihm anschließen."
Laute Bejahungsrufe waren zu hören und Eve schaffte es nur schwer, Korvin davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen und gleichzeitig sich selbst zu ermahnen, keine unbedachte Aktion zu starten.
Klaif hob den Kopf und sah sie alle an. Einen Moment hatte Eve das Gefühl, er würde direkt in ihre Richtung blicken, als er den Mund öffnete und mit heller, beinahe schon kindlicher Stimme fragte: „Wieso... müssen wir sterben? Ich... ich habe nichts getan..."
Er klang so verletzlich, so hilfesuchend und so verzweifelt.
„Seht sie euch an! Es sind Monster!", rief der Henker und breitete die Arme auf. Klaif streckte die Hände von sich und hielt sie sich vor die Augen; das schwarze Garn leuchtete regelrecht auf seiner hellen Haut und er schluchzte ein wenig.
„Bin ich... wirklich... ein Monster?", fragte er mit schwacher Stimme, doch er schien mehr mit sich selbst zu reden, als mit irgendeinem anderen. Er wusste nicht, wieso er dort oben saß oder was er getan hatte, um diese Behandlung zu verdienen.
In diesem Moment überlegte Eve tatsächlich, ob sie einschreiten sollte. Eigentlich waren ihr Schicksale von anderen Menschen egal, doch dieser Klaif berührte etwas in ihrem Inneren, was sie niemals erwartet hatte. Doch bevor die Assassinin zu einer Entscheidung gelangen konnte, schallte eine Stimme aus dem Publikum, laut und durchdringend, sodass jeder sie hören musste.
„Die Adeligen hier sind die Monster, nicht ihr beide!"
Diese Stimme... Die kannte sie doch!
Eve und Korvin wirbelten gleichermaßen herum, als sich die Menge teilte und, begleitet von lautem Glöckchenklingeln, Barry vortrat, die Arme seitlich, die Hände fest zu Fäusten geballt und den Henker wütend anfunkelnd. Ganz langsam hob er einen Arm und ein glänzender Gegenstand blitzte in seiner Hand auf, als er diesen warf. Ein leises Klirren war zu hören, als das Messer auf dem Podest zum Liegen kam und es dauerte nur wenige Augenblicke, da hechtete Vrinda nach vorne und schnappte sich die Waffe unbeholfen mit ihren gefesselten Händen. Anschließend sprang sie auf, verlor beinahe ihr Gleichgewicht und riss beide Arme über die Schulter. Mit einem eher wankenden, unsicheren beinahe schon tollpatschigen Schritt stürzte sie sich auf den perplex wirkenden Henker, stieß mit ihrem gesamten Körpergewicht gegen ihn und stach ihn das Messer in das einzige Körperteil, dass sie erreichen konnte: Das Auge. Dieser brüllte auf, ein markerschütternder Laut, und mit einem Mal schienen die Menschen aus ihrer Starre erwacht zu sein und fingen an, wild durcheinander zu schreien.
Eve war beeindruckt von dem Manöver und dachte sich im Stillen, dass diese Vrinda allem Anschein nach nicht so hilflos wie dieser seltsame Klaif war.
„Fasst sie! Fasst den Narren!", befahl Ladonnis und seine Wachen stürmten voran. Barry lachte nur spöttisch und schloss die Augen, kniete sich auf den Boden und grub die Finger in den kalten Schnee hinein. Eve starrte den Magier an, als dieser anfing, sich langsam zu verändern; erst wurde seine Haut bläulich, bis sie in ein strahlendes Weiß überging. Seine Kleidung verschmolz mit seiner Haut, das Gesicht verlor jegliche Züge und er wuchs massiv in die Höhe. Kleine Bäche von Wasser strömten von seinem Körper, gefroren in der Kälte blitzschnell und schoben sich als lange Dornen aus seinem neuen, gewaltigen Leib. Barry fauchte und gurgelte, stapfte mit den klauenartigen Füßen auf und erhob sich auf beide Beine, die Arme gekrümmt vor seinem Körper, während sich als letztes ein riesiges Maul ausformte, gespickt mit zwei Reihen weißer, messerscharfer Eiszähne. Kalter Dampf stieg von den Lefzen auf und die Soldaten, die zuerst noch so wagemutig zu ihm gestürmt waren, blieben stolpernd stehen, hoben ängstlich ihre Waffen und wichen anschließend zurück.
Nun waren sämtliche Bewohner Collis' nicht mehr aufzuhalten. Panik breitete sich unter ihnen aus, sie fingen an, vor dem mächtigen Magier davonzulaufen und retteten ihre eigene Haut. Barry warf den Kopf in den Nacken und stieß ein gewaltiges Heulen aus; der Himmel verdunkelte sich rasant, schwarze, dichte Wolken zogen herbei und die Temperaturen sanken um mehrere Grad innerhalb weniger Augenblicke. Ein starker Wind fing an zu blasen, brachte todbringende Kälte und Schnee mit sich und binnen weniger Wimpernschläge hatte sich ein Schneesturm über der Stadt zusammengebraut.
Korvin packte Eve am Handgelenk.
„Geh zurück zu den anderen!", rief er ihr über den Lärm hinweg zu. „Ich versuche, die Geborenen zu finden!"
Sich dem Chaos zunutze machend hatte Vrinda Klaif an der Hand gepackt und war verschwunden. Es war klar, dass Korvin sie finden wollte und Eve wusste gleichzeitig auch, dass nun die perfekte Gelegenheit für sie war, zu verschwinden. Sie nickte dem Jongleur zu und bewegte sich durch die verängstigte Menge, während der Blutwolf hinter ihr einen gewaltigen Sprung auf die Bühne machte, den Galgen umriss und gegen die bibbernden Wachen schleuderte. Ein gewaltiges Krachen ertönte, Schneeflocken wirbelten umher und Eves Sicht verschwamm ein wenig vor ihren Augen. Der Wind heulte in ihren Ohren, überall waren panische Schreie zu hören und die Assassinin rempelte rücksichtslos Frauen wie Männer zur Seite, schlängelte sich durch jede Lücke und versuchte, der todbringenden Macht von Barry zu entkommen.
Plötzlich stieß sie mit jemanden zusammen. Eve taumelte rückwärts und fiel zu Boden; bei der ruckartigen Bewegung ihres Kopfes nach oben rutschte ihre Kapuze von ihren Haaren und wütend funkelte die Assassinin denjenigen an, der es gewagt hatte, nicht aus ihrem Weg zu springen.
„Entschuldigt", drang eine murmelnde Stimme an ihr Ohr und die Person bückte sich und packte ihren Arm, um ihr aufzuhelfen.
Eve!, schrie Lumen in ihrem Kopf als Warnung, doch die Schattentänzerin bemerkte die Präsenz dieses Wesens im gleichen Augenblick. Schnaubend und den Schnee von ihrem Wimpern blinzelnd blickte sie in das kantige Gesicht mit den braun-goldenen Augen und spürte eine warme, hell leuchtende Macht von der Gestalt ausgehen, die sie bisher nur einmal gespürt hatte – und zwar damals, im Turm von Raum und Zeit, als die Paladine sie beinahe aus dem Schattenreich in ihre Welt gezerrt hatten. Und auch wenn sie ihn noch nie vorher gesehen hatte, wusste sie, dass sie hier im Schnee vor ihrem Bruder hockte und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Wenn sie sich konzentrierte, dann schaffte sie es sogar, Parallelen zu Severin zu entdecken und ein schweres Schlucken glitt ihre Kehle herunter.
Nukritas erstarrte ebenfalls einige Momente, dann glitten seine Augen suchend in ihrem Gesicht herum, ehe er mit einem Mal fester zupackte.
„Eve?", stellte er mit verunsicherter, fragender Stimme schließlich fest; auch er hatte ihr Schattentänzerdasein gespürt, ihre dunkle Macht, die sich in ihrem Innern verbarg. Eves Fähigkeit zu Denken war ausgeschaltet und sie tat das einzige, was ihr in dieser Situation einfiel: Sie packte ihren Dolch, zerrte am Griff und schwang ihn sofort nach vorne, um die scharfe Spitze durch Nukritas' dicken Mantel in seine Schulter zu stechen. Der Paladin gab ein Keuchen von sich und zuckte zurück; sein fester Griff lockerte sich und Eve wand sich aus ihm heraus, rappelte sich sofort auf, drehte sich um und verschwand in der Menschenmenge. Es war nur der Bruchteil eines Momentes gewesen, doch der hatte der Assassinin schon gereicht. Sie musste ihren Bruder nicht kennen und überhaupt, wer wusste auch schon, was er mit ihr vorgehabt hatte?
Nein, Eve war schon immer für sich geblieben und würde diese Eigenschaft nicht ändern. Sie schlängelte sich weiterhin durch die Menschenmasse, bis diese immer weniger wurde. Schlussendlich schaffte Eve es, sich in eine Seitengasse zu retten, wo sie sich erst einmal gegen eine der Hausmauern lehnte, um Luft zu schnappen. Die Ereignisse der nahen Vergangenheit waren ihr noch viel zu präsent und sie atmete mehrmals kräftig ein und aus, um Kontrolle über ihren Herzschlag zu erlangen. Bei dem ganzen Durcheinander hatte sie nicht darauf geachtet, ob sie vielleicht an Korvin vorbeigekommen war, oder wo die beiden Mutanten hin geflohen waren, doch sie konnte sich auch nicht um alles kümmern.
Wir müssen zurück, erinnerte Lumen sie und die Schattentänzerin nickte. Dann schlang sie ihren Mantel fest um sich, ärgerte sich einen kurzen Augenblick über ihren verlorenen Dolch und machte sich dann geschwind auf den Weg zur Spielmannsgruppe.
Eve war beinahe steifgefroren, als sie dort ankam. Es schien, als sei es der kälteste Tag in Collis, die Schneeflocken wurden immer noch von dem wütenden Wind hin und her geworfen und schnitten schmerzhaft in ihre Haut, als sie, einen Fuß stets vor den anderen setzend, im Lager ankam.
Nimer, Jackal und Ignatius waren damit beschäftigt, Aatos auf den größten Karren zu hieven; der Echsenmensch keuchte und würgte und verlor immer wieder etwas aus seinem Rachen, das wie ein Schwall aus Blut anmutete. Eve sah ihnen einen Augenblick lang zu, dann suchte sie nach Dainius. Der Geschichtenerzähler stand an einem der Zelte und packte die Vorräte zusammen, einen dicken Schal über die untere Gesichtshälfte gezogen, damit ihm die Kälte nicht zu sehr zusetzte.
„Dainius!", schrie Eve gegen das gewaltige Heulen des Windes an. Der Mutant blickte auf, erkannte sie und nickte. Dann deutete er auf Tango, die wiehernd angebunden und ungeschützt dastand, zwischen den anderen, panisch gewordenen Pferden. Die Assassinin wusste, dass sie keine Abschiedsworte benötigte, dass alle Spielmänner und –frauen sich nicht wundern würden, wenn sie jetzt ihre Gelegenheit zur Flucht ergreifen würde. Also kämpfte sie sich zu Tango durch; das Kresota-Weibchen kam ihr so weit es ihr möglich war entgegen und stupste sie mit eisverkrusteten Nüstern an. Eve streichelte das kurze, gefrorene Fell, dann machte sie sich daran, den Knoten mit steifen Fingern zu öffnen, der sich durch Tangos Zerren derartig festgezogen hatte, dass es ihr schwer fiel. Nach mehreren, kämpferischen Wimpernschlägen war es ihr schlussendlich gelungen und im nächsten Moment bereits schwang sich die Schattentänzerin in den Sattel, ihr bisschen Gepäck in ihrer Tasche auf dem Pferderücken festgebunden.
Der Wind wurde ein wenig schwächer. Hatte Barry sich wieder beruhigt, oder konnte er das Wetter nicht vollständig kontrollieren? Eve wusste es nicht, dafür war sie in der Magie nicht bewandert genug, doch sie begrüßte die neuen, angenehmeren Zustände. Sie brachte Tango dazu, anzutraben, hielt dann aber noch einmal kurz inne. Dainius half dabei, Aatos mit mehreren Decken zu verstecken; die Spielmannsgruppe würde sich bald auch auf den Weg machen und bei diesem Wetter war es natürlich perfekt, das Scheusal unbemerkt auf den Karren zu schaffen. Doch es war nicht der Geschichtenerzähler, der sie erblickte, sondern Nimer, der anschließend auch sofort zu ihr rüberkam.
„Wo ist Korvin?", wollte er wissen.
„Er sucht nach diesen Mutanten. Vrinda und Klaif", erklärte Eve und deutete in Richtung Marktplatz. „Wir haben uns verloren."
Nimer nickte. „Bei Draconigena, lass ihn wohlbehalten hier ankommen", murmelte er und klopfte Tango gedankenverloren den Hals. Eve wunderte sich, dass ihr Pferd dies zuließ, sagte jedoch nichts; es war nicht die Zeit dafür, solche unsinnigen Gespräche zu führen.
„Ich halte dich nicht länger auf. Auf Wiedersehen, Schattentänzerin Eve. Vielleicht sehen wir uns wieder", meinte der Mutant und nickte ihr zum Abschied zu. Eve erwiderte die Geste, dann wendete sie Tango, um loszureiten.
Im selben Augenblick sah sie Angyly in die mandelförmigen Augen. Zögernd hob die Assassinin einen Arm, um ihr zu winken, dann verfiel Tango in einen raschen Trab und sie verließ das Lager, um zum Haupttor zu gelangen. In der Nähe hörte Eve ein Brüllen, das sie an Barrys Monster erinnerte, und sie lenkte den Kresota langsam in dessen Richtung. Das Chaos in der Stadt war noch immer perfekt, keiner achtete auf die vorbeireitende, hochgewachsene Frau, jeder war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Wachen und Soldaten rannten umher, versuchten, die Ordnung wieder herzustellen, doch bei einer solch großen Stadt wie Collis war es ihnen so gut wie unmöglich; ja, sie hätten sich genauso gut hinsetzen und Tee trinken können, so wirksam waren ihre gebrüllten, im Lärm untergehenden Befehle.
Eve ritt auf das mittlere Plateau, denn genau dort befand sich das Haupttor der Dritten Großen Stadt. Sie zügelte Tango, bis das Pferd schließlich stehen blieb und die Assassinin stieß einen derben Fluch aus.
Da kommen wir nicht durch, meinte Lumen nachdenklich, während die Schattentänzerin auf das stabile, geschlossene Holztor starrte, das sich vor ihr erhob, wie eine undurchdringbare Mauer. Eve überlegte, wie sie am besten dort raus kommen konnte, als Lumen fragte: Spürst du das?
Die Assassinin glitt von Tango, die sehr unruhig geworden war, herunter. Sobald ihre Füße den Steinboden berührten, spürte sie das kleine Vibrieren, das von ihm ausging. Eve runzelte einen kurzen Moment die Stirn, dann hob sie den Kopf und blickte hinter sich. Ihre Augen weiteten sich, dann reagierte sie blitzschnell, packte Tango am Halfter und zerrte sie über die Straße in eine kleine Seitennische. Gerade noch schnell genug, denn schon raste der wild gewordene Narrenmagier in seiner Elementargestalt an ihr vorbei, eine dichte Schneewolke hinter sich herziehend. Wo sein Sabber auf dem Boden auftraf, bildeten sich eisige, glatte Pfützen, die dann jedoch von seinen mächtigen, stampfenden Schritten in tausende von Splittern verwandelt wurden.
Barry knurrte und senkte den gehörnten Kopf; dann brach er durch das Tor, das unter seinem Gewicht nachgab wie ein Spielzeughaus. Holz regnete vom Himmel, vermischte sich mit dem Schnee, prasselte auf die Menschen nieder und verwandelte sich in eine tödliche Waffe. Eve schlang Tango eine schwere Decke um den Hals, um sie ebenfalls zu schützen und zog sich ihre Kapuze tief in das Gesicht. Einer der schweren Splitter erwischte sie in der Schulter und die Assassinin zischte vor Schmerz auf, als er ihren Muskel durchtrennte und eine Welle von Blut hervorschwappte. Mit nur halber Kraft und Lumens Hilfe zog sie sich erneut in den Sattel und gab Tango die Sporen. Das treue Pferd wieherte auf und galoppierte los; die Menschen, die in der Nähe des Tores gestanden und sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, lagen stöhnend und blutend am Boden, schrien ihren Schmerz heraus oder litten stumm. Eve schenkte ihnen nur wenig Beachtung, denn ihr Tor zur Freiheit hing zwar schief in den Angeln, knarzte schwer und quietschte, dass es in den Ohren wehtat, doch es war da und sie würde es gleich passieren.
Tango sprang über die Schwelle, landete dumpf im Schnee, der sich vor dem Tor angesammelt hatte, und trabte weiter. Eve hob den Kopf und atmete die Luft ein; weg von der Stadt, weg von dem grauenvollen Ort, an dem sie so viel Schreckliches erlebt hatte und weg von dem Platz, wo ihr Vater getötet worden war. Sämtliche Anspannung fiel von ihr mit einem Mal ab; ihr Herz pochte nicht mehr so wild, und ihr Puls schien sich zu beruhigen. Die Assassinin lächelte und fuhr mit den Fingern durch die Mähne Tangos, als sie der Schmerz in ihrer Schulter mit einem Schlag einholte. Eve krümmte sich auf dem Pferderücken zusammen und presste sich eine Hand auf die blutende Wunde, in der immer noch der hölzerne Dorn steckte.
...sie musste einen Unterschlupf finden, ihn rausziehen und die Verletzung anschließend verbinden. Doch außerhalb der Städte war das Überleben im Unüberwindbaren Gebirge schwer und der Assassinin standen schon jetzt Schweißperlen auf der Stirn. Immerhin ließ der Sturm langsam nach, die Schreie der Stadt drangen nur noch schwach an die Ohren und die Schattentänzerin gab einen schweren Seufzer von sich.
Ich kann übernehmen, bot Lumen ihr an. Zumindest eine Weile.
Der Gedanke war verlockend – so, verlockend, dass Eve ihm sogar folgte und es ihrer Tätowierung erlaubte, die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen. Sie selbst fiel in ein bodenloses Loch schwarzer Leere; Lumen nahm ihr ihren Schmerz und ihre Träume und die Assassinin spürte nichts anderes mehr, außer den sich bewegenden Pferdekörper unter ihr, in einem regelmäßigen Rhythmus, der sie ungemein entspannte, zum ersten Mal seit mehreren Monaten...
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