Keine Monster (Teil 3)

„Eve?"

Die Assassinin blickte nach vorne. Angyly winkte sie sanft zu sich heran und fing dann an, Farbe auf ihre Lippen aufzutragen. Die Assassinin hatte sich nur selten geschminkt; eigentlich nur für die Aufträge, wo sie einen Mann um ihren Finger wickeln wollte, doch weder als Sklavin noch als Schattentänzerin brachte es ihr einen Vorteil, sich wie eine Adelige zu benehmen und Farbe wie ein Narr in ihr Gesicht zu klatschen. Doch die Halb-Elfin schien voll und ganz in ihrem Element zu sein und meinte irgendwann: „So schön geschwungene Lippen... Deine Augen sehen aus wie die von einer Elfin... Ich glaube, du bist der schönste Mensch, dem ich jemals begegnet bin."

Eve wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Angyly selbst war keine hässliche Person, doch sie bewunderte die Assassinin wie ein großes Vorbild. Ihr hatten bereits so viele Leute gesagt, wie gut sie aussah, doch von der Halb-Elfin schien es aus ganzen Herzen zu kommen.

Angyly senkte den Blick und hörte auf, in ihrem Gesicht zu malen.

„...deine Suppe wird ganz kalt", meinte sie und die Schattentänzerin wurde sich der inzwischen kalten Tasse in ihren Händen wieder bewusst. Langsam hob sie den Rand zu den Lippen und nahm einen kleinen Schluck; es schmeckte erstaunlich gut, war nicht zu überwürzt oder zu lasch. Im Endeffekt genau die richtige Kombination, dazu nährte sie gut und schaffte es, Eves knurrenden Magen endlich zu beruhigen.

Angyly trat noch einmal neben sie und fing an, ein paar ihrer Haarsträhnen zu einem kleinen Zopf zu flechten. Als sie fertig war, betrat sie noch einmal das Zelt und kam mit einem kleinen, quadratischen Spiegel heraus, hielt ihn der Schattentänzerin vor das Gesicht.

Eve blinzelte ein paar Mal, dann beugte sie sich ein wenig vor.

Sie erkannte sich selbst nicht wirklich wieder. Ihre Haare waren auf der rechten Kopfhälfte vollkommen abgeschnitten worden, nur ein paar Stoppeln bedeckten ihre Kopfhaut noch. Auf der linken Seite hingegen wirkten sie wie ein schwarzer Vorhang, der sich über ihr Gesicht und ihre Schulter ergoss. Es wirkte anders, gefährlicher, aber gleichzeitig auch hübscher und selbstbewusster. Ihre Augen leuchteten nicht mehr mitternachtsblau mit den silbrigen Rändern, sondern wirkten bräunlich, waren umrandet von dem gräulichen Puder und schenkten ihr dadurch ein mysteriöses Aussehen. Ihre Lippen glänzten in einem dunklen weinrot und wirkten noch viel sinnlicher als vorher. Eve sah nicht mehr aus wie die Sklavin oder die Assassinin, die sie darstellte, sondern... wie eine Frau. Wie eine richtige Frau, der am Hof der Adeligen tausende von Männern den Hof machen würden.

„Wann hast du dich das letzte Mal zurecht gemacht?", wollte Angyly neugierig wissen, nachdem Eve sich mehrere schweigsame Momente angeguckt hatte. Die Assassinin hob den Kopf, dann zuckte sie nur mit den Schultern. Es war viel zu lange her, seit sie wirklich in einen Spiegel geguckt hatte – und mit der Zeit vergaß man beinahe, wie man aussah.

Langsam ließ Angyly den Spiegel wieder sinken und lächelte sie freundlich an.

„Du kannst für immer bei uns bleiben", bot sie der Schattentänzerin an.

Aber Eve schüttelte sofort den Kopf.

„Nein", antwortete sie. „Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen."

Mittelgroßbergstadt.

Pagannax.

Das waren ihre Ziele und sie würde sie auch erreichen.

Angyly wirkte enttäuscht, aber sie nickte und nahm dann einen Mantel hoch, den sie ihr reichte.

„Hier. Der ist besser als dein eigener. Große weite Kapuze, unauffälliger Wollstoff. Keiner wird dich großartig beachten."

Eve nahm ihn mit einem dankbaren Nicken an und streifte ihn sich über. Er war ein bisschen zu kurz, was wohl daran lag, dass sie die meisten in der Gruppe überragte, doch am Oberkörper saß er perfekt und die Kapuze verhüllte ihr Gesicht weitgehend, sodass sie nun wirklich niemand mehr erkennen würde.

Dann stand sie auf und begab sich zu Korvin. Der Jongleur saß am Feuer und unterhielt sich mit Jackal, während er seinen eigenen Mantel zuknöpfte und sanft über den Kopf des schwarzen Greifens strich. Das Tier gurrte und klackerte mit dem Schnabel, doch es sprang auf, als Nimer sich ihnen näherte.

„Du musst los, Korvin", sagte der Mutant und streckte sich, dass seine Knochen laut knackten. Dann warf er einen Blick zu Eve: „Gehst du mit?"

Sie nickte und stellte sich neben den Jongleur, der sie interessiert musterte.

„Ich finde es immer wieder erstaunlich, was Angyly alles hinkriegt!"

In Nimers Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. „Sie hat Dainius' tiefschwarze Haare beinahe vollkommen weiß bekommen. Ich habe doch gesagt, es ist gut, wenn wir sie aufnehmen."

Nimer wirkte anders als Dainius oder Jackal, obwohl sie, laut Angyly, ungefähr gleich alt waren. Sein Gesicht wirkte jünger als das der anderen beiden Mutanten und von seiner Art her war er lockerer und entspannter. Eve fragte sich, ob das mit seinen besonderen Fähigkeiten zusammenhing oder einen anderen Grund besaß.

„Seid vorsichtig. Korvin, egal, was passiert, du darfst dich nicht zeigen."

Die Miene des Jongleurs verfinsterte sich. „Wenn das, was Aatos sagt, wahr ist..."

Nimer legte ihm eine Hand auf die Schulter. „...ich weiß. Und ich kann verstehen, dass es für dich besonders schwer ist. Aber wir haben bereits so viel riskiert... wir können nicht noch mehr riskieren."

Korvin warf einen raschen Blick zu Eve.

„Und du wirst auch sie nicht hineinziehen. Das ist unser Spiel, nicht ihres."

Eve hörte interessiert zu, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und fragte: „Wo mit rein ziehen?"

„Ich vertraue dir nicht weit genug", erwiderte Nimer und schlug die Augen nieder. „Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass man einer starken Assassinin kein wertvolles Geheimnis anvertrauen darf."

Eve schnaubte aus. „Da hast du gut gelernt. Aber ich bin fähig und kann helfen."

„Wenn du tatsächlich so fähig bist, dann wärst du jetzt nicht hier", erklärte Nimer mit einem müden Schulterzucken. Eve öffnete den Mund, doch dann schloss sie ihn wieder. Der Mutant hatte einen Nerv bei ihr getroffen, bei dem sie geglaubt hatte, er würde nicht mehr existieren. Sie war tatsächlich nicht so stark, wie sie gerne sein wollte – und an Severins Mächte kam sie noch lange nicht ran. Sie war auf die Hilfe anderer angewiesen, um sich selbst und Tango aus der Stadt zu manövrieren und dieser Punkt ärgerte sie gewaltig.

„Lass uns gehen", meinte sie zu Korvin und ging vor.

„Wenn sie ein Tier wäre, dann wäre sie eine Steinkralle", hörte sie Nimer Korvin noch zuflüstern.

„Mit denen kannst du doch besonders gut", kicherte der Jongleur, ehe er zu ihr aufschloss.

„Ich bin keine Steinkralle", meinte Eve mit in den Himmel gestreckter Nase.

„Das war ein Kompliment. Nimer liebt diese Tiere über alles", erwiderte Korvin mit blitzenden Augen.

Die beiden schwiegen den Rest des Weges und je weiter sie zum zentralen Marktplatz kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Auf Eve wurde nicht wirklich geachtet und sie bewegte sich schlängelnd durch die Massen, musste ausweichen und darauf achten, wo sie hintrat. Korvin hingegen schien keine Probleme zu haben; selbstsicher setzte er einen Fuß vor den anderen und bewegte sich so, als würde er den ganzen Tag nichts anderes tun. Eve fiel es teilweise schwer, ihm hinterherzukommen und der Jongleur war gezwungen, mehrfach auf sie zu warten. Schlussendlich blieb er stehen und deutete mit dem Kopf nach vorne.

„Die berühmten Galgen von Collis", wisperte er. „Dainius, Jackal und Aatos standen selbst einmal dort oben, zum Tode verurteilt. Es muss wohl ein großes Spektakel gewesen sein."

Menschen, die ausgewählt wurden, um zu Mutanten zu werden, waren meist Schwerverbrecher, die die Wahl hatten, sich versklaven zu lassen oder getötet zu werden. Es wunderte Eve also nicht im Geringsten, dass die drei Anführer der Gruppe ebenfalls Probleme mit dem Gesetz gehabt hatten, aber sie fragte sich, was sie wohl getan hatten. Gerade Dainius wirkte vollkommen ruhig und so, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun.

„Was haben sie getan?", fragte sie daher.

Korvin blickte sie beinahe schon traurig an, ehe er antwortete: „Das müssen sie dir selbst sagen."

Als ob sie das tun würden.

Eve brummte unzufrieden auf und schlang den Mantel enger um ihren Körper. Um sie herum wurde es immer dichter und dichter; niemand wollte die Hinrichtungen von Severins Helfern verpassen und es schien, als sei ganz Collis auf diesen einen Marktplatz zusammenzukommen, um sich das Ereignis anzusehen.

Stimmen sprachen laut und quer durcheinander, und obwohl sie alle so dicht beieinander standen, fror Eve während sie dastand und wartete, dass es beginnen würde. Es war schrecklich und während sich die Schattentänzerin bewusst wurde, dass Menschen gleich gehängt werden würden, die sie über mehrere Jahre kennengelernt hatte, dann wurde ihr ein wenig mulmig zumute. Doch sie durfte sich das nicht anmerken lassen, schluckte ihre Gefühle herunter und hob den Kopf, den Blick zu Galgen gerichtet.

König Ladonnis von Collis betrat mit einem weiteren, vollkommen in schwarz gekleidetem Mann das Podest. Eine erdrückende Stille breitete sich über die Menge aus und mehrere hielten gespannt den Atem an, um kein gesprochenes Wort zu verpassen.

Hinter den beiden kamen zwei gerüstete Soldaten und hielten einen Menschen, dessen Hände mit einem Strick vor dem Körper zusammengebunden waren, in ihrer Mitte. Eve hielt den Atem an, als sie Armando erkannte, der den Blick beinahe schon trotzig hob und über die Menschenmenge gleiten ließ.

„Sklavenhändler Armando", rief Ladonnis. „Verurteilt wegen Verkauf und Besitz von Sklaven. Einschmuggeln von Assassinin Eve in den Königlichen Palast. Komplize von Schattentänzer und Assassine Severin."

Der Henker brachte Armando dazu, sich auf die Falltür zu stellen, ehe er ihm den rauen, dicken Strick um den Hals legte.

„Noch irgendwelche letzten Worte?", fragte der König. Armando sah ihn mit einem Funkeln in den Augen an, dann nickte er und holte tief Luft.

„Ihr verurteilt mich für Taten, die dieses Land gerettet haben."

Seine Worte hingen in der Luft und Korvin warf Eve einen prüfenden Blick zu. Die hochgewachsene Frau schüttelte nur leicht den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Dank Armando war die Sklaverei in Collis abgeschafft worden und nun sollte er dafür sterben. Natürlich hatte er sich allen Verbrechen, die ihm vorgeworfen wurden, schuldig gemacht, doch gleichzeitig entpuppte er sich als ein geheimer Held aller Diener, die früher versklavt worden waren.

Er war ein guter Mensch und genau das dachten auch die Menschen von Collis. Als sich die Klappe unter seinen Füßen öffnete, fiel er; ein lautes Knacken ertönte, dann baumelte sein lebloser Körper in der Luft. Eve stieß den Atem aus, den sie die Zeit über angehalten hatte. So schnell war das Leben eines Menschen vorbei... sie selbst hatte zahlreiche getötet, hatte gesehen, wie der letzte Lebensfunke in den Augen erloschen war und war beinahe schon fasziniert über die Macht gewesen, die sie besessen hatte.

...doch jetzt schmerzte es sie, Armando, den toten Armando, dort hängen zu sehen. Er würde nie wieder den Kopf heben, nie wieder lächeln oder gar ein Wort sprechen. Er würde zu einer kalten, steifen Leiche werden, im Schnee vergraben und vergessen.

„Geht es dir gut?" Korvin beugte sich zu ihr herüber und flüsterte; Eve fiel es schwer, seine Worte zu verstehen. Mit zusammengekniffenen Lippen nickte sie und senkte die geschminkten Augenlider. Lumen berührte sie sanft im Geist und tröstete sie, nahm ihr den Großteil ihres Schmerzes. Als Eve aufsah, schnitten sie Armandos Leiche vom Galgen und ein paar Wachen brachten sie weg.

Als nächstes wurde Leif auf die Bühne gebracht. Der alte Mann konnte sich kaum bewegen, das Kinn berührte die Brust und sein Mund stand leicht geöffnet.

„Leif, Besitzer der Schokolaterie. Verurteilt wegen jahrelanger Fälscherarbeit, Verstecken von Kriminellen und wegen Beihilfe bei Severins Plänen."

Eve hatte das Gefühl, dass sich ihre Brust zuschnürte. Sie hatte den Fälscher während der Jahre gut kennengelernt, hatte bei ihm gearbeitet und sich einige von seinen Tricks angeeignet. Wenn Severin keine Zeit für sie gehabt hatte, war Leif da gewesen und hatte stets eine große Menge Geduld bei ihr mitgebracht.

Die Wochen in dem Kerker hatten ihn ausgezehrt und geschwächt. Als der König ihn nach seinen letzten Worten fragte, stöhnte er nur und schaffte kaum, sich auf den Beinen zu halten. Er zitterte, keuchte schwer und es wirkte so, als sei er im Zeitraffer um mehrere Jahrzehnte gealtert. Als er den Boden unter den Füßen verlor und das hässliche Knacken von seinem Tod zeugte, glitzerte in seinen Augen eine gewisse Erleichterung.

Eve spürte, wie Korvin sie am Arm berührte. Mit einem Mal bemerkte die Assassinin die ganzen Strapazen der letzten Monate, Jahre... ihres gesamten Lebens. Noch nie hatte sie ein Tod von jemandem so getroffen, wie es die letzten beiden gerade getan hatten. In der Assassinengilde war sie begehrt gewesen, doch wirklich gemocht hatte sie niemanden, selbst Tallis nicht. Chester und Aleko waren Vergangenheit, auch wenn sie immer noch einen Gedanken in ihrem Kopf wert waren. Doch Armando und Leif waren so etwas wie Freunde für sie gewesen, Menschen, die sie aufrichtig gemocht, auch wenn sie es niemals gezeigt hatte, weil sie dazu nicht fähig gewesen war. Doch alles, was sie erlebt hatte, die Ausbildung, die Sklaverei, die Erlebnisse im Schattenreich... all das zerrte an ihren Nerven und jetzt, wo sie dabei zusah, wie ihre einzigen Freunde das Land verließen, wurde ihr mit einem mal ganz übel. Eve merkte, dass sie einen dicken Kloß im Hals besaß, dann rannten doch tatsächlich ein paar Tränen über ihre Wangen. Korvin stand neben ihr und unterließ es, sie in den Arm zu nehmen; die Assassinin hätte ihn eh weggestoßen. Es war ihr lieber, wie sie einfach alleine in der Menge stehen konnte, in stiller Trauer über Armando, Leif... und Severin.

Als Quentin gehängt wurde, weinte der untersetzte junge Mann selbst und schluchzte, als er die Leiche seines toten Vaters entdeckte. Bei ihm ging es genauso schnell, wie bei den anderen beiden. Im Endeffekt bekam Eve den Rest der Hinrichtungen gar nicht mehr wirklich mit, sondern schien in einem Traum zu wandeln aus dem sie nur schlecht wieder herauskommen würde.

Sie dachte an Severin, ihren Mentor, Lehrer und Vater, und daran, dass sie sich nicht einmal richtig von ihm verabschieden konnte. Und ob sie ihn im Schattenreich wiedertreffen würde, war fraglich, denn wer wusste schon, welche Pläne die Phantome mit ihm hatten?

Es wurden noch ein paar weitere Leute ermordet, die Eve nur flüchtig kannte, und deren Tod ihr nur wenig ausmachte. Während einer nach dem anderen das Genick gebrochen bekam, herrschte absolutes Schweigen auf dem Platz. Die Menschen sahen sich die Hinrichtungen an, als würden sie einem Theaterspiel folgen und Eve empfand nichts als Abscheu für sie.

Sie wandte sich an Korvin.

„Lass uns gehen." Ihre Stimme klang erstickt und sie wischte sich mit einer energischen Armbewegung die getrockneten Tränen von den Wangen. Sie durfte es sich nicht erlauben, zu viel zu trauern, auch wenn sie es am liebsten tun würde. Wenn Jerry ihr eines beigebracht hatte, dann war es, Stärke in jeder Situation zu zeigen, auch wenn man sich am liebsten verkriechen wollte. Der letzte Anführer der Krallenassassinen hatte seine Fehler gehabt, keine Frage, doch er war im Endeffekt stets ein guter Ausbilder gewesen. 

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