Identitätskrise (Teil 2)

Auf den Straßen waren nur wenige Menschen unterwegs; und die, die es waren, hasteten mit gesenkten Köpfen, verschleierten Gesichtern und schnellen Schrittes über die Straßen. Ihre Schritte machten in der Schneedecke kaum Lärm, jeglicher Laut wurde verschluckt und es kam Nukritas so vor, als sei er der einzige Mensch in dieser gewaltigen Stadt, die über mehrere Plateaus am Berg erbaut worden war. Collis war von ihrer Konstruktion einzigartig: Je höher das Plateau sich befand, desto besser wurden die Lebensumstände. Verbunden waren die einzelnen Etagen mit langen Tunneln in Höhlen, in denen manchmal Treppenstufen eingearbeitet waren, und die Tag und Nacht mit Öllampen erleuchtet wurden. Die Hauptstraße wand sich somit in einem schlangenförmigen Muster durch die komplette Stadt, endete schlussendlich im Palast, der sich, auf dem höchsten Plateau über alle anderen Häuser erhob.

Dagegen wirkte Volcanius mit seiner einfachen, strukturierten Bauweise regelrecht plump und glanzlos, während man Collis vom höchsten Punkt aus in seiner ganzen Pracht überblicken konnte. Generell wirkte der Ort wie ein idyllisches Bild in einem Buch:

Eiszapfen hingen von den mit Schnee bedeckten Spitzdächern, Statuen aus Eis, die Künstler erschaffen hatten und die dank der Temperaturen nicht schmolzen, standen in der gesamten Stadt herum und wenn die Sonne den Kampf gegen die dichte Wolkendecke gewann und für wenige Stunden herauskommen konnte, glitzerte alles um ihn herum, als wären tausende von Diamanten zu Boden gefallen. Wenn es nicht so höllisch kalt wäre, dann würde Nukritas den Anblick tatsächlich genießen können; doch leider brachte diese kalte Schönheit ihren Preis mit sich und die beiden gläubigen Männer eilten zwei Plateaus weiter, um zu dem Kerker zu gelangen.

Die Menschen, die um Severin getrauert hatten, waren zwar von den Stadtwachen festgenommen, doch später in den Palast gebracht worden. Dort warteten sie nun auf den Tag, an dem sie erhängt werden würden; unter der Erde, in einem bitterkalten Loch, während das Wasser, das sie zu trinken bekamen, nach wenigen Schlucken schon angefroren war. In Collis herrschten miserable Zustände und seit Prinz Serage vergiftet in seinem Zimmer aufgefunden worden war, waren die Sicherheitsvorkehrungen um einiges erhöht worden, wohl eher aus der Angst, der schwangeren Königin Thalia könne etwas zustoßen.

... jedoch war mit dem Tod des Prinzen auch die Sklaverei endgültig abgeschafft worden, da sich keiner mehr darin verantwortlich gesehen hatte – und da Gregorius im Namen der Kirche darauf bestanden hatte. Nukritas wusste, dass seine Schwester etwas mit dem unheilvollen Tod zu tun hatte und war zweigespaltener Meinung darüber: Einerseits war Mord das größte Verbrechen, das es nicht zu verzeihen galt, anderseits hatte Eve es geschafft, dass die Sklaven zu Dienern wurden und somit bessere Lebensumstände bekommen hatten. Eves Beweggründe waren aufrichtig und gut gemeint gewesen, aber ihre Methode... eher fragwürdig, wenn nicht sogar regelrecht unmoralisch. Deswegen vermied Nukritas das Thema, so gut es eben ging.

Vor dem Palast standen die üblichen Wachen. Inzwischen wusste Nukritas, dass sie auf die Namen Elias und Isak hörten und anscheinend noch recht neu waren, sodass sie nichts weiter zu tun hatten, als das Haupttor des Palastes tagein und tagaus zu bewachen.

Die beiden Paladine grüßten die jungen Wachen wortlos, die sie sofort passieren ließen. Elias nickte dem Lichtritter respektvoll zu und meinte: „Die Gefangenen werden heute nicht sonderlich redselig sein. Morgen ist es immerhin so weit."

„Sie waren noch nie wirklich zum Reden aufgelegt", erwiderte der Lichtritter und spürte einen erneuten Stich in seiner Magengegend; er hätte sie alle zu gerne aus den Klauen der Colliser befreit, aber er durfte sich nicht einmischen – vor allem nicht, wenn deren Urteile rechtskräftig waren.

Im Innern der Schneeflocke, denn diesen Spitznamen trug der berühmte Palast, war es nicht wirklich wärmer als draußen. Und damit war nicht die Temperatur gemeint, sondern die Atmosphäre. Zwar waren die Böden mit dicken Teppichen ausgelegt, an den Wänden hingen etliche Gemälde und die Vorhänge verdeckten die Fenster und sperrten das Licht aus, das durch regelmäßig angebrachte Öllampen ersetzt wurde, doch Nukritas sah nur die eisigen, schneeweißen Wände, den steinigen Boden und die entmutigten Blicke der Bediensteten. Der Königliche Palast von Collis strahlte eine Unnahbarkeit aus und schien die perfekte Hülle für eine Familie zu sein, dessen Mitglieder nicht umsonst Schneekönigin, Eisprinzessin oder Frostprinz genannt wurden.

Der Kerker hingegen war noch kälter und karger gestaltet. Hier wurde sogar am Licht gespart und überall schien es stetig zu tropfen. Der bräunlich-graue Stein, aus dem die Berge des Unüberwindbaren Gebirges bestanden, war hier allgegenwärtig, denn die Kerker waren direkt in den Berg hineingehauen worden, boten somit ein Gefängnis, aus dem es sich nur schwer wieder ausbrechen ließ. Zwar waren die etlichen Zellen und Gänge mit mehr System angelegt worden, als im Wurzelkeller von Silva, doch Nukritas hatte zu Anfang Angst gehabt, sich zu verirren und nicht mehr herauszufinden. Dicke, eiserne Stäbe trennten die eingesperrten Menschen von ihrer Freiheit und kein einziger Schein Tageslicht fiel herein. Nur die Fackeln an den Wänden spendeten Licht und warfen unheimliche, lange Schatten auf die steinernen Wände, tauchten alles in ein Zwielicht und hießen niemanden hier unten willkommen.

Ganz zu Anfang des Kerkers befand sich ein kleiner Aufenthaltsraum für die diensthabenden Wachen. Der war zumindest mit einem dicken Teppich ausgelegt und wirkte somit um einiges gemütlicher. Vier Wachen saßen an einem runden Tisch und spielten ein Kartenspiel; als die beiden Paladine ihre Köpfe hereinsteckten, sahen sie nur kurz auf und nickten ihnen wissend zu. In Collis waren die Gefangenen alle recht ruhig, denn die immerwährende Kälte machte sie schläfrig und steif. Früher waren etliche hier unten erfroren, bis es dem Volk zu langweilig geworden war und man hatte zumindest für ein paar Extradecken gesorgt, damit sie bis zu ihrer Hinrichtung überlebten. Nukritas wusste nicht so recht, was genau besser war und er wollte sich mit diesem Gedanken auch nicht wirklich beschäftigen.

Seine Füße trugen ihn wie von selbst den langen Gang entlang. Hin und wieder blickte er nach rechts oder links, sah die in ihre Decken eingehüllten Menschen in einer Ecke sitzen, wie eine Raupe, die in ihrem Kokon saß und nur darauf wartete, schlüpfen zu können. Doch wenn diese Raupen hier ihre Kokons verließen, dann wartete auf sie kein neues Leben in Freiheit, sondern Gevatter Tod.

Nukritas' und Gregorius' Schritte hallten in dem Gang wieder, doch kaum einer machte sich die Mühe, um den Kopf zu heben und sie anzugucken. Der Lichtritter selbst spürte die klirrende Kälte hier unten; an einigen Stellen zeigten sich Unmengen von Frost und sein Atem stieg wie weißer Nebel von seinem Mund auf.

Als er die richtige Zelle gefunden hatte, wollte der Paladin tief durchatmen, um Kraft zu sammeln, doch die kalte Luft stach in seiner Lunge und er ließ es bleiben. Gregorius blieb in einiger Entfernung stehen. Er wusste, wie wichtig Nukritas diese streitbaren Treffen waren und beobachtete nur, wie der Lichtritter langsam näher trat.

Nukritas wusste nicht viel von dem Mann, den er gerade ansah. Doch er besaß eine Menge Respekt vor ihm, denn er saß, nicht wie die anderen Gefangenen in einer Ecke und trauerte um sein Schicksal, sondern hatte sich die Decke locker um die Schultern geschlungen, hockte auf der hölzernen Pritsche, die sein Bett darstellte, und kaute zur Beschäftigung auf seinen Fingernägeln rum.

Als Nukritas' Schatten seine Zelle verdunkelte, hob er den Kopf. Seine Haut war schneeweiß, die Haare in einem warmen schokoladenbraun, jedoch von einigen Eiskristallen durchzogen. Seine Venen traten deutlich bläulich hervor, die Augen waren blutunterlaufen und lagen tief in ihren Höhlen. Dennoch zierte ein beinahe schon höhnisches Lächeln die blutigen, aufgerissenen Lippen und der Mann sagte mit leiser Stimme: „Seid Ihr hier, um mir einen schönen Tod zu wünschen, Lichtritter?"

Nukritas ging nicht darauf ein.

„Ihr habt Eve gekannt, Armando", sagte er stattdessen. „Ich bitte Euch, erzählt mir von ihr."

Armando fand seine Fingernägel bedeutsam interessanter als den Lichtritter vor sich.

„Holt Ihr mich hier raus, wenn ich rede?", fragte er, beinahe schon mit gelangweilter Stimme. „Oh, ich vergaß ... das könnt Ihr nicht."

„Ich habe alles in meiner Macht stehende versucht", verteidigte Nukritas sich. Seine Stimme klang ein bisschen zu hoch, als dass er als selbstsicher durchgehen könnte und er schluckte schwer. Armando warf ihm einen verachtenden Blick zu, dann setzte er sich auf und lehnte sich gegen die Wand hinter sich. Da der Stein nicht bearbeitet war und harte Kanten aufwies, konnte dies unmöglich eine gemütliche Position sein. Doch den ehemaligen Sklavenhändler schien das nicht zu stören; wahrscheinlich härtete man sich selbst ab, wenn man hier unten fest saß.

„Hört zu, Lichtritter. Ich kann Euch nicht ausstehen. Und Eve ... sie ist der beste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sie ist stark, selbstbewusst, talentiert, wunderschön ... alles Dinge, die man von Euch nicht wirklich behaupten kann."

Das passte zu dem Bild, was sich Nukritas von einer Schwester inzwischen machen konnte. Er wusste nur halbwegs, wie sie aussah und hatte sie nie in Wirklichkeit gesehen, doch die Gespräche mit ihren Freunden halfen ihm, sie besser zu verstehen.

„Ich verstehe, dass Ihr mich hasst. Wenn ich gewusst hätte, dass Severin..."

„Ihr hättet nichts anders gemacht", unterbrach Armando ihn mit schneidender Stimme, die sogar kälter war, als die Luft um ihn herum. „Ihr hättet ihn trotzdem getötet, um Euren Ruf beizubehalten. Aber wie ich das sehe, ist er sowieso zerstört. Wieso haltet Ihr diese lächerliche Fassade des Lichtritterseins noch aufrecht? Gesteht Euch einfach ein, dass Ihr der Sohn eines Schattentänzers seid und somit ins Schattenreich gehört."

Die Worte schmerzten Nukritas und verletzten ihn tief. Der Paladin blickte betreten zur Seite und seine eigenen Zweifel krochen wieder in ihm hoch: Was genau war er? Was war seine Bestimmung? Und ... wie sollte er weitermachen?

„Ich habe es nicht einfach gehabt, um diesen Weg zu gehen", erwiderte Nukritas dennoch.

„Nicht einfach?" Armando lachte hart auf. „Wenn Eve das hören würde, würde Sie Euch erdolchen." Er schüttelte verächtlich schnaubend den Kopf. „Wurdet Ihr jemals gegen Euren Willen als Sklave gehalten? Wurde Euer Körper gegen Euren Willen auf Ewigkeiten verunstaltet? Wurdet Ihr regelrecht gezwungen, einen unmoralischen Weg einzuschlagen, weil Euch nichts anderes zum Überleben blieb? Habt Ihr Eure einzige Lebensgrundlage in einer einzigen Nacht verloren, musstet Ihr Euch Eurem größten Schrecken stellen und in ein Leben voller Demütigung zurückkehren? Habt Ihr alle Personen, die Euch etwas bedeuten, auf einen Schlag verloren und seid Ihr nun vollkommen alleine im Land?"

Armando funkelte ihn an, dann wanderte sein Blick zu Gregorius.

„Ich glaube nicht."

War Eve das alles passiert? Nukritas hatte nur eine ungefähre Ahnung von dem Werdegang seiner Schwester und er ahnte, dass da viel mehr hinter steckte, sie viel mehr erlebt hatte, als er sich vorstellen konnte. Doch dieser Armando hatte eine Verbindung zu Eve gehabt und in Anbetracht dessen, dass er seinem Todesurteil so kalt entgegenblickte...

„Ihr wusstet, dass Ihr früh sterben werdet."

Armando drehte den Kopf weg und fing an, sich die Haut um seine Nägel herum abzureißen. „Ich bin ein Sklavenhändler. Das war ich schon immer, auch wenn ich diesen Weg aus eigenem Willen niemals eingeschlagen hätte. Ich wusste von Anfang an, welches Risiko ich einging. Ich betrauere meinen Tod nicht, denn ich weiß, dass ich geholfen habe, dieses Königreich zu verändern. Doch ich werde für die falschen Taten gehängt."

Armando wurde, im Gegensatz zu den anderen, für sein Dasein als Sklavenhändler gehängt. Dabei hatte der Mann dieses Königreich von der Sklaverei befreit und alles daran gesetzt, etlichen, ehemaligen Sklaven ein besseres Leben zu schenken. Dass er ein Komplize Severins gewesen war, verschlimmerte die Sache für ihn nur bedingt. Er hatte eine gute Tat vollbracht und war ein Held im Stillen gewesen. Ein Held, der stets verachtet und bespuckt wurde, in der Gesellschaft einen niedrigen Rang einnahm und eine manchmal schon fast hundeähnliche Behandlung ertragen gemusst hatte. Doch er hatte stets weiter gemacht, da er immer ein größeres Ziel vor Augen gehabt hatte.

Und jetzt würde er sterben und kaum jemand würde wissen, welche Rolle er tatsächlich gespielt hatte. Und genau das war der Grund, wieso Nukritas diesen Mann, den er im Endeffekt gar nicht kannte, niemals vergessen würde.

„Ich wünschte, ich hätte etwas tun können", wisperte Nukritas.

„Aber das könnt Ihr nicht. Also verschwindet. Ich möchte Euer Gesicht gerne vergessen, ehe ich sterbe."

Armandos Stimme klang so verabscheuend und angeekelt, dass der Lichtritter tatsächlich einen Schritt zurück machte. Der ehemalige Sklavenhändler war nicht bereit, mit ihm zu sprechen und Nukritas würde ihm seinen Wunsch erfüllen. Er trat von der Zelle weg und senkte den Kopf. Einen Moment blieb er so stehen, angeleuchtet von der Fackel an der Wand, als eine leise, sanfte Stimme zu ihm sprach: „Nehmt es Armando nicht übel. Er hatte mit Severin Streit und sich niemals entschuldigen können. Jetzt macht er sich Vorwürfe, dass sie beide so auseinandergegangen sind, ohne sich jemals wieder vertragen zu haben."

Nukritas hob den Kopf erneut und blickte in die Zelle, die sich nur eine weiter von Armandos befand.

„Halt die Klappe, Leif", meinte Armando. Seine Stimme klang gedämpft, als habe er sich auf seiner Pritsche nun doch in seine Decke eingekuschelt. Nukritas trat interessiert näher. In der Zelle saß ein alter, untersetzter Mann, dessen Haar bereits ergraut war. Ihm schien die Kälte noch viel schlimmer zu treffen, dennoch machte sich der Alte kaum eine Mühe, sich vor ihr zu schützen. Wahrscheinlich hoffte er, zu erfrieren, ehe er morgen zum Galgen geführt wurde.

„Ihr seid der Fälscher." Nukritas erinnerte sich an die Liste, die er von den Wachen bekommen hatte. Der Name Leif und dessen Aufgabe in dem ganzen Plan, Prinz Serage zu ermorden waren ihm im Gedächtnis geblieben.

„Das ist richtig." Leif nickte. „Eve war stets eine schwierige Person. Sie konnte weder Liebe geben, noch annehmen. Sie blieb kaltherzig, obwohl Severin versucht hat, sie zu erweichen. Und gleichzeitig hat genau das sie stark und unwiderstehlich gemacht. Unser lieber Armando dort hinten hätte sie wohl geheiratet, wenn alles anders gekommen wäre."

„Ich habe gesagt, du sollst den Mund halten!"

„Sie hasst mich bestimmt auch, wie alle anderen." Nukritas hatte versucht, seine Schwester zu hassen, aber es war ihm einfach nicht möglich. Sie war seine Familie, außerdem war es Severins letzter Wunsch gewesen, dass er ihr nichts antun würde. Und der Lichtritter war gewillt, diesen Wunsch nicht unerfüllt zu lassen.

„Eve hasst wenige Menschen aus tiefsten Herzen", erwiderte Leif kopfschüttelnd. „Sie verachtet mehr. Das ist ein großer Unterschied. Eve... sie wird euch hassen, weil Ihr Severin umgebracht habt, aber gleichzeitig lieben, weil Ihr sein Sohn seid. Zwischen Euch beiden wird sich eine sehr schwere Beziehung entwickeln."

Die Worte beruhigten Nukritas seltsamerweise. Der Mann blickte herunter auf seine behandschuhten Hände und schaffte es tatsächlich, zu lächeln.

„Danke", sagte er. „Ihr scheint mir ein weiser Mann zu sein, Leif."

„Ich bin nur ein Fälscher, der mit einem Schattentänzer befreundet war." Leif lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Ich habe mich in vielen Sachen schuldig gemacht. Und ich habe alles zugegeben. Mein Leben war lang und erfüllt und ich habe einzigartige Menschen kennengelernt. Und in dem Wissen, dass Ihr unsere Welt beschützt, werter Lichtritter, kann ich mit einem guten Gewissen gehen."

„Du kannst dich noch so sehr einschleimen, Leif, aber du wirst morgen trotzdem gehängt werden." Armando klang genervt und Nukritas wollte schon gehen, als ihn der Fälscher noch einmal aufhielt.

„Eve erledigt die Dinge auf ihre Weise, Nukritas. Aber sie müssen nicht wirklich falsch sein, versteht Ihr? Im Grunde genommen seid Ihr beide ziemlich gleich ... und wenn Severin euch sehen würde, wäre er bestimmt sehr stolz auf euch."

Nukritas nickte ihm zu, dann schickte er sich an, den Kerker zu verlassen. Gregorius begleitete ihn stillschweigend und der Lichtritter hatte Zeit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Leifs Worte hatten ihn nachdenklich gemacht; er und Eve verfolgten ihre Ziele bis zum bitteren Ende. Doch während Nukritas, als Paladin, darauf achten musste, niemanden mit Absicht zu verletzten oder unmoralisch zu handeln, waren Eve solche Aspekte vollkommen egal. Sie tat alles für das Gelingen ihrer Mission, während Nukritas in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden waren.

...er war sich sicher, dass seine Schwester eine gute Templerin abgeben würde, denn die handelten ja so ähnlich.

Nukritas fragte sich, ob er es schaffen würde, seine Grundsätze zu brechen, um an sein Ziel zu gelangen. Gleichzeitig war ihm dieser Gedanke absolut zuwider und er schüttelte den Kopf, während ihm ein kalter Schauer den Rücken runterlief – und der wurde nicht von dem kalten Wetter verursacht.

Er war ein Lichtritter.

Ein strahlender, zurückgekehrter Held aus der Himmelsebene, auserwählt und auserkoren. Er konnte die Kraft von Glaube nutzen, schaffte es mit Leichtigkeit, Wunder zu vollbringen und wurde immer mehr und mehr zu einer lebenden Legende.

...und gleichzeitig schaffte er es, Schatten zu kontrollieren und ihre Kraft zu nutzen. Sie schädigten ihm nicht so sehr, wie sie sollten und in ihrer Nähe spürte Nukritas stets das Gefühl eines Wohlbefindens, das er selbst im Licht nie wirklich wahrnahm. Die Seele des jungen Mannes schien in eine dunkle und eine helle Seite aufgespalten zu sein und der Paladin bekam Angst, dass er sich eines Tages entscheiden musste, wer er sein wollte: Der Lichtritter Nukritas oder der Sohn eines Schattentänzers?

Severin hatte immerhin selbst die Seiten gewechselt, war von einem glanzvollen Paladin in das Schattenreich abgestiegen und war zu einem der gefährlichsten Assassinen des Landes geworden. Konnte ihm ebenfalls ein solches Schicksal blühen? Tryson hatte einmal die Angst gehabt, dass genau das passieren würde und er hatte Nukritas mit aller Kraft zurückgehalten.

... wenn er damals, in Volcanius, gegangen wäre, weil er sich nicht mehr genügend respektiert gefühlt hatte ... was wäre dann aus ihm geworden?

„Nukritas?"

Der Angesprochene blickte hoch. Ohne es zu merken war er einfach gelaufen und nun standen sie wieder vor ihrer Taverne. Der Lichtritter stützte sich mit einer Hand an der Hauswand ab und senkte den Kopf. Gregorius blickte ihn sorgenvoll an und der Paladin schüttelte verzweifelt den Kopf, presste sich die Handballen gegen die Stirn.

Er würde niemals ein wahrer Lichtritter sein können. Nukritas' Schattenseite würde immer ein Teil von ihm bleiben und immer würden beide Teile in ihm in einem ständigen Konkurrenzkampf stehen. Der Paladin hatte nie etwas Besonderes sein gewollt; als er zum Lichtritter ernannt wurde, hatte er sein Schicksal irgendwann akzeptiert, doch jetzt schien es, als lag seine gesamte heile Welt, an die er immer geglaubt hatte, in Scherben zu seinen Füßen.

Langsam ließ sich Nukritas in den Schnee sacken und er spürte, wie ihm kalte Tränen über die Wangen liefen.

Er konnte nicht mehr.

Der Druck, der momentan auf seiner Seele, seinem Geist, lastete, war einfach zu viel für ihn. Er war kein normaler Lichtritter, er war kein normaler Mensch mehr und selbst ins Schattenreich gehörte er nicht wirklich.

Doch wo gehörte er dann hin?

Irgendwie war er alles ...

... und gleichzeitig doch nichts.

„Nukritas ... jetzt beruhige dich doch..." Gregorius kniete sich zu ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Doch der Paladin schüttelte den Kopf und hob den Blick, um seinen Mentor in die hellen Augen zu schauen. Er holte zitternd tief Luft und sprach die Worte aus, die ihn bereits seit Wochen quälten:

„Ich ... ich verlasse die Kirche, General."


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