Ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt (Teil 1)
Nukritas stand, genau wie alle anderen, fassungslos in den Trümmern der Dritten Großen Stadt. Tryson saß in Donners Sattel rechts von ihm und Gregorius stand links von ihm; Belle und Cheva hielten sich in seiner Nähe auf und setzten sich neben jede einzelne gestorbene Person und beteten auf Drakonisch für sie. Bisher hatte er nur ein einziges Mal eine solche Zerstörung gesehen und das war damals in dem Dorf gewesen, wo er auf den Angstnährer gestoßen war – und der ihm den Tod gebracht hatte. Und mit dem Tod seine Wiederauferstehung zum Lichtritter. Damals hatten die Dorfbewohner mittels eines dunklen Rituals irgendetwas zu beschwören versucht; hereingekommen war das Schattenmonster und hatte schlussendlich das komplette Dorf eliminiert und sämtliche Bewohner getötet.
Jetzt waren zwar nicht alle tot, doch viele waren schwer verletzt, wimmerten, weinten oder schrien ihre Schmerzen heraus. Der Geruch von Blut lag in der kalten, frostigen Luft, von überall her hörte der Lichtritter immer wieder ein Stöhnen und regelmäßig fuhren ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Keiner in der Dritten Großen Stadt sprach ein Wort, alle arbeiteten stumm und es würde sehr lange dauern, bis sich wieder eine gewisse Normalität eingespielt hatte. Bisher war Nukritas nur selten Zeuge von solch erstaunlichen Mächten geworden und er hatte bisher nur einen einzigen Magier kennengelernt, doch dieser seltsame Narr... der schien von einem ganz anderen Kaliber als Seth zu sein. Der junge Paladin erinnerte sich noch genau an das riesige Wasserelementar, gefroren zu Eis, gewandelt zu einer unberechenbaren, gefährlichen Waffe, die es sogar geschafft hatte, das sonst so stabile Tor der Stadt zu zerbrechen wie einen dünnen Baumspross. Er selbst hatte eine solche Verwandlung niemals für möglich gehalten, doch jetzt, wo er es mit eigenen Augen gesehen hatte, wie zerstörerisch die Macht von Magiern sein konnte... er verstand die Angst der Menschen, mit der sie Magiern begegneten. Er verstand, warum Seth seine Kräfte nicht jedem offenbarte, warum Adelige ihre Magier an der kurzen Leine hielten, warum man die unabhängigen Magier mit einer Intensität, die einem Angst einjagte, verfolgte, nur, um sie anschließend zu töten.
Er verstand es, dennoch schaffte er es nicht, es gutzuheißen.
Und nun stand er hier, in den Trümmern einer stolzen, gewaltigen Stadt und sah dabei zu, wie bei einigen Menschen der letzte Lebensfunke erlosch.
Die Palastwachen hatten angefangen, gemeinsam mit den Stadtwachen aufzuräumen und einige der unverletzten Arbeiter halfen ihnen; doch auch wenn sie mit gesammelten Kräften drangingen, würde der Wiederaufbau der Stadt Wochen, wenn nicht sogar Monate in Anspruch nehmen – was bedeutete, dass Collis für einen Angriff enorm empfindlich geworden war.
Das Königspaar, Ladonnis und Thalia, die ihre Hand auf ihren stark gerundeten Bauch hielt und leichenblass im Gesicht geworden war, sowie ihre Kinder, die beiden Prinzen Kolja und Santiago und Prinzessin Jacintha, standen in unmittelbarer Nähe und schienen regelrecht ratlos zu wirken, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Collis war dank der Bedrohung durch Nyrociels Wildelfen einer viel größeren Gefahr ausgesetzt als die anderen Großen Städte und sobald die Herrin des Clans von ihrer verletzlichen Lage erfahren würde, würde sie nicht zögern, einen Angriff zu starten, um sie endgültig zu zerstören.
Seltsamerweise war von dem Wunderheiler keine Spur zu entdecken, denn Nukritas hatte erwartet, dass dessen Neugierde ihn vor die Palastmauern treiben würde. Doch selbst bei den Hinrichtungen hatte er nur einen kurzen Blick auf den Mann erhaschen können, und... Nukritas erstarrte mitten in seinen Gedanken und dachte daran, dass er in dem ganzen Chaos und undurchsichtigen Gewimmel für einen kurzen Augenblick tatsächlich Eve getroffen hatte.
Seine Schulter, wo sie ihm ihren Dolch reingerammt hatte, schmerzte noch immer und er hatte noch keine Zeit gefunden, seine Wunde zu heilen, doch das leichte Brennen erinnerte ihn stetig an ihre Begegnung. Sie hatte anders ausgesehen, als er es sich vorgestellt hatte, mit abrasierten Haaren und braunen Augen, doch ihre Gesichtszüge waren genau dieselben gewesen wie die, die er in Metus' Erinnerungen erblickt hatte, nur erwachsener und ernster. Außerdem hatte er eine Verbindung zwischen ihnen gespürt, zusätzlich zu dieser... dunklen Energie, die Eve umschwirrten hatte wie die Motten das Licht.
Und sie hatte ihn ebenfalls erkannt, das hatte er an ihrer schnellen, abwertenden Reaktion bemerkt. Was sie in diesem Moment wohl gedacht hatte... Hatte sie gefürchtet, er nahm sie fest und wollte sie töten? Nukritas würde dergleichen nie wagen, doch da war etwas in Eves Blick gewesen... etwas, das ihm bewiesen hatte, dass sie niemanden wirklich vertraute und immer auf ihren Schutz bedacht war.
Und nun befand sie sich außerhalb der Stadt, verletzt und geschwächt. Wahrscheinlich würde sie das dichte Schneegestöber nicht überleben, wenn kein Wunder passierte oder ein Wanderer sie finden und wieder aufpäppeln würde. Nukritas war versucht, nach ihr zu suchen, aber er wusste, dass Eve ihn nicht bei sich haben wollte. Wenn er eine Bindung zu seiner Schwester aufbauen wollte, dann müsste er es auf einen anderen Weg versuchen – wie dieser jedoch aussah, wusste er selbst nicht so recht.
„Nun...", Tryson regte sich ein wenig und beugte sich vor, sodass er die Ellenbogen auf den Knien abstützen konnte. „Wir sollten gehen."
„Gehen?", echote Nukritas. „Wohin genau meinst du?"
„Zurück zur Kirche", erklärte der Mutant. „Wir können hier nichts mehr machen. Die Stadt wird untergehen."
Nukritas wurde ganz mulmig in der Magengegend und sein Mund fühlte sich trocken an, als er fragte: „Untergehen? Bist du dir sicher?"
„Was glaubst du wohl, wohin Eve am ehesten flüchten wird? Bestimmt nicht in eines der Dörfer", brummte Tryson mit einem Stirnrunzeln. „Sie wird zu den Wildelfen gelangen. Und Nyrociel ist hochgefährlich."
„Dann sollten wir hierbleiben", meinte Nukritas. „Ihnen helfen."
„Nukritas, auch wenn du Severin getötet hast, du bist nicht stark genug, um gegen Nyrociel anzutreten", sagte Tryson und seine Miene wurde finster. „Sie ist keine Schattentänzerin, sondern kämpft mit einer Art Magie. Du bist noch nicht gut genug ausgebildet, um gegen Magier zu bestehen."
Nukritas' Ausbildung hatte sich auf nicht-magische Kämpfer und Schattentänzer fixiert, um für den Kampf gegen Severin vorbereitet zu sein. Zwar hatte er hin und wieder mit Seth trainiert, doch dieser Teil war stark vernachlässigt worden, vor allem, da der Magier ja eine Zeit lang verhindert gewesen war.
„Aber wir können die Menschen hier nicht einfach im Stich lassen", meinte der Lichtritter mit schwacher Stimme.
„Die Kirche darf sich in solche Belange sowieso nicht einmischen", meldete Gregorius sich zu Wort. „Unsere Götter sind auch die der Elfen und Zwerge. Früher hat es haufenweise Vertreter von ihnen in der Kirche gegeben. Die Kirche ist nicht dazu da, um Krieg zu führen oder einer Seite zum Sieg zu verhelfen. Wir sind unabhängig von allen anderen Städten, dürfen uns für keine von ihnen parteiisch erkennen, stärken den Glauben, sind für die Schwachen und Hilflosen da und gehen gegen die dunklen Mächte des Schattenreiches vor. Ein Kampf zwischen Elfen und Menschen ist nicht unser Aufgabengebiet. Wir können versuchen, ihn zu schlichten, aber..."
„...Nyrociel wird darauf nie eingehen. Sie ist zu sehr geblendet", beendete Tryson den Satz für den General.
„Wieso eigentlich?", wollte Nukritas wissen. „Was ist zwischen ihr und dem Königreich passiert?"
„Du weißt, dass die Halb-Elfen in unserem Land systematisch ausgerottet wurden, richtig?", fragte Gregorius. Nukritas nickte; dieses Wissen gehörte zur Grundausbildung der Paladine, jedoch... „Ich habe nie wirklich verstanden, was an ihnen so gefährlich sein soll."
„Sie waren nicht wirklich gefährlich. Die Adeligen haben sie nur als eine Bedrohung gesehen. Halb-Elfen sind in der Lage, mit Drachen eine Bindung einzugehen, wie es sonst nur Magier können. Der Grund liegt in ihrem gemischten Blut. Und die Adeligen empfanden es als befremdlich, dass etwas, was nicht zu ihnen gehörte, eine solch mächtige Kreatur beherrschen konnte." Tryson senkte den Blick und fuhr mit einem Flüstern fort: „Wenn du sie nicht zu deinen Freunden machen kannst, dann bring sie um. Das ist ihr Leitbild."
Genauso machten sie es mit den Magiern. Den Mutanten. Die Halb-Elfen waren eine weitere, unterdrückte Gruppe, die nur aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zum Tode verurteilt wurde. Nukritas wurde schlecht, als er dies hörte; für ihn selbst war es unverständlich, dass man ein Lebewesen einfach so ermordete, ja, eine ganze Rasse regelrecht ausrottete, nur, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.
„Und Nyrociel tut das, was sich viele nicht trauen", erklärte Gregorius weiter. „Sie beschützt die Halb-Elfen. Sie hat etliche in ihren Clan aufgenommen und genau das ist den Adeligen ein Dorn im Auge. Collis hat oft versucht, sie zu töten, es aber nie geschafft. Und irgendwann ist die ehemalige Herrin gestorben und Nyrociel ist an ihre Spitze getreten – und seitdem gibt es diesen ewig währenden Krieg."
„Nukritas... Wenn du weißt, dass Nyrociel die Halb-Elfen beschützt, die andere nur zu gerne tot sehen wollen... Auf wessen Seite würdest du dich stellen, wenn du dürftest?", fragte Tryson. Der angesprochene Lichtritter senkte den Kopf; es war eine schwierige Frage und er verstand immer mehr, was es bedeutete, ein Kirchenmitglied zu sein.
„Wenn wir mit den Elfen kämpfen, sind die Menschen wütend. Umgekehrt genauso. Aber die Kirche steht jedem offen, wir dürfen keine Partei verärgern", antwortete er schließlich mit heiserer Stimme.
„Richtig." Gregorius nickte. „Wenn wir größer und einflussreicher und die anderen einsichtiger wären, würden wir Nyrociel und Ladonnis wohl zu einem Gespräch einladen können, um eine friedliche Lösung zu finden. Aber so..."
„Aber stellen wir uns nicht indirekt auf die Seite der Wildelfen, wenn wir einfach gehen?", wollte Nukritas wissen, den sein schlechtes Gewissen plagte.
„Glaub mir... Collis ist nicht ganz so schutzlos, wie es uns versucht, glauben zu machen." Tryson sah hoch zum Palast und schnaubte aus. „Immerhin ist der Wunderheiler noch hier." Seine Stimme klang verbittert und angeekelt, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Und der hat mehr Tricks auf Lager, als ein Baby in den Bauch der Königin zu kriegen."
Nukritas fiel auf, dass Tryson mit Absicht von Feyjassan nicht als Alchemisten sprach – aber bei den ganzen Ohren, die sie belauschen könnten, war das auch gar nicht mal so falsch.
„...ich verstehe. Wann werden wir aufbrechen?", wollte der Lichtritter zum Schluss noch wissen. Tryson sah sich um und ließ den Blick über die Verletzten schweifen. „Wenn wir hier geholfen haben. Denn das hier, Nukritas, gehört zu euren Aufgaben als Paladine."
Nukritas entdeckte einige ihrer Anhänger, die damit angefangen hatten, den Verletzten aufzuhelfen und in ein großes intaktes Anwesen eines Adeligen zu bringen, der es bereitwillig zur Verfügung gestellt hatte. Ein kleines Kind lag in den Armen seines Vaters, dessen Gesicht von Tränen überströmt war, und schien große Schmerzen zu leiden. Der junge Lichtritter setzte sich langsam in Bewegung – er würde seine Pflichten als Lichtritter und Paladin ernst nehmen, ansonsten würde er diese Stadt niemals mit gutem Gewissen verlassen können.
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