Ein Sandkorn, das im Auge sticht (Teil 3)

Sie macht das nicht freiwillig, schoss es der jungen Tänzerin durch den Kopf und sie wich einen Schritt zurück. Keanu hatte seinen Kunden immer verboten, die Tänzerinnen anzufassen und Nora hatte noch nie miterlebt, dass irgendjemand diese Regel gebrochen hatte. Hier aber wurden die Mädchen wie ein Stück Fleisch behandelt und sie sah sogar, wie die ein oder andere Träne eine geschminkte Wange herunter floss, doch niemand schien sich daran zu stören.

...als Nora einmal geweint hatte, hatte Keanu sie sofort getröstet und dann zu Dajana geschickt, damit diese sie aufheiterte. Es hatte funktioniert und Nora hatte sich wohl und aufgenommen in der Gruppe gefühlt. Doch bei diesen Mädchen hier... sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich hier jemand darum kümmerte, ob sie glücklich waren oder nicht.

„Ich mag meine Tänzerinnen vielleicht zu Dieben ausbilden", raunte Keanu in ihr Ohr. „Aber ich stehle ihnen nicht ihre Würde und ihren Stolz." Vorsichtig legten sich seine Hände auf ihren Schultern und er drehte ihren Oberkörper leicht, sodass sie sich ihm zuwandte.

„Es gibt viele solcher Orte, wo Mädchen wie du landen. Und nur die wenigsten sorgen für das persönliche Wohlergehen. Für die meisten hier bist du nur ein hübsches Ding, das die Kunden mögen würden. Für mich jedoch bist du eine Tänzerin, die großes Potential versteckt hält."

Keanu ließ sie los und wandte sich dann von ihr ab. „Ich habe etwas zu erledigen... Wenn du mitkommen möchtest, komm mit, aber dann erwarte ich, dass du bei mir bleibst. Und wenn nicht... Du kannst gerne dort drüben nach Arbeit fragen. Ich hörte, es werden immer gerne unschuldige Mädchen gesucht."

Nora warf einen raschen Blick auf das Freudenhaus zurück, dann sah sie wieder zu Keanu. Der Mann verschwand bereits in einer Seitengasse im Schatten und Nouleera zitterte ein wenig. Sie wollte ein solches Leben nicht... Aber sie wusste, wenn sie Keanu jetzt verließ, dann würde es sie erwarten. Nora war sehr blauäugig gewesen, als sie nach Arensentia gekommen war und ihre Vorstellungen von einem normalen Leben waren innerhalb eines Abends in tausend Stücke zersprungen.

Doch wenn sie an die Möglichkeiten dachte, die ihr offenstanden, dann fiel ihr die Entscheidung nicht schwer. Nora setzte sich in Bewegung und folgte Keanu, den sie am Ende der Gasse erblickte. Schnell huschte sie zu ihm hin und leises Glöckchenklingeln verriet ihre Bewegungen. Keanu blieb stehen und sah zu ihr, als sie sich ihm näherte.

„Nimm das ab", befahl er mit leiser Stimme. „Wir können keinen Lärm gebrauchen."

Nora gehorchte und steckte den Schmuck in eine der Manteltaschen. Keanu winkte sie weiter und er bewegte sich schnell durch die Gassen, als würde er sie in- und auswendig kennen. Und wahrscheinlich tat er das sogar, denn laut Shaulee war Keanu nachts häufig alleine unterwegs und das nur, um jeden noch so kleinen Fleck in Arensentia auszukundschaften.

Keanu führte sie über den Basar und in den Stadtring, in dem sich die wohlhabenderen Bürger ein Haus leisten konnten. Nora brannten etliche Fragen auf der Zunge, doch sie schluckte sie alle herunter und zwang sich, Keanu zumindest ein bisschen Vertrauen zu schenken. Schlussendlich blieb er vor einem Haus stehen, hinter dessen Vorhängen alles dunkel war.

„Leg deinen Mantel ab", wisperte ihr Anführer und sah sich in der schmalen Gasse um, ehe er zwei Dietriche zückte und sich vor die Tür kniete. Nora hielt die Luft an, als sie sah, wie Keanu an dem Schloss herumfummelte und es nur wenige Augenblicke später geöffnet hatte. Er sah zu ihr und blinzelte ihr zu, ehe er in das Innere verschwand. Nora war sich unsicher, ob sie ihm folgen sollte, oder nicht – doch dann hörte sie ein paar Stimmen in der Nähe und aus Angst, entdeckt zu werden, ging sie Keanu hinterher und schloss die Tür leise hinter sich.

„Gut gemacht", lobte ihr Anführer sie. In dem Zwielicht war er nur schwer zu erkennen und Nora wurde sich schmerzlich bewusst, dass sie gerade eben zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Haus eingebrochen war, auch wenn Keanu die treibende Kraft hinter alledem war.

Das Innere des Hauses war stilvoll eingerichtet, mit aus Stein gehauenen Statuen aufgereiht an den Wänden sowie edlen, reich bestickten Teppichen. Keanu und Nora gaben keinen einzigen Laut von sich, während sie durch den Flur schlichen, an etlichen Zimmern vorbei und anschließend eine Treppe passierten, die nach oben führte. Nora schwitzte am ganzen Körper; ihre Kleidung klebte unangenehm an ihrer Haut und sie zwang sich, durch den Mund zu atmen, damit sie nicht auf versehen losschnaufte und so wild, wie ihr Herz pochte, vertraute sie darauf, dass Keanu es mit Sicherheit hörte. Keanu selbst schien die Ruhe in Person zu sein, so wie immer. Langsam ging er an den Türen im oberen Stockwerk vorbei und schien sie zu zählen, ehe er bei einer bestimmten stehen blieb. Er öffnete sie und trat in das Zimmer ein, Nora dicht hinter ihm.

Es handelte sich um ein Schlafzimmer: Ein riesiges Bett stand inmitten des Raumes und nahm ihn beinahe komplett ein. Etliche Kissen türmten sich auf der weichen Matratze und eine dünne, bunte Decke schien eher dekorative Zwecke zu besitzen, als irgendeinen Körper zu wärmen. An den Wänden waren aus dem Stein mehrere Regale herausgearbeitet worden, verziert mit Blumenranken. Auf ihnen drauf standen mehrere hübsche aus Porzellan gefertigte und bunt angemalte Figuren, die Kriegerinnen, Tänzerinnen oder andere Personen darstellten. Nora hatte sie schon häufiger an den Ständen auf dem Basar gesehen und wusste, dass sie unglaublich wertvoll waren.

Keanu griff nach einer Figur, die wie eine Elfin mit einem kleinen Drachen auf dem Arm geformt war, und wickelte sie in mehrere Stofflagen ein, um sie zu schützen. Dann reichte er sie Nora, doch das Mädchen griff nicht danach, sondern starrte das Diebesgut entsetzt an. Keanu wartete geduldig einige Augenblicke, doch Nora schien wie paralysiert zu sein – sie konnte nicht wirklich glauben, dass Keanu dieses wertvolle Stück tatsächlich einfach so mitnehmen wollte.

„Mein Auftraggeber hat mir erzählt, dass ihm diese Figur vor ein paar Wochen abhanden gekommen ist. Er will sie einfach nur wiederhaben", erklärte Keanu ihr schließlich. Nora warf ihm einen misstrauischen Blick zu und hob zögerlich eine Hand.

„Nouleera... ich würde dich nicht anlügen", meinte er und drückte ihr die Figur schlussendlich in die Arme. Nora hielt die Luft an, als sie das zart gearbeitete Gebilde unter dem ganzen Stoff ertastete und atmete ganz vorsichtig aus, als könne bereits diese sanfte Bewegung sie beschädigen. Keanu besah sich das Regal erneut und sein Blick strich sehnsüchtig über die ganzen anderen Figuren. Einen Augenblick schon glaubte Nora, er würde noch eine einstecken, doch dann wandte er sich um und winkte sie aus dem Zimmer hinaus. Als sie das Haus verließen und Keanu die Tür wieder verschlossen hatte, beruhigte sich Noras Herzschlag nur minimal. Immer wieder starrte sie auf den Gegenstand in ihren Händen und er schien wie ein gewaltiger Felsblock zu wiegen.

Keanu hob den Mantel auf und nickte dann in eine Richtung, in der sie verschwanden. Nora folgte ihm immer noch stumm durch die Gassen, das wertvolle Gut an ihre Brust gedrückt und selbst wenn sie etwas sagen gewollt hätte, hätte ihre Stimme wahrscheinlich in ganzer Linie versagt.

Als sie wieder in die Nähe des Basars kamen, fragte Keanu: „War es so schlimm?"

„Was?" Nora blieb stehen und sah zu ihm auf.

„Ob es so schlimm war." Keanu nickte zu der Figur in ihren Armen. Nora sah darauf hinab und schluckte, dann zuckte sie mit den Schultern.

„Ja", antwortete sie schließlich.

„Was war denn so schlimm?", wollte Keanu wissen. „Ich habe den Menschen etwas weggenommen, was ihnen nicht gehört hat."

„Es ist einfach nicht richtig... Wir können dafür festgenommen werden."

Keanu grinste leicht. „Dafür müssen sie uns erst einmal erwischen."

An Noras Blick konnte man sofort erkennen, dass sie das nicht wirklich witzig fand. Der Mann seufzte schwer auf und fuhr sich durch die Haare, dann schien er nachzudenken. Nora starrte immer noch auf die Figur hinunter und wickelte sie ein wenig aus dem Tuch aus, bewunderte die filigrane Schönheit und wünschte sich, selbst so etwas zu besitzen.

„Nouleera... findest du es in Ordnung, dass die Adeligen so viel Geld im Überfluss haben und wir selbst in Armut leben müssen? Und das, obwohl wir hart für unser Gold arbeiten?"

Nora sah bei den Worten kaum merklich auf und sie zögerte. Sie persönlich hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie die Mächte wirklich verteilt waren – aber jetzt, wo Keanu sie darauf ansprach...

„Eigentlich nicht", antwortete sie und drehte die Figur in alle Richtungen, um sie genauestens zu begutachten. Und gleichzeitig wusste sie, worauf Keanu hinaus wollte: „Du glaubst, du tust etwas Gutes, indem du sie bestiehlst?"

„Du vergisst einen entschiedenen Unterschied, Nora", wisperte ihr Anführer und nahm ihr die Figur mit einer sanften Geste aus den Händen. „Ich stehle nicht, weil ich es möchte, sondern, weil es mir aufgetragen wird. Das hier ist meine Arbeit, in gewisser Weise. Adelige bezahlen mich dafür, dass ich solche kleinen Sachen hier mitgehen lasse, in Häuser einbreche, Informationen einhole... Es gibt Menschen, die haben eine Begabung für so etwas und müssen sich dann leider die Finger schmutzig machen."

Nouleera sah ihn zweifelnd an. „Wenn du die Wahl hättest... würdest du dann etwas anderes machen?"

„Natürlich." Keanu lachte leise. „Niemand wird zum Verbrecher geboren. Aber die Straßen machen dich zu einem. Du musst nur entscheiden, wie du deine erlangten Fähigkeiten sinnvoll einsetzt. Einige Diebe bestehlen die Reichen, um es den Armen zu geben, ihnen etwas Gutes zu tun. Andere wiederum machen es tatsächlich nur aus reiner Gier und sehr viele, weil sie sonst nicht überleben würden. Ich habe keine Ahnung, wie es in deinem Dorf ausgesehen hat, oder was für ein Leben du vorher gelebt hast... Aber ich musste mich schon immer auf der Straße durchkämpfen und habe gelernt, dass alles, was ich an Talent besitze, sehr wertvoll für andere Menschen sein kann und ich damit mein eigenes Gold verdienen kann. Und bis die Sandkörner als Tanzgruppe wirklich anerkannt sind, vergehen noch ein paar Sommer... bis dahin müssen wir uns unseren Lebensunterhalt noch zusätzlich anders verdienen. Aber das geht auch nur, wenn alle von uns an einem Strang ziehen."

Nora dachte eine Weile über seine Worte nach. Es stimmte, in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, hatte es keine wirkliche Armut gegeben. Zwar war auch niemand wirklich reich gewesen, doch sie waren stets gut über die Runden gekommen und hatten keine Angst haben müssen, wie sie den nächsten Tag nur überleben würden. Und sie selbst hatte auch eine sehr glückliche Kindheit ohne Sorgen gehabt, zumindest bis zu jenem verhängnisvollen Tag... Nora wusste, dass sie es ihrer Vergangenheit zu verschulden hatte, dass sie Keanuas Methoden, an Gold zu kommen, nicht wirklich gutheißen konnte, doch jetzt sah sie all seine Taten mit etwas anderen Augen. Vielleicht war es immer noch nicht der richtige Weg, aber sie verstand eine gewisse Notwendigkeit in seinem Tun... und immerhin stahl er ja nicht für sich selbst, sondern nur für andere. Das war ein Unterschied, befand sie, dennoch fragte sie mit zögernder Stimme: „Wenn wir beim Tanzen richtig erfolgreich sind... hörst du dann auf mit dem Diebesleben?"

Keanus Augen zuckten zur Seite; er zögerte, wurde Nora bewusst, und sie hielt den Atem an. Sie hoffte inständig, dass der Mann Ja sagen würde, dass er beteuern würde, sofort mit allem aufzuhören, sobald sie genug Gold zum Leben so verdienten... Doch er konnte es nicht sagen, das sah ihm Nouleera sofort an. Doch schließlich öffnete Keanu den Mund, um ihr zu antworten: „Ich weiß es nicht, Nora. Ich will dich in der Hinsicht auch nicht anlügen... Aber selbst wenn ich weitermache... du selbst wärst dann so bekannt und erfolgreich, dass du die Sandkörner nach eigenem Belieben verlassen könntest. Das steht dir immerhin offen. Die Frage ist nur, ob du dich damit dann arrangieren kannst."

Nora rechnete es Keanu hoch an, dass er sie nicht anlog. Ihr Anführer war ehrlich und nahm es in Kauf, dass Nora sofort wegging, weil es ihren Moralvorstellungen nicht entsprach – und gleichzeitig hoffte er, dass es gerade die Ehrlichkeit sein würde, die sie an die Gruppe binden würde. Nouleera blickte in seine Augen, so unendlich tiefgründig wie der Himmel über ihren Köpfen, und langsam nickte sie.

Sie wusste immerhin, was die Alternative zu einem Leben als Diebin war und war intelligent genug, die Möglichkeit rauszusuchen, wo sie am glücklichsten sein würde. Und wenn das heißen würde, dass sie anfangen musste, in Keanus Auftrag Menschen zu bestehlen, dann würde sie das auch erledigen.

Ihr Anführer hatte Recht: Man wurde nicht zum Verbrecher geboren. Die Straßen, auf denen man lebte, machten einen dazu. 

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