Ein Sandkorn, das im Auge sticht (Teil 1)
„Lass sie los", wiederholte Shaulee mit zitternder Stimme, „oder ich werde dich töten."
Das Wesen, das Nora immer noch fest umklammert hielt, legte den Kopf schief; die leicht behaarten Ohren zuckten neugierig und wie hypnotisiert starrte es auf die Klinge in ihren Händen, machte allerdings keine Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten. Nora selbst traute sich gar nicht mehr so recht, zu atmen. Sie spürte den Herzschlag des Wesens, dessen Wärme und starken Arme, die um ihre Mitte geschlungen waren; das wenige Fell kitzelte ihre nackten Hautstellen und sie befürchtete, dass die langen Krallen sie jederzeit verletzen könnten. Nur ganz schwach formten sich ihre Gedanken zu einem Plan und sie bereitete sich darauf vor, ihn in Tat umzusetzen, sollte das Monster sie nicht mehr loslassen wollen.
„Belshazzer." Khasibs Stimme drang an ihre Ohren. Nora schreckte auf; sie hatte den Baron beinahe schon vergessen und befeuchtete ihre Lippen leicht mit der Zunge, ehe sie es wagte, ihm den Blick zuzuwenden.
„Lass sie los", meinte er mit sanfter Stimme, dann drehte er sich zu Shaulee um. „Und du solltest deine Waffe weglegen."
Shaulee zögerte sichtlich, doch als das Wesen, das offenbar auf den Namen Belshazzer hörte, Nora vorsichtig zu Boden gleiten ließ (ihre Beine trugen sie nicht mehr, egal, wie sehr sie es versuchen würde), senkte sie ihren Dolch ebenfalls. Die junge Schleiertänzerin war wie erstarrt und blieb an Ort und Stelle auf dem dicken, weichen Teppich sitzen, hatte die Hände in den weichen Stoff gekrallt und atmete mehrmals tief ein und aus. Der Schock saß noch immer tief in ihren Knochen und nur zögerlich hob sie den Blick. Belshazzer hatte sich zu Khasib zurückgezogen und seine Augen mit den geschlitzten Pupillen lagen interessiert auf ihr, während sein Schweif vor Aufregung hin und her zuckte. Das Wesen war wahrlich keine Schönheit und innerlich erschauderte Nora, dass es sie festgehalten, ja, regelrecht an sie gedrückt hatte. Shaulee musterte sie besorgt, ehe sie ihren Dolch endgültig wegsteckte und zu ihr geeilt kam, um sie in die Arme zu nehmen. Nora zitterte immer noch und schaffte es nicht, den Blick von dem katzenähnlichen Monster zu nehmen. Khasib rieb sich das Nasenbein und wirkte... man könnte es fast als verzweifelt bezeichnen.
„Ich hatte gehofft, du würdest oben bleiben, Shaz", meinte er schließlich. „Jetzt müssen wir weggehen. Dabei gefällt es dir und deinen Schwestern doch so gut hier."
Belshazzer legte die Ohren an, dann öffnete er den Mund, das Maul (Nora wusste nicht, wie sie es genau beschreiben sollte), und sagte: „Aber sie hätte sich verletzt."
„Wir haben darüber gesprochen", meinte Khasib mit strengem Tonfall. „Du, Soraya und Acelya seid anders. Und viele Menschen sind eure Andersartigkeit nicht gewöhnt und haben Angst vor euch."
„Man braucht keine Angst zu haben", erwiderte Belshazzer nur und schien sich kleiner machen zu wollen, als wäre er dadurch weniger furchteinflößend.
„Ich unterbreche euch ja nur äußerst ungerne", fing Shaulee an, während sie Nora wieder auf die Beine half. „Aber besäßet Ihr die Güte, uns zu erzählen, was hier eigentlich vorgeht? Was ist das", sie zeigte anklagend auf Belshazzer, „für ein Wesen?"
Der Baron sah sie eine Weile an, dann gab er einen lauten Seufzer von sich. Langsam stand er auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Nora beobachtete Belshazzer weiter, der sich immer noch hinter dem Sofa aufhielt, die klauenartigen Hände auf die Lehne gelegt und ihren Blick neugierig musternd. Persönlich wünschte sie sich nichts lieber, als einfach zu verschwinden und zu vergessen, was sie gesehen hatte – doch Keanu würde sich wahnsinnig für dieses kleine Geheimnis von Khasib interessieren und Shaulee tat genau das, was von ihnen verlangt wurde: Informationen zu bekommen.
Der Baron von Kleora schüttete sich aus einer gläsernen Karaffe einen roten Saft ein, von dem er zuerst einen tiefen Schluck nahm. Anschließend wandte er sich zu den beiden Schleiertänzerinnen und antwortete: „Belshazzer und seine Schwestern sind Geborene Mutanten. Meine Familie beschützt sie bereits seit Jahren. Wir sind... keine adeligen Monster, für die uns einige halten."
Noras Augen weiteten sich ungläubig. Natürlich kannte sie die Geschichten der legendären Mutanten, von denen es angeblich nicht mehr viele im gesamten Land gab, und ausgerechnet jetzt sollten sich drei von ihnen in unmittelbarer Nähe befinden? Auch Shaulee schüttelte den Kopf und meinte: „Wieso sollte Eure Familie diese Last auf sich nehmen? Ihr lebt gefährlich, indem Ihr ihnen Schutz gebt."
„Wir schützen Khasib", mischte Belshazzer sich ein und kam hinter dem Sofa hervor. „Ich brauche keinen Schutz." In Anbetracht seiner Größe und natürlichen Waffen zweifelte Nora keinen Augenblick daran, dass er die Wahrheit sprach. Und würde der Mutant nicht direkt vor ihr stehen und mit seinem Schweif aufgeregt durch die Luft peitschen, hätte sie wohl laut losgelacht, doch so blieb ihr der Kloß einfach im Hals stecken und sie brachte keinen einzigen Laut hervor.
Shaulees Miene verdüsterte sich ein wenig und sie hielt Nora weiterhin umklammert. Ihr Griff war fest und bestimmend und wirkte so, als wolle sie das junge Mädchen vor sämtlichen Gefahren beschützen – und Nora war sich sicher, dass genau das auch Shaulees Gedanke war. Sie hatte den Dolch, den die junge Frau unter ihrer luftigen Kleidung versteckt hatte, noch nicht vergessen und fragte sich immer noch, wieso Shaulee solche Sicherheitsvorkehrungen traf. Oder war Keanu die treibende Kraft dahinter, immerhin wollte er seine Tänzerinnen nicht einfach so verlieren...
„Ihr habt drei Namen genannt. Ich gehe dann also von drei Mutanten aus?"
Khasib senkte den Kopf. „Das ist richtig. Belshazzer kennt ihr ja schon. Soraya und Acelya sind scheuer und werden sich euch nicht zeigen."
„Das ist auch besser so", beharrte Belshazzer und seine Ohren zuckten in sämtliche Richtungen, aus denen er Geräusche vernahm. „Sie sind immerhin Weibchen und schwächer als ich." Khasib legte dem Mutanten eine Hand auf den Arm und schien ihn somit beruhigen zu wollen. Belshazzer, der eigentlich noch weiter hatte sprechen wollen, schloss den Mund wieder und fing an, in dem Wohnzimmer auf und ab zu laufen, Nora und Shaulee immer im Blick seiner Raubtieraugen. Der Baron sah ihm eine Weile dabei zu, dann meinte er: „Shaz, kann ich dich bitten, mal nach deinen Schwestern zu sehen?"
Der Angesprochene blieb stehen, dann nickte er. Mit lautlosen Schritten verschwand er nach oben, sodass die Menschen unter sich waren. Khasib warf einen beinahe schon verzweifelten Blick auf Shaulee und Nora und sagte: „Ich bitte euch inständig: Verratet sie nicht. Shaz weiß nicht, dass man ihn wohl sofort töten würde, wenn man ihn entdeckt. Er wurde dazu erzogen, im Schatten und unentdeckt zu bleiben."
„Das hat ja nicht gut funktioniert", kommentierte Shaulee und half Nora, sich auf das weiche Sofa zu setzen. Die junge Schleiertänzerin zitterte immer noch leicht, sackte einige fingerbreit ein und lehnte sich hinten an. Ganz langsam fiel die Anspannung der letzten Momente von ihr ab, sie atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
„Shaz wird auch manchmal übermütig", erklärte Khasib und lehnte sich gegen den Tisch, hielt seinen Saftbecher immer noch in der Hand. „Sie sind äußerst wertvoll und ich möchte sie nicht tot sehen. Abgesehen davon stellen Shaz und seine Schwestern meine einzigen Freunde dar." Geräuschvoll stellte er den Becher ab und fuhr fort: „Ihr seid keine Adeligen. Euch sollte ihre Existenz eigentlich egal sein."
Shaulee lächelte leicht. „Baron Khasib von Kleora... es ist nicht einfach, die Ruhe zu bewahren, während ein solches Monster plötzlich auftaucht und meine Gefährtin in Angst und Schrecken versetzt. Dieser Shaz, wie Ihr ihn nennt, mag auf Euch hören, aber ich weiß aus Geschichten, wie gefährlich und unberechenbar Mutanten sind. Es hätte auch Schlimmeres passieren können, das ist Euch bewusst, oder?"
„Natürlich." Khasib nickte. „Und ich trage die volle Verantwortung für das, was geschehen ist. Aber ich bitte Euch... wenn das Königshaus von Arensentia von ihnen erfährt, werden Sie sie mitnehmen und nur Kreon weiß, was dann mit ihnen geschehen wird. Nicht jeder Mensch verachtet die Mutanten... ich bin mit ihnen aufgewachsen und weiß, dass sie normale Lebewesen sind. Und dass sie es verdient haben, wie welche behandelt zu werden."
Die Stimme des jungen Barons klang so aufrichtig, so ehrlich, dass Nora den Blick hob und ihn musterte. Der Mann setzte sich tatsächlich für diese Wesen ein und das leichte Flehen in seinem Blick war nicht geschauspielert. Er hing tatsächlich an Belshazzer und seinen Schwestern und schien tatsächlich Angst zu haben, von ihnen getrennt zu werden.
„Wir werden nichts sagen", antwortete Nora mit leiser Stimme.
Shaulee wirbelte zu ihr herum und fragte: „Wie bitte?"
„Sieh ihn dir an, Shau", sagte Nora und stand langsam auf. Der Baron stand immer noch zerknirscht da und sah immer wieder verunsichert nach oben, als habe er die Befürchtung, dass Belshazzer jederzeit wieder auftauchen würde.
„Belshazzer hat mir Angst eingejagt, ja... aber er hat mich nicht verletzt. Im Gegenteil, er wollte mir nur helfen. Im Endeffekt ist Khasib für sie das, was Keanu für uns ist. Ein Anker in einer Welt, in der einem sonst niemand helfen würde."
Die Schleiertänzerin schlug den Blick nieder und seufzte aus. Nora merkte, dass sie mit ihren Worten durch die harte Schale ihrer Freundin drang und drückte die Schultern nach hinten durch. Ihre Glöckchen klingelten leise und mit vorsichtiger Stimme fuhr sie fort: „Und jeder hat seine Geheimnisse, nicht wahr, Shaulee?"
Die hübsche Frau warf ihr einen langen, intensiven Blick zu, dann meinte sie mit erstickter Stimme: „Es gibt Dinge über die Sandkörner, die du erst noch lernen musst, Nora."
„Zum Beispiel?" Nora strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und legte die Hände in ihren Schoß. „Hat es etwas mit der Waffe auf sich, die du mit dir führst?"
„Ich weiß nichts über Keanus Vergangenheit", meinte Shaulee und Nora runzelte verwirrt die Stirn. Was hatte denn das frühere Leben ihres Anführers mit alledem zu tun? Doch diese Frage sollte mit Shaulees nächsten Sätzen beantwortet werden: „Ich weiß nur, dass er es sehr schwer hatte und in Arensentia ein neues Leben angefangen hat. Keanu ist schon immer ein Verbrecher gewesen und er wird diese Eigenschaft niemals ablegen können. Wir sollen wie Sandkörner sein – in der Menge unbemerkt, doch ein einzelnes im Auge kann höllisch wehtun."
„Er bildet euch zu Assassinen aus?", ergriff der Baron von Kleora das Wort. „Und das ohne euer Wissen?"
Shaulee warf ihm einen scharfen Blick zu, der ihn sofort verstummen ließ. „Wir alle wissen davon. Aber Nora war noch zu jung, um es zu erfahren. Aber jetzt ist es zu spät und Keanu würde mir den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass ich es ihr jetzt erzählt habe."
Nora selbst hörte ihren Worten schon gar nicht mehr zu, sondern saß wie erstarrt auf ihrem Platz. Ihre Finger verkrampften sich ineinander und sie spürte, wie der Kloß in ihrem Hals zurückkehrte, nur viel größer als zuvor. Sie... sollte dazu ausgebildet werden, zu töten? Nora hatte immer geglaubt, dass sie in eine ganz normale Tanzgruppe aufgenommen worden war, dass sie ein halbwegs normales Leben führen könnte und jetzt kam heraus, dass Keanu alles daran setzte, um sie heimlich zu einer Meuchelmörderin zu machen?
„Deswegen die Regel mit den Glöckchen...", wisperte sie und fuhr mit einer Hand zu ihrem Handgelenk; das leise Klingeln ertönte und sie schluckte schwer.
„Wir sind keine Assassinen", versuchte Shaulee, sie zu beruhigen. „Im Endeffekt will er eine Diebesgilde aufbauen. Wir kennen die Häuser von unseren Kunden, lernen, uns so leise zu bewegen, dass uns keiner hört, und... Nouleera, bitte..."
Nora spürte, wie dicke Tränen ihre Wangen herunterperlten und auf die dünnen Seidenstoffe fielen, in die sie gekleidet waren. Jetzt allerdings fühlten sie sich falsch an, befremdlich und sie schämte sich dafür, so sehr hereingelegt worden zu sein. Shaulee war sofort mit einem Sprung bei ihr und wollte sie in ihre Arme nehmen, aber Nora stieß sie weg.
„Nein!", stieß sie zitternd hervor. „Ich werde bei so etwas nicht mitmachen! Ich bin keine Mörderin, ich bin keine Diebin, ich bin einfach nur eine Tänzerin!"
„Du musst auch nirgends mitmachen... Keanu hat jedem von uns den freien Willen gelassen, selbst zu entscheiden", fing Shaulee an, doch Nora schüttelte den Kopf und wollte ihr nicht zuhören. Natürlich hatte sie sich schon gedacht, dass Keanu nicht mit ganz sauberen Mitteln arbeitete, immerhin handelte er auf dem Schwarzmarkt, doch dass ihr Anführer, dem sie eigentlich vertraut hatte, so weit gehen würde, sie unterbewusst zu etwas zu machen, was sie gar nicht sein wollte... das ging zu weit!
Nora fühlte sich ausgenutzt und schlang die Arme um sich selbst. Shaulee traute sich nicht, näher an sie heran zu treten und in einer hilflosen Geste streckte sie eine Hand aus. „Nora... Wir werden über alles reden, in Ordnung? Nur bitte beruhige dich jetzt..."
Sie konnte sich nicht beruhigen. Nora hatte ihr altes Zuhause verlassen, war nach Arensentia gekommen, um ein neues Leben zu beginnen, eines, das vielleicht nicht sofort ehrbar war, aber ihr immerhin ersparen würde, eines Tages im Kerker des Palastes zu landen. Und nun war sie unwissentlich Mitglied einer Schurkengilde geworden, sie, die Jüngste von allen und behandelt wie ein kleines Kind, das nichts zu wissen brauchte.
Mit einem Schlag schienen die Mutanten von Khasib in den Hintergrund gerückt zu sein. Nouleera interessierte sich nicht mehr dafür, ob Belshazzer existierte oder nicht, wie gefährlich oder nützlich er sein konnte. Persönlich entstand in ihrem Kopf nur noch der Gedanke zur Flucht und ehe Nora ihn überhaupt richtig zu Ende denken konnte, hatte sie sich bereits in Bewegung gesetzt.
„Du kannst nicht alleine gehen", sagte Shaulee und ergriff sie am Arm. „Ich verstehe dein Gefühlschaos, das tue ich, wirklich, aber bitte, tu jetzt nichts Unüberlegtes. Komm mit zu Keanu und wir werden in Ruhe über alles reden."
Nora warf ihr einen bösen Blick zu und spürte, wie die Wut in ihr hochkochte. Shaulee stieß einen schrillen Schrei aus und stolperte von ihr zurück, hielt sich ihre Handfläche. Schmerztränen waren in ihre Augenwinkel getreten und sie hob keuchend den Blick, starrte Nora entsetzt an. Die junge Schleiertänzerin senkte den Blick peinlich berührt, dann schluchzte sie einmal auf und drehte sich um – sie rannte den Flur entlang, stieß den Diener zur Seite und öffnete die Haustür, um anschließend in die abgekühlte Nachtluft zu fliehen, alleine zu sein, um ihre wirren Gedanken ordnen zu können. Alles, was sie an diesem Abend erlebt und erfahren hatte, war einfach zu viel, um es einfach so verarbeiten zu können. Nora hörte noch, wie Shaulee ihr hinterherrief, doch sie verschloss sich vor der verzweifelten Stimme ihrer Freundin und rannte die Straße hinab, bis die Stille langsam dem immer näher kommenden Lärm des Basars wich.
Hier würde Shaulee sie erst einmal nicht finden.
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