Das Haus der Alchemisten (Teil 2)
„Das hier", fing Valon schließlich theatralisch an und deutete auf das Buch. „Ist die einzigartige Camille!"
„Das hier", erwiderte Chester mit vor der Brust verschränkten Armen und Valons Tonfall nachahmend, „ist ein Buch."
Der junge Alchemist warf ihm einen bösen Blick zu.
„Du verstehst nicht", meinte er kopfschüttelnd, dann strich er über die vergilbten Seiten. „Ich war ein Nichts, ein Niemand, bis ich schließlich, tief im Algenwald versteckt und mit Wachspapier geschützt, dieses Buch fand. Es hat mein Leben verändert. Unser aller Leben."
Langsam trat Chester näher und blickte auf die von Hand beschriebenen Seiten herab. Aufgeschlagen war gerade eine Seite, auf der jemand ein Auge gezeichnet und beschriftet hatte, daneben ein paar Informationen zu den jeweiligen Punkten. Chester hatte doch gewusst, dass etwas an dieser Camille nicht stimmte, dennoch war das Buch ziemlich interessant. Er streckte die Hand aus und wollte umblättern, aber Valon hielt ihn auf: „Ganz vorsichtig", warnte er mit leiser Stimme. „Es ist empfindlich."
Der Assassine blätterte schwungvoll um und blickte Valon herausfordernd an.
„Und jetzt? Werde ich verflucht?", fragte er und senkte den Blick – nur, um zu stocken und sich noch weiter vorzubeugen, als könne er die kleine Schrift so besser entziffern. Man merkte, dass das Buch bereits alt war, denn die Tinte war verblasst und teilweise kaum noch zu lesen und das Wachspapier hatte zwar einen Großteil beschützt, jedoch nicht alles. Doch was er entziffern konnte, war ziemlich interessant.
„...Idee, Tränke nicht... spritzen....direkter Weg... schnellere Ergebnisse erzielen", las er leise vor und warf dann einen Blick zu Valon. „Das hier ist ein Alchemiebuch."
Der Mann neben ihm nickte. „Ja. Vieles ist verschwunden, aber durch ein bisschen Ausprobieren konnten wir die Tränke rekonstruieren." Was wahrscheinlich häufig auch schief gegangen war, wenn Chester sich an die teilweise recht demolierten Möbel zurückerinnerte. Das bedeutete aber auch im Umkehrschluss, dass Valon tatsächlich so etwas wie ein Alchemist war, wenn auch einer, der sich alles selbst beigebracht hatte. Doch er besaß ein Buch, für das andere wohl ganze Dörfer auslöschen würden, ein Buch, das eigentlich zerstört hätte werden müssen, damit das darin enthaltene Wissen niemals wieder angewendet werden würde. Chester blätterte erneut um, dieses Mal ein bisschen vorsichtiger. Camille, der dieses Buch wohl gehört hatte, war sehr ordentlich mit ihren Aufzeichnungen gewesen, auch wenn sie sich eher der Anatomie des Menschen gewidmet hatte, als tatsächlich bei den Mutantenexperimenten mitzuwirken. Chesters Augen lasen quer durch das Buch und daraus erschloss sich ihm die ungefähre Aufgabe, die Camille zu Lebzeiten besessen hatte: So viel wie möglich über die Funktionsweise des Körpers herauszufinden und anschließend zu schauen, was sich nach dem Verabreichen der Tränke verändert hatte. Camille hatte sehr viele Zeichnungen angelegt, die beeindruckend gut waren und am Ende eines Kapitels ein paar Tränke notiert, um gewisse Symptome auftreten zu lassen oder zu lindern. Auf einer Seite entdeckte Chester einen Trank, der das Schmerzempfinden für eine gewisse Zeit lahmlegte und seine Hand zuckte zu seiner Schulter.
„Ja", beantwortete Valon seine stumme Frage. „Einer der wenigen Tränke, die gut erhalten sind."
Chester trat von dem Buch zurück. „Du weißt, was das für eine Entdeckung ist, oder?", fragte er.
„Natürlich. Sonst würde ich sie nicht so verehren", erwiderte Valon und kramte in seiner Manteltasche herum, förderte die alt bekannte Phiole zutage.
„Wenn man euch mit diesem Buch erwischt... dann hängt ihr alle am Galgen, egal, wie jung ihr sein mögt."
„Vielleicht." Valon trank seine Phiole aus und steckte den Stöpsel wieder drauf. „Aber du beschützt uns jetzt."
Chester bemerkte er jetzt, in was genau er sich reinmanövriert hatte. Er warf noch einen letzten Blick auf das Alchemiebuch, dann fragte er: „Und... ihr alle hier lernt das Zeug?"
„Nicht alle. Einige haben kein Interesse daran. Es ist ihnen zu ekelig", erklärte Valon mit leiser Stimme. „Aber sie fühlen sich wohl bei uns. Sie haben sonst niemanden. Also kommen sie her und beschützen unser Geheimnis." Er bedeutete Chester, hinaus zu gehen. „Das Abendessen wird gleich fertig sein. Ich muss noch etwas erledigen." Mit diesen Worten ließ er den Assassinen alleine und schlurfte den Gang in eine andere Richtung hinunter. Sein Mantel schleifte auf dem Boden hinter ihm her und Chester selbst juckte es in den Fingern, den Raum erneut zu betreten und sich das Wissen in dem Buch anzueignen. Doch Valon hatte die Tür vorsorglich abgeschlossen und der Schlüssel befand sich in einer seiner vielen Manteltaschen. Chester gab einen Seufzer von sich und fragte sich selbst, ob er Valon folgen sollte oder nicht – immerhin interessierte er sich schon, was der Kleine vorhatte, allerdings auch, was die anderen Mitglieder dieser kleinen Gruppe hier hin verschlagen hatte. Man sollte immer möglichst viele Kontakte knüpfen, wenn man irgendwo neu hereinkam, und wissen, welche Personen nützlich sein konnten und welcher eher weniger.
Und welche man beruhigt töten konnte, sollten sie zu sehr nerven.
Chester schlenderte schlussendlich zurück zu den anderen, die sich in dem größten der Zimmer versammelt hatten und sich unterhielten, Karten spielten oder Bücher lasen. Er entdeckte Quella nirgendwo und schnalzte leicht verärgert mit der Zunge; er hatte gehofft, über die junge Frau mehr Informationen bezüglich Valon herauszufinden, wer genau er war und woher er eigentlich stammte. Und wieso er sich überhaupt dazu entschieden hatte, diese teilweise auch sehr gefährlichen Tränke einer verstorbenen Alchemistin auszuprobieren – immerhin konnten die auch genauso gut schief gehen, sollte man nur eine Kleinigkeit falsch machen.
Chester schlenderte in die alte Küche, vorbei an den ganzen anderen Kindern, die in ihrer Tätigkeit innehielten und zu ihm sahen, wenn er sich ihnen näherte. Der Assassine grinste jeden einzelnen von ihnen zu und dachte sich dabei, dass Vesania an dieser ganzen Situation wohl tierischen Spaß haben würde. Die Tätowierung und er würden sich auf jeden Fall viel zu erzählen haben, wenn sie wieder da war. Chester wollte nicht daran denken, dass Vesania vielleicht nicht mehr zurückkommen würde und schob den unangenehmen Gedanken schnell beiseite, während er die Tür zur Küche öffnete. Als er noch Mitglied in der Gilde gewesen war, war er nur selten in der Küche gewesen, und dann auch nur, um Haszelle ein Stück Käse zu stibitzen. Bei ihrer Nachfolgerin, Glitzer, war dies nicht möglich gewesen, denn sie hatte wie eine eifersüchtige Tiermutter auf die Vorräte aufgepasst.
Quella stand am Herd und rührte summend in dem Topf um. Als Chester sich ihr näherte, hob sie den Kopf und sah ihn über ihre Schulter hinweg an. Ihre Augen glänzten glasig und sie fragte: „Und? Was haltet Ihr von der großartigen Camille?
Der Assassine streichelte mit einer Hand seinen Krallenhandschuh und antwortete: „Sie ist recht schweigsam."
Das Mädchen lachte hell auf. „Natürlich ist sie das", antwortete sie und schnappte sich ein Töpfchen mit Gewürzen, um eine kleine Hand voll zu entnehmen. „Es ist immerhin ein Vermächtnis. Aber manchmal habe ich das Gefühl, Camille durch das ständige Lesen der Zeilen gut zu kennen."
Lächerlich, dachte Chester.
„Faszinierend", sprach er desinteressiert aus. Faszinierend war einer seiner Lieblingsausdrücke – er passte einfach überall: Ein neues Gebiet? – Faszinierend. Ein Mord? – Faszinierend. Eine unbekannte Waffe? – Faszinierend. Eine mysteriöse Person? – Faszinierend. Blauschimmelkäse...
Zudem waren die Menschen immer freundlicher zu ihm, nachdem er das Wort benutzt hatte, und dabei betonte er es häufig gekonnt gelangweilt, um ihnen auch nichts vorzuspielen, aber anscheinend waren seine Mitmenschen einfach zu blöd, um den kleinen, aber feinen Unterschied herauszuhören. Quella schien ebenfalls zu ihnen zu gehören, denn sie sagte: „Oh, das finde ich auch. Ich wünschte, ich hätte sie zu Lebzeiten kennengelernt. Sie scheint mir eine sehr angenehme Frau gewesen zu sein."
„Dazu sage ich nichts. Ich verurteile keine Menschen, die ich nicht kenne, weder im positiven noch im negativen Sinne", erklärte Chester. Für ihn waren sie meistens Opfer, die leider am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt waren und er machte sich nur selten Gedanken darüber, was für Menschen sie gewesen waren. Und die, die er kannte... nun, die meisten wollte er zumindest nicht sofort umbringen. Das war immerhin auch schon mal ein Vorteil, wenn man bedachte, mit was für einem Genuss er tötete.
„Aber... Camille ist tot. Niemand kann sie kennenlernen", wagte Quella es einzuwenden. „Also kann ich mir ein Bild von ihr machen. Ihr habt Euch doch bestimmt auch etwas über Valon gedacht, ehe Ihr ihn kennengelernt habt, oder nicht?"
„Ich habe seine Fähigkeiten analysiert", antwortete Chester und trat zu ihr, um in den dampfenden Kessel schauen zu können. Kleine Fischflossen schwammen inmitten einer Gemüsebrühe, die zwar dünn war, aber ziemlich gut roch. Dazu lag auf einem der mehlbestäubten Tische ein Brot, das wohl noch gebacken werden sollte und Quella ging auf den Teigklumpen zu und knetete ihn vorsichtshalber noch einmal durch. Grüne Schlieren zogen sich durch den Teig und deuteten auf die eingerührten Algen hin, die man in Amphitrite als Deliktesse wahrnahm und deswegen überall mit reinpackte, wo es nur irgendwie Sinn ergab. Dann schob sie das Brot auf eine Holzplatte und trug dieses zum Feuer, um es zu rösten.
„Und danach habe ich Valon persönlich kennengelernt und ich habe erst dann beschlossen, dass er mir ein fähiger Mann zu sein scheint." Chester sah dabei zu, wie Quella das Brot vorsichtig auf einen Gitterrost ablegte und sich dann ein wenig Schweiß von der Stirn tupfte. Normalerweise buken Amphitriter ihr Brot nicht selbst, da es mehrere Bäckereien gab, die das Brot dann in riesigen Lehmöfen herstellten und das viel besser schmeckte als eines, das auf offener Flamme gebacken wurde, doch Quella schien das Handwerk äußerst gerne auszuüben, denn ein leises Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie den Flammen dabei zusah, wie sie an dem Teigfladen leckten.
„Er ist der Beste von uns", verriet das Mädchen ihm schließlich. „Ich glaube, er kann das nächste Wunderkind der Alchemie werden."
„Das nächste was?" Chester nahm sich einen Löffel und tunkte ihn in die Fischsuppe.
„Wunderkind", wiederholte Quella und sah dabei zu, wie der Assassine die Suppe geräuschvoll vom Löffel schlürfte und dann nachdenklich zur Decke starrte.
„Für ein Kind ist Valon aber zu alt", bemerkte Chester. „Mehr Pfeffer."
Quella nahm das dazugehörige Pöttchen aus dem Schrank und streute noch eine Prise herein. „Natürlich im übertragenden Sinne", fuhr sie fort. „Doch er kann bestimmt Großartiges vollbringen, wenn er weiter so schnell lernt."
„Wer ist denn das derzeitige Wunderkind der Alchemie?", fragte Chester und stach mit dem Löffelstiel in die Fettaugen der Suppe, um sich die Zeit zu vertreiben.
„Er ist bereits gestorben", erklärte Quella. „Die großartige Camille hat ihn häufiger erwähnt. Sein Name ist Feyjassan und er soll bereits im Alter von zehn Jahren komplizierte Tränke hergestellt haben."
„Natürlich", antwortete Chester und hob den Kopf, als sich die Tür zur Küche erneut öffnete und eine kleine, zierliche Gestalt herein kam.
„Die anderen sagten mir, dass du hier bist, Quella... Oh, verdammt."
Der Assassine richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ein breites Grinsen erschien auf seinen Lippen. Er musterte die pastellblauen Haare der Person vor sich, genau wie die spitz zulaufenden Ohren und meeresgrünen Augen, deren Pupille sich erstaunlich groß ausdehnte wie ein schwarzes Loch der Unendlichkeit.
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