Das Haus der Alchemisten (Teil 1)

Chester konnte nicht anders, als laut aufzulachen, als er Valons Unterkunft sah.

Das ist wahre Ironie...", murmelte er vor sich hin und stützte sich mit beiden Händen an dem Türrahmen ab. Seine Augen leuchteten regelrecht und mit den Fingern strich er über das dunkle Holz, fühlte die einzelnen Kerben, die in den Rahmen hineingeschnitzt waren.

Eine für jeden Assassinen der Gilde.

Das hier war sein altes Zuhause, jenes, in dem er viele Winter seines Lebens verbracht hatte. Die Krallenassassinen, die ihm ein Zuhause gaben, als er sie darum bat, die ihn ausgebildet hatten, weil er sich als fähig genug erwiesen hatte und die sterben mussten, als sie ihn verraten hatten. Chester wusste, dass sein Leben auch ganz anders hätte verlaufen können, wenn er sich den falschen Menschen angeschlossen hätte... aber manchmal, da brauchte man auch etwas Glück im Leben. Und was heute aus ihm geworden war bewies nur, wie gut er in dem war, was er tat. Oder getan hatte. Doch sobald Vesania wieder bei ihm war, würde der alte Schrecken von Metus, dem wahnsinnigen Assassinen, wieder aufleben, allerdings würde er dann aufpassen, diesem Lichtritter stets aus dem Weg zu gehen.

„Du erkennst es wieder", stellte Valon, der schräg hinter ihm stand, fest. Er entstöpselte gerade eine seiner Phiolen und trank daraus.

„Natürlich", antwortete Chester. „Ich hoffe, mein altes Zimmer ist noch frei!"

„Das wird sich einrichten lassen", meinte Valon und steckte seine Phiole in eine der vielen Manteltaschen zurück, während er mit der anderen Hand in einer weiteren herumkramte und einen Schlüssel herauszog. „Es gibt viele Zimmer, aber nur wenige von uns." Er bedeutete dem Assassinen, einen Schritt zur Seite zu gehen und öffnete die Tür. Chester war ja wirklich interessiert daran, wie viele von diesen angeblichen Alchemisten es tatsächlich gab und vor allem, wer diese Camille war, von der Valon so schwärmte.

Der Wahnsinnige trat über die Schwelle und fühlte sich, als würde er nach Hause kommen. Jahrelang war er hier ein- und ausgegangen und die Erinnerungen an seine Zeit als Gildenmitglied kamen zurück. Er sah Jeremiah vor sich, als er sich zum Anführer aufgeschwungen hatte, nachdem ihr alter verstorben war, sah die verschiedenen Assassinen in jeder Altersklasse durch die Gänge huschen, in den Räumen trainieren und gemeinsam essen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sehr er sich damals als Sechsjähriger vor allem gefürchtet hatte, und wie Leila, die Sklavin, die Jerry später zu seiner Frau gemacht hatte, ihn getröstet hatte, wenn er sich nachts in eine Ecke zurückgezogen hatte, um ein paar Tränen loszulassen. Als er immer älter geworden war, hatte er verstanden, dass die meisten Assassinen von ihnen gar nicht so dunkel und bedrohlich waren und er hatte sich immer mehr und mehr eingelebt, vor allem, als klar geworden war, dass er großes Talent besessen hatte, wenn es ums Schleichen oder dem Umgang mit dem Dolch gegangen war. Doch bis er seinen ersten eigenen Menschen tatsächlich getötet hatte, waren Jahre vergangen, bis Jerry ihm einen Auftrag zugeteilt hatte, einen alten Schankwirt zu ermorden, der es sich mit einigen seiner Gäste verscherzt hatte. Seinen ersten Mord vergaß man nie, fand der Assassine und jetzt, während er in den alten Dielen stand und die Hand über die Wände streichen ließ, erinnerte er sich nur zu gut, wie er den Dolch in das Herz des alten Mannes gestoßen hatte, wie dieser geröchelt und gezuckt hatte, bis das Leben schlussendlich aus seinem Körper gewichen war. Zuerst war Chester schockiert darüber gewesen, wie schnell ein Mensch tot sein konnte, doch dann hatte er begriffen, wie wertvoll diese Macht war, über Leben und Tod zu entscheiden, und wie sehr ihm die Vorstellung gefallen hatte, gefürchtet zu sein. Er hatte gewusst, dass das hier, das Assassinenleben, genau jenes war, das ihm vorherbestimmt gewesen war. Und er hatte sich immer für den besten der Gilde gehalten, zumindest bis zu dem Tag, an dem Eve ebenfalls ausgebildet worden war.

Das damals junge Mädchen, in Chesters Alter, hatte Jerry stark beeindruckt und auch Chester kam nicht umhin, sie bewundert zu haben: Sie hatte wahnsinnig schnell gelernt und war in ihren Fähigkeiten mit rasender Geschwindigkeit aufgestiegen, schneller, als Chester selbst, der immerhin ein paar Jahre mehr Ausbildung als sie erhalten hatte. Sie beide hätten sich wahrscheinlich zu den nächsten Anführern der Gilde mausern können, wenn Chester sie alle nicht vorzeitig ermordet hätte. Er und Eve hätten es weit bringen können und einen kurzen Augenblick lang fragte der Assassine sich, wie es seiner alten Freundin wohl erging und was sie gerade machte – wahrscheinlich geisterte sie noch in Collis herum und versetzte das Königreich in Angst und Schrecken, das würde zumindest zu ihr passen.

Ein leises Plop holte Chester aus seiner Gedankenwelt zurück. Valon genehmigte sich einen Schluck aus einer Phiole und sagte dann: „Wieder da?"

„Ich war nie weg", meinte der Assassine.

„Doch. Ich kenne verträumte Blicke", erwiderte der Alchemist und schlenderte an dem Wahnsinnigen vorbei. Chester folgte ihm und sah sich dabei die Einrichtung des alten Gildenhauses an. Viel hatte sich innerhalb der letzten Winter nicht verändert, die Möbel standen schlichtweg verstaubter an ihrem Platz – anscheinend hatten die Alchemisten es nicht so mit Saubermachen und Chester entdeckte mehrere rostrote Flecken auf dem Boden, die wohl nie wieder rausgehen würden. Hier hatte er viele seiner ehemaligen Freunde und andere Assassinen ermordet und seitdem hatte sich wohl niemand getraut, das Haus zu betreten, außer, um die Leichen wegzuschaffen. Und nun hatte sich eine kleine Gruppe hier eingenistet, in dem Glauben, dass hier wohl niemand suchen würde... Chester fragte sich, wie lange das wohl noch gut gehen würde. Er hatte bereits zwei Gilden untergehen sehen und wusste, dass man sehr vorsichtig sein musste, gerade in einer solchen Stadt wie Amphitrite.

Valon führte ihn in den Raum, der früher eine Art Versammlungsraum für alle gewesen war; hier hatten sie ihre Mahlzeiten eingenommen und sich für kleine Kartenspiele getroffen. Chester war meistens nicht da gewesen, sondern hatte viel lieber trainiert oder, zu einem späteren Zeitpunkt, seine freie Zeit mit Lynn und Aleko verbracht.

„Valon!" Ein ebenfalls recht junges Mädchen mit rosigen Wangen kam zu ihnen gelaufen, als sie eintraten. Chester fiel sofort die intensiven, meeresblauen Strähnchen in ihren hellbraunen Haaren auf; ein Indiz dafür, dass vor ihm eine Frau stand, deren gesamte Familie aus Amphitrite stammte. Ein weiteres Merkmal hierfür war ihr Name, den Valon gerade in den Mund nahm: „Quella. Hallo."

...warum gaben die Menschen in Amphitrite ihren Kindern solche lächerlichen Namen? Das war genauso trottelig wie der Name Stein... Aber jede Große Stadt hatte ihre Traditionen und in solchen Momenten war der Assassine glücklich, gebürtig aus Silva zu stammen.

Quella strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die, gekringelt zu einer sanften Locke, auf ihrer Wange zum Liegen kam und sagte: „Wir haben uns schon Sorgen gemacht, weil du so lange weg gewesen bist."

„Das braucht ihr nicht. Ich bin nie in Gefahr gewesen", erklärte Valon und deutete in Richtung Chester. „Metus, der wahnsinnige Assassine. Er schützt uns und ich helfe ihm bei einer Suche."

Quella schien Chester erst jetzt zu bemerken. Sie machte einen kleinen Knicks vor ihm und breitete dabei ihr hellblaues Kleid mit den Fingerspitzen aus. Dann lächelte sie ihn selig an und sagte: „Ich heiße Euch Herzlich Willkommen bei uns."

„Seid Ihr eine Adelstochter?", wollte der Assassine sofort wissen, denn wer ein solches höfliches Benehmen an den Tag legte, musste eine gewisse Ausbildung erhalten haben. Quella errötete leicht und antwortete: „Ich... nein." Sie schlug die Augen nieder. „Aber die großartige Camille weiß, wie man sich zu benehmen hat und wir halten uns alle daran. Wenn du kein Straßenkind sein möchtest, dann benimm dich auch nicht so. Die Menschen sind viel offener und freundlicher, wenn sie sehen, dass man gepflegt ist und somit haben wir eine größere Chance, vielleicht als Hausmädchen angestellt zu werden. Das ist in einem hübschen Adelshaus doch viel angenehmer als in einer stinkenden Taverne."

Quellas Augen leuchteten vor Freude und sie wandte sich wieder an Valon.

„Ein Graf würde mich vielleicht einstellen. Ist das nicht wundervoll?"

„Das ist es." Valon lächelte sie an. „Camille gibt gute Ratschläge für uns."

„Ja. Sie ist wundervoll." Quella seufzte vor Glück auf, dann sah sie wieder zu Chester. „Meine Familie besaß adelige Vorfahren, aber wir verloren diesen Status. Ich bin nur ein normales Mädchen. Aber Ihr seid sehr scharfsinnig, wenn Ihr das sofort erkannt habt."

„Ich erkenne einen Adeligen, wenn ich ihn sehe", antwortete der Assassine nur, der ja streng genommen selbst einer war und zudem Aleko kennengelernt hatte, einen der dem Klischee an nächsten Adeligen überhaupt. „Ich würde aber diese Camille gerne kennenlernen."

Seine Neugierde auf die Person wuchs immer weiter und Quella nickte kräftig. „Ja, Ihr habt Recht. Valon, zeig unserem Gast die großartige Camille!"

„Ich glaube, er wird nicht halb so begeistert sein wie wir", prophezeite der selbst ernannte Alchemist, aber er bedeutete Chester, mit ihm zu kommen. Sie kamen an ein paar weiteren Junge und Mädchen vorbei, allesamt in Valons Alter und Chester wunderte sich nicht, dass sie sich alle zusammengerottet hatten, um gemeinsam auf den harten Straßen der Stadt zu überleben.

Vor einer Tür, die früher zu Jerrys Büro geführt hatte, blieb Valon stehen und meinte: „Die großartige Camille befindet sich hier drin. Gebühre Ihr den Respekt, den sie verdient."

„Wenn du noch einmal das Wort großartig in den Mund nimmst, schneide ich dir deine Zunge heraus", brummte Chester. Valon bedachte ihm nur mit einem leichten Lächeln; er glaubte wohl, der Assassine würde seine Drohung nicht wahr machen, aber da irrte er sich gewaltig; Chester war vielleicht gestolpert und lag am Boden, aber er konnte immer noch mit seiner Waffe zustechen.

Der junge Mann öffnete die Tür und der Wahnsinnige linste hinein. Anstatt von dem ehemaligen Schreibtisch und den gemütlichen Stühlen war nur ein einfaches Podest aufgebaut worden, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Ein paar Kerzen standen auf einfachen Ständern daneben und wurden wohl bei Nacht angezündet.

Chester sah sich um, als hoffte er, Camille würde sich von der Decke hangeln und in einem atemberaubenden, akrobatischem Salto vor ihm landen, doch nichts dergleichen geschah. Valon ging ehrfürchtig zu dem Buch und senkte im stummen Respekt den Kopf. Chester beobachtete ihn und fragte sich einen kurzen Augenblick, ob das hier tatsächlich der Ernst des Kleinen war. 

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