Das Fundament bröckelt (Teil 5)
Ganz vorsichtig, um so leise wie möglich zu sein, drückte Nukritas die Tür hinter sich zu. Der ganze Raum war nur von flackernden Kerzen erleuchtet, die ein Mosaik aus Schatten und Licht an die Wände warfen, das große Himmelbett einhüllten, in dessen Laken die schmale Gestalt der Auserwählten ruhte.
Gregorius saß auf einem einfachen Stuhl vor ihr und hielt ihre Hand, seine Miene war kraftlos. Tränen schimmerten in seinen Augenwinkeln und Nukritas hielt erschrocken die Luft an: Er hatte den General noch nie weinen sehen.
Langsam trat der junge Lichtritter an das Bett, während Belle und Cheva ihre Köpfe neigten, um der alten Frau ihren Respekt zu zollen. Der Kopf der Auserwählten ruhte auf einem großen Kissen, ihre Haare um sie herum drapiert wie bei einem Fächer. Nukritas besah sich die eingefallenen Wangen, die faltige Haut und die schmalen, rissigen Lippen; würde sich die dicke Decke über ihrem Körper nicht in regelmäßigen Abständen heben und wieder senken, könnte man meinen, Lorraine hätte diese Welt bereits verlassen.
Nukritas' Verhältnis zu dieser Frau ging weit über den einfachen Respekt voreinander hinaus. Lorraine war wie eine Mutter für ihn gewesen, auch wenn sie sich die letzten Jahre erheblich zurückgezogen hatte, da sie selbst ihr voranschreitendes Alter und ihre schwindende Gesundheit am besten einschätzen gekonnt hatte. Doch der Lichtritter erinnerte sich noch genau daran, wie die Auserwählte für Gregorius eingetreten war, als die Dorfbewohner verlangt hatten, die Kirche aufzulösen. Es war einer ihrer letzten glanzvollen Auftritte gewesen, doch niemand würde ihren Einsatz für die Kirche je vergessen, denn ohne Lorraine würde sie heute wohl nicht mehr stehen. Mit Lorraines Zustand legte sich ein dunkler Schatten über die Kirche und Nukritas war sich sicher, eine bessere Auserwählte würden sie nie wieder haben.
„Chivan sagte, am Morgen sei sie erlöst." Gregorius brüchige, wispernde Stimme durchbrach die Stille in dem Raum.
Der Lichtritter blickte zu dem General runter und bemerkte mit einem Mal dessen müde Augenringe und eingefallene Wangen, und plötzlich befand sich in Kloß in seinem Hals: Auch Gregorius war nicht mehr der Jüngste und hatte vielleicht nur noch zwanzig oder höchstens dreißig Jahre zu leben. Das mochte auf den ersten Blick wie eine sehr lange Zeit erscheinen, doch für einen Mann wie Nukritas, der ja praktisch gesehen unsterblich war, schien es nur in Wimpernschlag zu sein.
Und Nukritas wusste nicht, was geschehen würde, wenn die Kirche plötzlich ohne Gregorius auskommen musste – der General war es, neben der Auserwählten, der all seine Kraft in deren Aufrechterhaltung gesteckt hatte. Nukritas konnte sich vorstellen, dass es alles andere als eine leichte Aufgabe gewesen war, vor den Trümmern einer einst so glanzvollen Einrichtung zu stehen und die wenigen Treuen, die geblieben waren, zu führen. Und dennoch hatten sie beide es geschafft und für Gregorius musste Lorraines Tod ein noch viel schwererer Schlag sein als für alle anderen Beteiligten.
Langsam ließ sich Nukritas auf die Bettkante gleiten. Seine goldbraunen Augen fingen das Gesicht der Auserwählten ein, das leichenblass auf dem dicken Kissen lag, den Mund leicht geöffnet, um sich das Atmen zu erleichtern.
„Solltest du nicht bei Liane sein?", fragte Gregorius schließlich nach mehreren Momenten des gemeinsamen, ehrfürchtigen Schweigens.
„Ich..." Nukritas stockte und er rieb sich die schweren Augen. Ophelias Tod hatte ihn schockiert und in einen apathischen Zustand versetzt, doch der nahende Tod von Lorraine war es, der ihn wahrlich trauern ließ. Diese unterschiedlichen Gefühlsregungen waren ihm seltsam und der Lichtritter bekam den Anflug eines schlechten Gewissens, wieso er nicht um seine Frau oder sein Kind wirklich trauern konnte. Die Antwort erklang in seinem Kopf, als wäre sie das einfachste der Welt: Weil du sie nicht geliebt hast.
Nukritas hatte Hedda geliebt. Aber er hatte nie einen Bezug zu seiner Tochter gehabt. Selbst nach fast einem Jahr war sie immer noch eine Fremde für ihn gewesen, genauso, wie er sich Ophelia niemals weiter angenähert hatte. Da war immer die Politik zwischen ihnen gewesen, wie eine unsichtbare Mauer, die Nukritas nicht hatte überwinden können. Liane hatte ihr Bestes gegeben, dass Nukritas sich besser fühlte und auch Cheva und Belle schienen ihm keinen einzigen Vorwurf zu machen – und wenn die Engel, die immerhin für die Toten verantwortlich waren, so etwas schon sagten, dann musste da ein Fünkchen Wahrheit drin stecken.
„Es war ein Schock", brachte er anschließend hervor und atmete ein paar Mal tief ein und aus. „Aber... Ich weiß nicht. Ich kann es schlecht in Worte fassen", redete der Lichtritter sich schlussendlich raus. Gregorius nickte nur; es war ihm wahrscheinlich egal, welche Beweggründe Nukritas dazu brachten, nicht um seine Frau zu trauern, sondern hier am Bett der Auserwählten zu sitzen, doch es zeugte von wahrer Stärke, dass sich der General überhaupt hatte informieren wollen. Nukritas würde es Gregorius auch nicht übel nehmen, wenn dieser mal über seine eigenen Gefühle sprechen wollte.
„Sie wird einen hohen Platz im Himmel bekommen", meinte Belle plötzlich und trat näher an das Bett heran. Sie hob eine ihrer zarten Hände und fuhr dann mit den Fingerspitzen an Lorraines faltiger Wange entlang. Die Augenlider der Auserwählten flatterten ein wenig, dann öffneten sie sich einen Spalt weit.
Gregorius beugte sich weiter vor, doch Nukritas fragte sich, ob die Auserwählte den Engel wohl sehen konnte oder eher nicht. Doch diese Frage wurde in den nächsten gesprochenen Sätzen beantwortet: „Ihr...", wisperte Lorraine und ihre Augen wurden groß vor Unglauben. „Ihr seid wunderschön..."
Belle lächelte und winkte Cheva vorsichtig an ihre Seite. Der jüngere Engel kam, die Flügel sittsam angelegt und lächelte die Auserwählte schüchtern an. Wenn selbst die Engel des Himmels vor einer Sterblichen eine solche Ehrfurcht besaßen dann musste Lorraine in der Tat etwas Besonderes sein. Nukritas selbst sah Lorraines Glaubensdiener um sie herumschwirren, die heller strahlten, als jemals zuvor. Selbst kurz vor ihrem Tod glaubte die Auserwählte an alles und dieser Glaube machte sie stark, stärker als jemals zuvor. Und dieser starke Glaube wurde in den letzten Atemzügen ihres Lebens belohnt.
„Es wird Euch gut gehen", versprach Belle. „Habt keine Angst."
Obwohl sie wie immer die Worte auf Drakonisch sagte, schien Lorraine keine Probleme zu haben, sie zu verstehen. Sie schaffte es, die Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen, dann wanderten ihre Augen zu Nukritas und schließlich zu Gregorius. Ihre Miene wurde ein wenig traurig und sie holte rasselnd Atem, bevor sie ausstieß: „Es tut mir Leid... Gregorius."
„Sag so etwas nicht", widersprach der General und hob ihre Hand zu seinen Lippen. „Du hast mehr für die Kirche getan, als irgendjemand anderes. Du hast mehr für mich getan, als mein eigener Vater oder meine Mutter. Du hast es dir verdient, in Ruhe zu sterben und einen Platz an der Seite unserer Götter zu erhalten."
„Ihr werdet alle Lichtritter kennenlernen", erzählte Cheva ihr leise. „Und Glaube. Und meine Mutter, meine Tante, meine ganzen Schwestern... Sie sind alle sehr freundlich. Es wird Euch gut ergehen." Belle sagte nichts dazu, aber sie berührte Chevas Arm sachte, als wollte sie ihre Engelsschwester dazu ermutigen, weiterzusprechen. Lorraine schaffte es zu nicken, dann drehte sie den Kopf wieder so, dass sie zur Decke starren konnte.
„Ich habe sie gesehen...", wisperte sie, während ihre Augen sich langsam wieder schlossen. Für immer, wie Nukritas in diesem Moment klar wurde.
„Die nächste Auserwählte..."
Lorraines Stimme wurde immer schwächer und wandelte sich zu einem heiseren Flüstern. Gregorius beugte sich näher zu ihr, einmal, um ihre letzten Worte zu verstehen, und einmal, um näher bei ihr zu sein, ihr beizustehen und wahrscheinlich auch, um sich selbst zu trösten.
„Natascha von Weißkreuz."
Langsam versiegte ihre Atmung und ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr. Und trotzdem stand auf Lorraines Lippen ein kleines Lächeln, so, als habe sich ihr letzter großer Wunsch noch erfüllt. Nukritas selbst spürte, wie seine Brust eng wurde und schnappte nach Luft. Belle und Cheva traten von dem Bett zurück und bedeuteten ihm somit, dass Lorraines Glasseele im Himmel zerstört worden war: Ihre Auserwählte war gestorben, doch mit letzter Kraft hatte sie ihnen ihre Nachfolgerin mitgeteilt. Der Lichtritter wusste nun nicht so wirklich, wie es weitergehen sollte und Gregorius machte keine Anstalten, sich von dem Totenbett zu erheben.
„Hol die anderen Kommandeure", bat ihn der General schließlich leise. „Sie müssen es erfahren. Sie alle müssen es erfahren."
Nukritas nickte und machte sich auf den Weg. Er wandte all dem Schrecken und der Traurigkeit den Rücken zu und spürte, wie sich ein harter Zug um seinen Mund schlich. Drei Tote innerhalb von weniger als einem Tag schien viel zu viel zu sein; und gleichzeitig wusste der Lichtritter auch, dass ihnen nur wenig Zeit zum Trauern blieb, denn die Bedrohung, die über ihnen schwebte und von Seth ausging, war noch nicht gebannt. Nukritas wusste, was seine Pflicht war, dass sie weitermachen mussten, egal, was passierte. Wenn die Kirche so stabil wäre, wie vor achtzig Jahren noch, dann wäre das wahrscheinlich auch weniger ein Problem gewesen, doch so bedeutete der Tod einer ranghohen Person erst einmal Chaos; denn auch wenn die Paladine und Templer ihren General besaßen, so waren die ganzen Priesterinnen und Priester führungslos; es gab nicht einmal Hohepriester oder ähnliches, denn so weit war Lorraine mit ihren Aufgaben nicht mehr gekommen. Nukritas wusste, dass viele die Kirche nun wieder verlassen könnten, wenn sie es nicht rechtzeitig schafften, die nächste Auserwählte aufzusuchen und davon zu überzeugen, ihren Platz in der Kirche einzunehmen; denn auch wenn die Kirche mehr Macht genoss als vor wenigen Jahren noch, so war sie dennoch im Ansehen der Gesellschaft nur geringfügig gestiegen, trotz allem, was sie bisher geleistet hatte.
Der Lichtritter spürte, wie ihn ein Gefühl der Traurigkeit erneut überkam und er schüttelte es ab. Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie in seinem Gesicht und er ignorierte Belle und Cheva, die ihn fragend ansahen. Es wäre so einfach, sich der Trauer hinzugeben, wie Gregorius es derzeit tat, aber Nukritas wusste, der General würde sich schon bald wieder aufraffen und seiner Arbeit nachgehen wie gewohnt. Und er selbst durfte ihn jetzt nicht enttäuschen; es war wichtig, dass er weiterhin stark blieb, dass er den anderen Paladinen zeigte, dass sie nichts zu befürchten hatten. Er musste als gutes Vorbild voran gehen und für einen kurzen Moment blieb der junge Lichtritter stehen und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab.
Noch vor wenigen Wochen war er vor Traurigkeit und seinen Verlusten beinahe innerlich gestorben, hatte sich selbst verloren. Und jetzt, wo ihn ein Schlag nach dem anderen im Magen traf, schien es, als würde er dadurch nur noch stärker werden. Nukritas hatte den Tod bereits miterlebt, er wusste, wie schmerzhaft es war, eine geliebte Person zu verlieren. Doch gleichzeitig wusste er auch, wie er besser damit umgehen konnte, mit dem Tod der Auserwählten wie auch mit dem von Ophelia und Hedda. Er tat ihnen keinen Gefallen, wenn er in ein tiefes Loch stürzte und wusste, dass viele zu ihm aufsahen und seine Reaktionen abschätzten. Und wenn er sich zurückzog, dann würden viele seinem Beispiel folgen.
Nukritas durfte nicht aufgeben, alleine schon um der Kirche Willen.
Langsam ging er weiter und suchte die verschiedensten Kommandanten der einzelnen Götter auf. Bis auf Cataphractes gab es zumindest für jeden Gott einen und er selbst würde bald der Kommandant der Vojin-Paladine sein. Nukritas straffte die Schultern und erzählte den verschiedenen Kommandanten die schlechten Neuigkeiten. Den meisten entglitten ihre Gesichtszüge, doch wirklich überrascht wirkten sie nicht; Lorraines schlechter Zustand hatte sich schon in der Kirche herumgesprochen. Die meisten verabschiedeten sich sofort von ihm, um der Auserwählten einen Besuch abzustatten, einzig und allein Nael, der Kommandant der Iantha-Paladine fragte ihn nach seinem Befinden, während Berlioz, sein Sohn, sich an sein Bein klammerte und mit glänzenden Augen zu Nukritas raufstarrte. Der Lichtritter betrachtete das Kind eine Weile, dann lächelte er Nael nur schmallippig zu und beteuerte ihm, er würde die Schicksalsschläge schon meistern. Nael warf ihm einen mitleidigen Blick zu, dann verschwand er und Nukritas machte sich auf den Weg in den Keller, um Tryson Bescheid zu geben.
Der Templerkommandant saß an seinem von ein paar Öllampen erleuchteten Schreibtisch und las einige Briefe durch, als Nukritas zur Tür hereintrat. Er hob den Blick nicht, blätterte die Papiere in seinen Händen durch und meinte nur schlicht: „Ist sie tot?"
Es war klar, wen er mit dieser Aussage meinte.
„Ja", antwortete Nukritas deswegen.
Tryson gab einen lauten Seufzer von sich und schüttelte den Kopf, dann ließ er den dicken Brief sinken. „Hat sie wenigsten die nächste Auserwählte verraten?", brummte er missgelaunt.
„Ja", antwortete der Lichtritter wieder.
„Wenigstens etwas hat diese Frau richtig gemacht." Tryson schüttelte den Kopf und wollte sich dem Dokument wieder zuwenden, da riss bei Nukritas der sonst so lange Geduldsfaden: „Lorraine hat alles richtig gemacht", fauchte er mit harscher Stimme, erhob sie allerdings nicht. Von dem plötzlich so feindseligen Tonfall schreckte Tryson auf und irritiert zog er die Stirn kraus, weil Nukritas es noch nie gewagt hatte, so mit dem alten Mutanten zu sprechen.
„Sie war unsere Auserwählte und das über fünfzig Winter lang. Sie war unsere Auserwählte, als diese Kirche in Trümmern stand und kaum einer mehr übrig war, sie zu bemannen. Lorraine hat uns nie aufgegeben, sie hat Gregorius und mich regelrecht großgezogen und war wahrscheinlich die beste Auserwählte, die diese Kirche jemals vorzuweisen hatte! Und auch, wenn Ihr sie nicht mögt, Kommandant, dann erweist ihr zumindest den Respekt und die Anerkennung, die sie verdient!"
Eine breite Kluft schien sich zwischen den beiden Männern auszubreiten. Nukritas atmete schwer und schloss die Augen, um wieder Herr seiner Gefühle zu werden. Dadurch, dass er den Kommandanten in der Höflichkeitsform angesprochen hatte, war eine Distanz zwischen ihnen aufgetreten, die es vorher nicht gegeben hatte. Doch Nukritas hatte zu oft mit anhören müssen, wie Tryson sich über Lorraine ausgelassen hatte und auch, wenn er keine Ahnung hatte, warum die beiden sich bis auf den Tod nicht hatten ausstehen können, so war es respektlos der Auserwählten gegenüber, so nach ihrem Tod über sie zu sprechen.
Der Lichtritter blickte in Trysons unnatürlich grüne Augen und rechnete damit, eine harte Aussage zurückzubekommen. Er wappnete sich innerlich für den Sturm, der gleich aufkommen musste, doch wider Erwarten seufzte Tryson schwer und sackte in seinem Stuhl ein wenig zusammen. Nukritas blinzelte verwundert und seine angespannte Körperhaltung ließ nach, während er den Kommandanten musterte.
„So kenne ich dich gar nicht..." Tryson schüttelte den Kopf, doch dann lächelte er leicht. „Langsam lernst du, dich durchzusetzen, Nukritas. Sogar gegen mich und ich gebe zu, das hatte ich nicht erwartet."
„Ich habe meine Meinung", erklärte der junge Paladin. „Und niemand kann mich davon abbringen." Nukritas Moralvorstellungen waren zwar sehr einseitig und er war ziemlich verbissen in diesen Angelegenheiten, doch meistens hatte er sie nur für sich behalten. Das war mit das erste Mal, dass er nicht einfach nur genickt, sondern sich verteidigt hatte. Und es fühlte sich gut an, bemerkte der Lichtritter. Ungewöhnlich gut.
„Das habe ich schon gemerkt. Du bist ein sehr rechtschaffener Mann", antwortete Tryson. „Und du behältst Recht. Auch wenn ich schon einige Auserwählte und Generäle habe sterben sehen... Lorraine war tatsächlich eine der Besten, die wir je hatten und es wird lange dauern, wieder jemanden von ihrer Person zu bekommen. Lorraine und ich hatten unsere Differenzen, ja, aber nun ist sie verstorben und es rühmt sich nicht, schlecht über Tote zu sprechen."
Tryson rieb sich das Nasenbein und wirkte äußerst verausgabt.
„Ich werde Lorraine den nötigen Respekt entgegenbringen. Das verspreche ich dir", endete der Kommandant schließlich. Nukritas stand wie versteinert dar; er hatte sich nicht im Geringsten erträumen können, dass Tryson ihm Recht gab und sich sogar entschuldigte. Aber anscheinend sah der alte Mutant so langsam nicht mehr das Kind in ihm, sondern der Lichtritter, der er tatsächlich war.
„Aber sieh es mir bitte nicht nach, wenn ich nicht fähig bin, zu trauern. Dafür habe ich zu viele gute Menschen sterben sehen", fuhr Tryson schließlich fort. Langsam setzte Nukritas sich auf den harten Holzstuhl vor seinem massiven Schreibtisch und stütze die Ellenbogen auf den Knien ab.
„Wir brauchen jemanden, der die nächsten Schritte einleitet. Jemanden, der uns durch diese Krise führt", fing der Lichtritter langsam und mit zögerlicher Stimme an. „Ich weiß nicht, wie Gregorius sich in den nächsten Tagen verhalten wird. Und du..."
„Ich werde alles regeln", versprach Tryson ihm und musterte ihn dann intensiv. „Aber du sprichst über unseren General, die Auserwählte, die Kirche... was ist mit dir? Es ist ja nicht so, als hättest du keinen Grund zum Trauern."
„Ich habe sie nicht geliebt", antwortete Nukritas mit störrischer Miene. Doch dann lichtete sich seine finstere Miene und er setzte erstickt wispernd hinterher: „Und das hat sie getötet."
„Ich hätte dich niemals zwingen sollen, wen zu heiraten", murmelte Tryson und kam mit seinem Rollstuhl schwerfällig um den Tisch herum, um sich neben den jungen Mann zu positionieren.
„Du hast mich nicht gezwungen", erwiderte Nukritas. „Ich... wollte es ja irgendwie. Um über Mirijam hinweg zu kommen. Ophelia brauchte meine Hilfe und irgendwo habe ich sie gebraucht. Es war ein großer Fehler von meiner Seite aus."
„Gib dir nicht die Schuld, Nukritas", meinte Tryson. „Ophelia hat gewusst, worauf sie sich eingelassen hat. Was passiert ist... ist tragisch. Aber daran trägt niemand die Schuld."
Nukritas knete sich mit einer Hand den Nacken, dann antwortete er: „Ich glaube diese Worte erst, wenn Chivan sie mir persönlich sagt." Immerhin war er Ophelias Bruder und somit ihr engster Vertrauter. Nukritas konnte sich erst dann wieder selbst im Spiegel anblicken, wenn Chivan ihm seinen Fehler verziehen hatte. Und bis dahin...
„Tryson. Gib mir etwas zum Arbeiten", meinte der junge Lichtritter und richtete sich auf.
„Möchtest du dich nicht lieber ausruhen?", fragte Tryson vorsichtig, doch der junge Mann schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn ich mich ausruhe, dann mache ich mir nur Gedanken. Ich möchte mich ablenken, von allem. Ich kann nicht einfach tatenlos herumsitzen und andere alles machen lassen, während das Böse in die Welt kommt, Seth sich als Wirt zur Verfügung stellen wird und wir die neue Auserwählte finden müssen. Wenn ich nichts zu tun habe, dann werde ich wahrscheinlich wahnsinnig." Er blickte Tryson tief in die Augen und dieser seufzte ergeben aus.
„...ich habe es damals nicht anders gemacht", meinte der Kommandant und Nukritas wusste nicht so recht, bei was genau, doch er fragte nicht nach. „Du kannst dir mal Gedanken darüber machen, welche unserer Priesterinnen wir zur Obersten Priesterin ernennen sollen. Die anderen Priester brauchen jemanden, an den sie sich wenden können, solange keine neue Auserwählte anwesend ist."
„Liane", meinte Nukritas, ohne groß darüber nachzudenken. „Sie wäre perfekt für die Aufgabe."
Tryson lächelte leicht. „Den gleichen Gedanken habe ich auch schon gehabt. Du kannst auch schon mal schauen, welche deiner Paladine eine Beförderung erhalten sollen. Sprich mit den Kommandanten. Sieh beim Training zu. Wähle deine Leute aus. Strukturen sind wichtig für die Zukunft unserer Kirche. Währenddessen kümmere ich mich um Lorraines Begräbnis."
„Sie wird wohl in der Gruft bestattet, richtig?", wollte Nukritas wissen.
Die Gruft befand sich sogar noch ein Stockwerk tiefer. Er selbst war noch nie so wirklich dort unten gewesen, aber in der Gruft wurden alle Anführer ihrer Kirche bestattet, damit man sich stets an sie erinnern konnte. Tryson nickte nur zu Antwort und streckte dann die Hand nach dem Brief aus, den er vorhin noch durchgeblättert hatte.
„Und... es gibt da noch etwas", fing er zögernd an. „Das wird dich vielleicht interessieren."
Nukritas hob verwundert eine Augenbraue hoch und nahm das Blatt Papier entgegen, das Tryson ihm hinhielt. Seine Augen huschten über die schwarzen Zeilen und mit jedem weiteren Wort, das er las, wurde das flaue Gefühl in seinem Magen stärker:
...ich möchte betonen, dass die meisten Bürger Collis' in Sicherheit gebracht werden konnten, doch selbst die meilenweit entlegenen Dörfer haben von einigen Schäden berichtet, die wir so schnell nicht werden beheben können.
Die Dritte Große Stadt ist gefallen und mit ihr das gesamte Königreich. Ich weiß nicht, wie genau diese Wildelfin es hinbekommen hat, doch sie schaffte es, die drei Drachen ihrer fügig zu machen und zudem diese schrecklichen Monster Feyjassans auf einen Schlag zu töten. Nyrociel, wie sie genannt wird, ist mit Abstand die gefährlichste Magierin, die ich jemals mit eigenen Augen erleben durfte und ich werde nie wieder den Fehler machen, sie zu unterschätzen. Ich habe Angst, gewaltige Behauptungen darzustellen, aber Nyrociel scheint auf eine Art und Weise mit dem Schattenreich kommunizieren zu können – und dazu befand sich auch noch die gesuchte Tänzerin Eve in ihrer Gesellschaft, was mir zu denken gegeben hat.
Ich habe Eve kennengelernt und weiß, dass sie eine Person ist, die ihren Prinzipien und Moralvorstellungen folgt. Sie würde niemals für jemand anderen arbeiten, wenn sie nicht der Überzeugung sei, das Richtige zu tun. Und Eve versucht das Richtige zu erreichen, egal, welches Mittel sie dafür anwenden muss.
Nach dem gewaltigen Kampf in Collis ist die Fraktion aus Silva wieder abgereist, um ihre eigenen Wunden zu lecken und das Königreich selbst trauert um seine Verluste. Ich werde noch bleiben, um beim Wiederaufbau zu helfen, aber ich prophezeie, dass noch Jahrzehnte vergehen werden, bis sich Collis von dieser gewaltigen Niederlage endgültig erholt hat.
Doch eines ist gewiss: Wenn eine Stadt stürzt, dann dauert es nicht mehr lange, bis andere Städte folgen. Wir müssen weitere, ähnliche Aktivitäten im Auge behalten, General, besonders weil Nyrociel etwas von der Wiederauferstehung des Weltenbaumes geschrien hat. In diesem Moment fuhr mir eine Gänsehaut über den kompletten Rücken, denn ich sah sie, umgeben von ihren schattenhaften Geistern, mit Blut besprenkelt und einem wilden Blick, umringt von ihren Eisklauenwölfen und ihrem Clan. Ob Eve sich ebenfalls diesem Ziel widmen wird, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass es noch andere Gruppierungen tun werden. Nyrociel ist im Begriff, das gesamte Land zu verändern, doch diese Veränderungen stürzen es in ein vollkommenes Chaos.
Ich hoffe, dass wir als Kirche die Ordnung herstellen können, und wenn uns das nicht gelingt, dann sollten wir zumindest dafür sorgen, von dem Chaos verschont zu bleiben. Ich würde Euch ja bitten, Lichtritter Nukritas auf die Wildelfen anzusetzen, aber ich befürchte, er hat andere Probleme, um die sich dringend gekümmert werden muss. Hier in Collis bekommen wir nicht viel mit, aber das gesamte Land scheint langsam, aber sicher, in Aufruhr zu verfallen und die Kirche wird, so wissen es die Götter, in den nächsten Jahren mehr gebraucht, als jemals zuvor...
Langsam ließ Nukritas den Brief wieder sinken. Er war von Tiana, der Priesterin, die mit Severin zusammen gewesen war. Auf ihren Wunsch hin war sie in Collis geblieben, um dort die Kirche wieder zu etablieren, außerdem war das Königreich inzwischen zu ihrer Heimat geworden. Und auch wenn Tryson den Angriff der Wildelfen vorhergesehen hatte, schockierte Nukritas es nun, die Nachricht schwarz auf weiß vor sich zu haben.
„Collis... ist gefallen...", wiederholte er mit Unglauben in der Stimme.
Keine Große Stadt ging einfach so unter. Das war in den letzten über zweihundert Jahren nicht passiert und niemand hatte jemals erwartet, dass es so weit kommen würde. Und doch war es nun so weit und als Nukritas den Blick hob und zu Tryson blickte, bekam er die Bestätigung von dem, was er dachte: Collis war nur der Anfang gewesen.
Es würden noch mehr Städte fallen. Das Chaos würde sich ausbreiten.
Ein Krieg würde unvermeidbar sein.
Nukritas dachte an seinen eigenen Schwur, dass er all den Unterdrückten ihr Zuhause wieder zurückgeben wollte. Und er dachte an die Worte, die Keona ihm im Himmel gesagt hatte, ihre Prophezeiung: „Fünf Jahre, Nukritas. Gib dem Land noch fünf Jahre Zeit. Dann sammelst du deine Leute und marschierst in Richtung des Weltenbaumes."
Nun wusste Nukritas, was ihn in nicht mehr allzu ferner Zukunft erwarten würde. Doch bis dahin hatte er noch genug Zeit, sich vorzubereiten und, was am wichtigsten war, ein wahrer Anführer zu werden.
Ein Anführer, dem das Volk vertraute und folgte.
Der Anführer, den die Kirche der Götter verdiente.
Endlich würde er der Lichtritter sein, der er sein musste.
Dies schwor Nukritas sich, bei all sieben existierenden Göttern des Landes.
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