Das Fundament bröckelt (Teil 3)

Schummriges Licht umfing ihn, als Nukritas langsam erwachte. Seine Kehle fühlte sich wund an und als er versuchte zu schlucken, hustete er sofort und schaffte es nicht, den Reiz zu unterdrücken.

„Ihr seid wach!", hörte er eine weibliche Stimme, dann trat eine Person in sein Sichtfeld und reichte ihm einen Becher mit Wasser, den Nukritas dankend annahm und in einem Zug leertrank. Als er sich beruhigt hatte, schaffte er es, sich ein wenig zu orientieren und wusste sofort, wo er sich befand: In Chivans Krankenstation, auf einem großen Bett liegend und seine einfache Kirchenrobe war bis auf den letzten Faden vollkommen durchgeschwitzt. Bei der Person vor ihm handelte es sich um Liane, die ihn besorgt musterte.

Liane, die gute, treue Liane... Hätte sie die Ausbildung bei Chivan nicht angetreten, wäre der Carnivor-Gläubige wohl schon lange verrückt vor Arbeit geworden. Die junge Frau war eine ihrer beste Priesterinnen, hatte ihr gesamtes Leben in den Dienst der Kirche gestellt, und wurde von allen bewundert und respektiert, vor allem von den jüngeren Priestern. Nukritas entspannte sich, ein ihm langjährig bekanntes Gesicht zu sehen, doch gleichzeitig kroch die Panik in seinen Adern hoch.

„Ophelia? Hedda?", fragte er mit schwacher Stimme.

Liane schlug die Augen nieder und setzte sich an die Bettkante. Vorsichtig nahm sie Nukritas' feuchte Hand in ihre und drückte sie mitfühlend. Ihr mitleidiger Blick sagte mehr aus als ein Wort es nur konnte und Nukritas ließ sich in das weiche Kissen zurückfallen, stöhnte schwer auf.

„Kommandant Tryson hat mir mehr von dem Mittel gegeben, das Euch schlafen lässt", meinte Liane mit schwacher Stimme. „Wenn Ihr noch ein paar Stunden benötigst..."

Das Angebot war verlockend.

Normale Kräuter und Mittelchen halfen Nukritas nur bedingt und Tryson hatte ihm schon häufiger einen alchemistischen Trank mischen müssen, wenn er sich stärker verletzt hatte, als er sich noch nicht selbst hatte heilen können. Und gleichzeitig wusste Nukritas, dass diese Flucht in eine Traumwelt ihn nicht davon befreien würde, was geschehen war. Körperlich fühlte er sich ausgelaugt und erschöpft, doch er war nicht wirklich krank und wusste, dass er sich so oder so den Konsequenzen würde stellen müssen, auch wenn es ihm niemand übel nehmen würde, wenn er sie noch eine Weile vor sich her schob.

Aber er konnte nicht.

Ophelia hatte dies nicht verdient, genauso wenig, wie sie die Behandlung zu Lebzeiten verdient hatte. Der Paladin hätte mehr für sie tun müssen, er hätte früher zu ihr gehen sollen... Aber wieso hatte auch Ophelia mit niemanden über ihre Trauer gesprochen? Über ihre Probleme, Sorgen und Ängste? Sie war immerhin nicht alleine in der Kirche, hatte Freunde und Familie...

„Chivan." Der Name verließ Nukritas' Lippen unbewusst und er richtete sich wieder auf. Mit schreckensgeweiteten Augen starrte er zu Liane, die den Blickkontakt tunlichst vermied. „Wie geht es ihm?"

„Er... bereitet die Leichen für die Bestattung vor", wisperte die Priesterin und schloss die Augen. „Er ist nicht mehr er selbst. Er rennt apathisch durch die Gegend und seine Handgriffe wirken einstudiert. Ich glaube, er steht vollkommen neben sich, aber die Arbeit scheint ihm gutzutun."

Nukritas zuckte zusammen, als er das hörte. Chivan war der beste Heiler in der Kirche, wahrscheinlich sogar des gesamten Landes, und Ophelia war seine geliebte Schwester gewesen. Dass er sie und seine Nichte auf einen Schlag verloren hatte, musste dem familienliebenden Menschen Chivan einfach so stark zusetzen, dass sämtliches rationales Denken ausgeschaltet worden war.

„Ist er... Gibt er mir..." Nukritas schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Glücklicherweise war Liane mit solchen Situationen bekannt und verstand ihn auch ohne Worte.

„Nein", antwortete sie und ließ ihre Stimme so mütterlich und sanft wie nur möglich klingen, obwohl sie beinahe gleich alt waren. „Ophelia hat schon länger Probleme mit ihren Gefühlen gehabt. Sie hat es nicht geschafft, mit der Traurigkeit in ihrem Innern umzugehen... Chivan wusste das und er weiß auch, dass es für ihr Handeln keine Schuldzuweisung geben kann."

„Ich habe sie getötet", wisperte Nukritas. „Ich hätte genauso gut selbst den Dolch führen können."

„Nein", widersprach Liane ihm, dieses Mal heftiger. Sie beugte sich zu ihm und legte ihre Hände auf seinen Arm. „Ophelia hätte sich selbst dann das Leben genommen, wenn Ihr sie über alles geliebt hättet, Nukritas. Spätestens dann, wenn Ihr wieder für Wochen weg gewesen wäret. Chivan nennt es eine Krankheit, aber er hat nie die Ursache dafür gefunden."

„Wieso habe ich nicht bemerkt?", wollte der Lichtritter mit schwacher Stimme wissen.

„Weil Ophelia das nicht wollte", antwortete Liane ihm und strich ihm die wirren Haare aus der Stirn. „Sie hat sich nur wenigen anvertraut. Um ehrlich zu sein, nur Chivan und mir. Wenn Ihr weg wart, war sie wie ein Schatten ihrer Selbst. Und als Ihr da wart, war sie verändert... Aber so konnte es nicht ewig weitergehen."

„Ich hätte sie nie heiraten dürfen", meinte Nukritas und zog die Beine an den Körper. Er fühlte sich wie ein kleines Kind und stützte die Stirn auf den Knien ab. Es sorgte ihn nicht, dass Liane ihn so zerstört sah; sie hatte ihn schon in ganz anderen Situationen kennengelernt und bei ihr musste er nicht so tun, als sei er ein strahlender Held. Bei ihr konnte er ganz und gar der trauernde Ehemann und Vater sein.

„Ihr hast Ophelia glücklich gemacht, mit allem, was Ihr ihr gabt", sagte Liane, doch ihre Stimme klang weit entfernt. „Eine Hochzeit. Ein Kind. Das sind ihre Wünsche gewesen. Sie hat gewusst, dass eure Hochzeit nur politisch gewesen ist und sie hat ihren Sinn erfüllt, denn die Dorfbewohner von Verbena sind in Sicherheit. Natürlich hatte sie sich gewünscht, dass Ihr sie aufrichtig geliebt hättet, aber sie wusste auch, dass es schwer für Euch sein wird. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie selbst sich so derart zerstören würde, dass der Tod für sie als einziger Ausweg galt. Sie wollte Euch nicht unglücklich sehen, Nukritas. Sie wollte wissen, dass Ihr glücklich wart und sie wusste, dass Ihr Euch eines Tages in eine andere Frau verlieben würdest, doch sie wäre dann im Weg gewesen."

„Sie wäre niemals im Weg gewesen", wiederholte Nukritas verbittert. „Ich habe sie gemocht. Und ich fand unsere Ehe nicht schlimm oder belastend..."

„Das hättet Ihr aber, wenn die Richtige gekommen wäre." Langsam stand Liane auf und wiegte den Kopf hin und her. Ihr Blick war unendlich traurig, auch sie hatte Nukritas' Frau sehr gerne gehabt. „Ich möchte, dass Ihr Euch nicht die Schuld gebt. Niemand trägt die Schuld an Ophelias Entscheidung, nur sie selbst. Versprecht Ihr mir das?"

Liane hatte versucht, ihm zu erklären, was zu Ophelias Selbstmord geführt hatte. Selbst ihre Worte, dass sich die junge Frau so oder so das Leben genommen hätte, beruhigten ihn nicht, doch er nickte, um Liane nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.

„Ruht Euch noch ein wenig aus", meinte Liane und ihre Stimme klang sichtlich erleichtert. „Gregorius sieht nach Euch, wenn..." Sie stockte und sprach nicht weiter.

„Wenn was?", hakte Nukritas sofort nach und stützte sich auf seine Ellenbogen. Doch Liane schüttelte nur den Kopf. „Ihr könnt keine weitere Belastung ertragen, Nukritas."

„Ich bin derjenige, der entscheidet, was er verkraften kann und was nicht", knurrte der junge Lichtritter. „Sagt es mir, Liane. Das ist ein Befehl!"

Liane wurde kalkweiß im Gesicht und sah zu, wie Nukritas endgültig aufstand und sich aus dem Bett erhob. Er hatte seine Autorität noch nie so zur Schau gestellt wie jetzt, doch sie zeigte definitiv ihre Wirkung: Liane senkte die Augen und ging sogar in die Knie, bettete die Hände sittsam auf ihren Oberschenkel, während sie mit erstickter Stimme wisperte: „Die Auserwählte Lorraine liegt im Sterben."

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