Das Fundament bröckelt (Teil 2)
„Ophelia?"
Nukritas rief fragend in den Raum, als er die hölzerne Tür öffnete. Seine Gemächer im Vojin-Turm waren großzügig ausgestattet und sogar Hedda würde, sobald sie älter war, einen eigenen Raum bekommen können, ohne weit von ihren Eltern getrennt zu sein. Familien in der Kirche erhielten solche Privilegien, da ihre Arbeit sie sonst so sehr einspannen würde, dass sie sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen würden. Früher, hatte ihn ein älterer Paladin einst mal erzählt, war eine Hochzeit sehr schwer gewesen, denn es hatte strikte Regeln gegeben, die die meisten dann doch abgeschreckt hatten. Doch heutzutage wurde alles ein wenig lockerer angegangen, auch wenn Nukritas glaubte, dass sie eines Tages wieder in ihr altes Verhalten zurückfallen würden.
Seine Frau hatte sich bereits früh schlafen gelegt, die Decke um ihren weiblichen Körper geschlungen und die runden Konturen zeichneten sich im Halbdunkeln verführerisch ab. Nukritas spürte zwar nicht das geringste Bedürfnis danach, Ophelia anzufassen, aber er spürte ein wenig Zuneigung, während er sie beobachtete. Sie war seine Frau und auch, wenn er sie nicht liebte, verdiente sie eine bessere Behandlung als bisher. Nukritas setzte sich auf die Bettkante und war sich sicher, dass Ophelia durch die Bewegung erwachen würde; das tat sie nämlich immer, wenn er später als sie – was immer der Fall gewesen war – zu Bett gegangen war, wenn er denn überhaupt geschlafen hatte.
„Ich wollte mich bei dir entschuldigen", fing der junge Paladin vorsichtig an. Er starrte durch das Fenster in den sternenklaren Himmel und sah die etlichen funkelnden Punkte, die so zahlreich waren, dass man gar nicht erst versuchen musste, sie zu zählen.
„Ich war in letzter Zeit viel zu beschäftigt und du hast dich nie beschwert. So etwas verdient Respekt und Anerkennung", fuhr der Lichtritter fort und überlegte dann, was er nun sagen würde. „Und ich werde versuchen, mehr Zeit für euch zu erübrigen. Hedda braucht ihren Vater und du deinen Ehemann." Er zögerte. Sollte er das mit der Liebe ansprechen oder lieber nicht? Nukritas wusste es nicht... Er musste Ophelia zwar erklären, wieso er sich manchmal nicht wie ein liebestoller Trottel verhielt und konnte dann nur darauf hoffen, dass sie es verstand. Aber wie Tryson schon gesagt hatte, seine Frau war alleine schon mit dem Gedanken in diese Ehe gegangen, dass es genauso enden würde. Außerdem war Ophelia sehr intelligent und diplomatisch und würde bestimmt mit allem umgehen können, was Nukritas ihr sagen würde.
„Also... Würdest du dich kurz aufrichten? Ich möchte dir beim Gespräch lieber in die Augen gucken", sagte Nukritas und berührte Ophelia an ihrer Schulter. Ihr Arm fiel zur Seite und im Licht der Sterne erkannte der Lichtritter einige glänzende Flecken auf dem Laken. Was... Ophelia erzählte ihm immer, wenn sie blutete und das hatte sie erst vor einer Woche getan. War es vielleicht eine Störung? Der Paladin würde Chivan bitten, sich das mal anzusehen, auch wenn es ihn stutzig machte, das Blut an einer Stelle zu finden, die er nicht erwartet hatte. Ophelia war sonst immer sehr reinlich und achtete darauf, nichts zu beschmutzen.
Nukritas fuhr sich über das Gesicht und griff nach einer Öllampe, um sie anzuzünden.
„Nukritas", hielt Belle ihn plötzlich auf. Ihre Stimme klang ernst und dunkel. Der Lichtritter zündete den Docht an und meinte: „Was ist denn los, Belle? So kenne ich dich gar nicht."
Er wandte sich dann wieder Ophelia zu, die sich immer noch nicht gerührt hatte.
„Oh je...", murmelte er. „Geht es dir so schlecht, Ophelia?"
„Nukritas", versuchte es nun auch Cheva, doch der Lichtritter beachtete sie nicht. Er stellte die Lampe auf das kleine Tischchen neben dem großen Bett, packte seine Frau an den Schultern und drehte sie auf den Rücken, um zu schauen, ob sie vor Schmerz nicht vielleicht bewusstlos geworden war.
Zuerst konnte er das breite, rote Grinsen, das ihm entgegenlachte, nicht einordnen. Stumm saß er auf der mit weichen Federn gefüllten Matratze und starrte Ophelia an, die regungslos, mit blasser Haut und weit geöffneten Augen an die Decke starrte, während blutige Tränen über ihren schlanken Hals rannen.
Dann spürte er, wie beide Engel an seine Seite traten. Belle legte ihm eine Hand tröstend auf die Schulter, dann wisperte sie: „Ihre Seele wurde in dem Moment zerschmettert, als du den Raum betratst."
„Du hättest sie nicht mehr retten können", fügte Cheva hinzu.
„Aber...", fing Nukritas fassungslos an. In seinem Kopf herrschte eine unglaubliche Leere und stöhnend fasste er sich an die Stirn.
„Hol Gregorius", hörte er wie durch viele Stoffschichten hindurch, wie Belle Cheva den Befehl gab. Nukritas blieb einfach sitzen und streckte die Hände nach seiner toten Frau aus, ehe er sie plötzlich zurückzog, als habe er sich verbrannt.
„Das...", versuchte er erneut, zu sprechen. „Das ist... das... ist... meine... Ich habe... Und sie... Ich bin dafür verantwortlich..." Seine Stimme war heiser, obwohl er nicht geschrien hatte, und er spürte etwas Nasses seine Wangen herunterrinnen. Der Blick verschwamm vor seinen Augen und der Lichtritter spürte die federnde Umarmung von Belle, die ihre Flügel um ihn schlang.
„Es ist nicht deine Schuld", murmelte Belle ihm ins Ohr. „Ophelia hat sich bewusst selbst dafür entschieden. Du kannst nichts dafür."
Doch ihre Worte erreichten den jungen Lichtritter nicht. Vor sich hin stammelnd und jammernd schüttelte er den Kopf, während Belle weiter zu ihm sprach und ihm versicherte, dass dies hier nicht seine Unterschrift trug. Nukritas wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während er versuchte, das Bild zusammenzusetzen, jeden einzelnen Splitter aufzuklauben und versuchen zu verstehen, was genau geschehen war. Was war der Auslöser für Ophelias Entscheidung gewesen? Hätte er es verhindern können? Nukritas hatte das Gefühl, mit einer einzigen Entscheidung ein Leben zerstört zu haben und er wusste, es war kein Gefühl: Es war die Wahrheit.
„Bei Kreon! Nukritas!"
Die Stimme von Gregorius brachte den Trauernden zumindest dazu, den Kopf zu heben und völlig aufgelöst zu dem entgeisterten General zu blicken. Cheva, die neben ihm stand, ließ gerade eben seine Robe los, mit der sie den alten Paladin wohl gezwungen hatte, ihr zu folgen, und schlich zu Belle, die sich immer noch an Nukritas' Rücken schmiegte. Der junge Lichtritter fuhr sich durch die Haare, schluckte schwer und meinte mit brüchiger Stimme: „Sie... hat sich umgebracht..."
„Das sehe ich...", murmelte Gregorius gedankenverloren, dann riss er die Augen mit einem Mal weit auf. „Das Kind!"
Das Kind.
Hedda.
Sein Kind.
Nukritas schaffte es, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen und stand mit zittrigen Beinen auf. Er war noch immer damit beschäftigt, als Gregorius schon längst in Heddas kleines Kämmerlein gestürzt war und keinen einzigen Ton von sich gab. Nukritas schleppte sich zu der Tür und hielt sich am Rahmen fest, das Bett mit seiner toten Frau im Rücken.
„General?", krächzte er und starrte dessen ihm zugewandte breite Schultern an.
Langsam hob der Angesprochene den Kopf und in seinem Blick befand sich unendliche Trauer. Nukritas' Finger klammerten sich in die Ritzen der Steinblöcke und ihm schien, als würde er gleich umfallen. Sein Herz pochte wie wild und schien gleichzeitig stehen zu bleiben, der Blick verschwamm immer wieder vor seinem Augen und er fühlte sich frei und schwerelos und dennoch schien ihn ein Felsbrocken niederschmettern zu wollen. Schwindel packte ihn, als Gregorius sich langsam umdrehte, ein Bündel aus Stoff in den Armen.
„Es tut mir Leid, Nukritas...", wisperte er, dann kippte er das Bündel leicht, sodass der junge Mann in die toten Augen seiner Tochter blicken konnte.
Nukritas hatte sich in keinem Moment mehr gewünscht, ohnmächtig zu werden. Ein Schmerz schoss durch seinen Kopf und er gab ein Stöhnen von sich, während er in die Knie ging. Seine Beine konnten sein Gewicht nicht mehr tragen und er stützte die Handballen auf den kalten Stein, keuchte und kniff die Augen vor Schmerz zusammen. Die Zeit um ihn herum schien still zu stehen, niemand bewegte sich oder sagte ein Wort, ja, selbst das Atmen schien ihnen allen schwer zu fallen. Die Stille drückte Nukritas noch weiter nach unten und er wusste nicht, wo er hin sollte, was er nun machen sollte, wie er sich zu bewegen hatte... Gar nichts. In seinem Kopf herrschte eine ungebändigte Leere und gleichzeitig wisperte eine Stimme in seinem Innern zu: Das ist deine Schuld.
Ein unverständlicher, verzweifelter Laut verließ Nukritas' Lippen und seine Knie schmerzten bereits vom langen Knien auf dem Boden – wie lange war es gewesen? Der Paladin vermochte nicht, es zu sagen, doch er hockte weiterhin in der Kälte, starrte einen unsichtbaren Punkt an und wusste noch nicht einmal mehr, ob er weinte, oder einfach nur in eine Trance verfallen war...
Doch er wusste, dass ein gequälter Schrei seine Lippen verließ.
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