Das Fundament bröckelt (Teil 1)

 „Das letzte Mal habe ich einen von ihnen gesehen, als General Ferris einen von Ciella erhalten hat, um sich gegen die Bedrohung der Schattentänzer zu wehren", meinte Tryson mit unüberhörbarer Bewunderung in der Stimme, während Gregorius um Guerre herumschlich um ihn aus allen Blickwinkeln zu betrachten. Nukritas selbst saß an einem der runden Tische im Speisesaal und aß einen deftigen Eintopf mit Fleisch und Gemüse, während er dem jetzigen General bei seiner Betrachtung zusah.

„Ciella meinte, er wird uns wegen Seth helfen können", erklärte der junge Lichtritter und brach sich ein Stückchen Brot ab, um es in den Eintopf zu tunken. Ihre Köche in der Kirche gaben sich die größte Mühe, leckere Mahlzeiten zuzubereiten und waren dank ihres wachsenden Reichtums in der Lage auch einmal etwas anderes als Haferbrei und wässrige Suppen aufzutischen. Außer ihnen dreien – vieren – befand sich niemand im Speisesaal; ihre Rekruten und Paladine waren angewiesen worden, den ehrwürdigen Lichtritter bei seiner Erholung nicht zu stören. Einzig Belle und Cheva hatten neben ihm Platz genommen und naschten immer dann von seinem Teller, wenn sie glaubten, er sähe es nicht. Nukritas ließ sie gewähren, immerhin hatten sie brav auf ihn gewartet, bis er aus der Himmelsebene zurückgekehrt war – und das vor den Augen ihrer neuesten Rekruten, die sich, natürlich, sofort auf die Knie geworfen und ihn angebetet hatten. Kommandant Nael, der ihr Ausbilder zu dem Zeitpunkt gewesen war, hatte sie freundlicherweise wieder zur Besinnung gerufen und anschließend einen jungen Mann mit einer Botschaft zu Gregorius und Tryson geschickt.

Die Freude, dass Nukritas wieder da war, wurde von den schlechten Nachrichten, die er mitbrachte, überschattet und nachdem Tryson den Blick von dem Ciellen-Krieger abgewendet hatte, wurde seine Miene ernst und nachdenklich.

„Wenn Seth tatsächlich auf dem Weg ist, der Körper für dieses... Ding zu werden, dann müssen wir schnell handeln", griff er ihr voran gegangenes Gespräch wieder auf. Auch Gregorius hielt inne und antwortete: „Ich werde einige unserer Paladine entsenden, um weitere Informationen einzuholen. Vielleicht weiß irgendjemand von einer seltsamen Macht, die gespürt wird. Oder irgendwelchen Veränderungen in der Umgebung. Es gibt immer Anzeichen für das Böse, das in das Land eindringen will."

Tryson lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und klopfte mit den Fingern nachdenklich auf die Lehne. „Wir müssen langsam damit beginnen, Hauptmänner und Leutnants zu ernennen", meinte er schließlich. „Persönlich können wir unmöglich jeden einzelnen Trupp begleiten, Nukritas wird bei uns am dringendsten gebraucht und du bist zu alt." Dass der Templerkommandant selbst im Rollstuhl saß und somit nicht wirklich perfekt für eine Erforschungsreise war, betonte er nicht extra, doch auch diese unausgesprochenen Worte hingen im Raum.

„Ich bin zu alt?", empörte sich Gregorius und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du vergisst, dass ich der Sohn eines Lichtritters bin!"

„Und wer klagt immer noch über Schmerzen im unteren Rücken?", fragte Tryson und der General schlug die Augen nieder. „Außerdem solltest du als General dieser Kirche nicht in der Weltgeschichte herumschlendern. Die Zeiten, in denen das für dich möglich war, sind vorbei. Wir werden unsere Paladine und Templer durchgehen und anschließend Hauptmänner sowie Leutnants ernennen, die dazu in der Lage sind, kleinere Gruppen anzuführen. Die Paladin-Kommandanten kennen ihre Rekruten inzwischen gut genug, um eine Aussage darüber tätigen zu können."

„Wieso darf ich nicht mit?", fragte Nukritas und tupfte die letzten Reste seines Essens mit einem weiteren Stück Brot auf. „Ich sollte dabei sein, wenn sie etwas herausfinden."

„Du gehst nicht mit", bestimmte Tryson. „Du hast andere Aufgaben. Sollten unsere Truppen etwas herausfinden, dann bist du der Dritte, der darüber informiert wird."

„Ich sollte der Erste sein", brummte Nukritas unzufrieden. „Was passiert, wenn sie auf Seth stoßen? Dann sind sie tot!"

„Paladine sowie Templer kennen das Risiko, mit dem sie in ihrem Dienst konfrontiert werden", erklärte Tryson mit erstaunlich geduldiger Stimme. „Wenn du ein Anführer sein willst, Nukritas, dann musst du lernen, Opfer zu bringen."

„Das klingt hart", erwiderte der junge Lichtritter, für dessen moralische Vorstellung sich für so etwas nur schwer vereinbaren ließ. „Ich kann doch den einen oder anderen Trupp begleiten. Welche Aufgaben warten denn hier schon auf mich?"

„Als unser einziger vollwertig ausgebildeter Vojin-Paladin wird dir bald die Aufgabe eines Kommandanten zukommen", erklärte Tryson ihm. „Wir wachsen stetig und müssen langsam anfangen, wieder Struktur einzubringen."

Nukritas starrte ihn ungläubig an. „Ich soll... der Kommandant der Vojin-Paladine werden?", wiederholte er und in seinem Kopf hörte sich diese Idee noch lächerlicher an. „Das... das wird nicht funktionieren! Die Männer haben viel zu viel Ehrfurcht, als sich ordentlich von mir auszubilden zu lassen."

„Sie werden es lernen", bestimmte der Mutant. „Du bist vielleicht etwas Besonderes, aber auch der größte Feigling gewöhnt sich an den Drachen vor seinem Haus", zitierte er anschließend ein altbekanntes Sprichwort aus dem Land.

„Tryson hat nicht Unrecht", stimmte Gregorius zu. „Und für dich ist dies eine ausgezeichnete Übung, um das Anführen zu lernen."

Nukritas war bei dem Gedanken immer noch unwohl und er spielte mit seinem hölzernen Löffel herum, indem er ihn zwischen den Fingern immer wieder hin und her drehte. Die beiden älteren Männer behielten Recht und es war nur klug, Nukritas als Kommandanten einzusetzen, dennoch... sich an einen Drachen vor dem Haus zu gewöhnen konnte auch mehrere Winter in Anspruch nehmen.

„Gut", stimmte er dennoch zu. „Also sind unsere Pläne in den nächsten Tagen Paladine in ihrem Rang zu befördern, nach Seth zu suchen und mich zum Kommandanten zu ernennen."

„Vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber ja." Gregorius nickte. Dann zögerte er und sah kurz zur Seite, schien zu überlegen, ob er noch weitersprechen sollte. Cheva, die sich über Nukritas' Schale gebeugt hatte und mit dem Finger die letzten Reste aufklaubte, sah zu ihm und meinte: „Er sorgt sich wegen der Auserwählten."

„Cheva!", schimpfte Belle. „Wir sollen uns doch nicht in Gespräche einmischen."

Der Engel ließ die Flügel traurig hängen, antwortete aber mit fester Stimme: „Ich mag die Auserwählte. Und es macht mich traurig, dass es ihr schlecht geht. Ich habe Gregorius darüber sprechen hören, als du im Himmels warst, Nukritas."

„Was ist mit der Auserwählten Lorraine?", fragte der Lichtritter sofort nach und nickte Cheva dankend zu. Ohne sie hätte Gregorius ihm wahrscheinlich einiges verschwiegen, doch so seufzte der General schwer auf. Nukritas kannte Lorraine seit seiner Geburt. Ihre Ansichten waren vielleicht ein wenig verbohrt und alt eingesessen, doch sie hatte sich seiner Erziehung gewidmet, wie Gregorius es getan hatte. Lorraine war es gewesen, die ihn in Geschichte unterrichtet hatte, ihm Lesen und Schreiben beigebracht und etliche Kirchenlieder vorgesungen hatte, wenn er krank gewesen war. Zwar hatte Nukritas dank seiner Ausbildung zum Paladin mehr Bindung zu dem General aufgebaut, aber er hatte die Auserwählte immer geschätzt und respektiert. Dass sich ihr Zustand anscheinend verschlechtert hatte, versetzte ihm einen Stich im Magen, auch wenn das zugegeben nicht wirklich unerwartet kam: Die Auserwählte Lorraine hatte bereits ein hohes Alter erreicht und es war absehbar gewesen, dass sie nicht mehr allzu viele Jahre durchhielt.

„Lorraine ist erkrankt", erklärte Tryson schließlich, denn Gregorius schien die Worte nicht über die Lippen bringen zu können. „Chivan und Liane kümmern sich derzeit um sie und wahrscheinlich wird sie sich wieder aufraffen. Wie jedes verdammte Mal", fügte er mit einer Spur von Bitterkeit in der Stimme zu. Der Templer und die Auserwählte hatten sich nie leiden können und ihre Abneigung war sogar ihren Neuzugängen bekannt. Wieso genau das so war hatte Nukritas nie erfahren und er wollte gerade nachfragen, als sich die Türen öffneten und Ophelia hereinkam.

Seine Frau trug eine weite, rote Kirchenrobe, ihre schwarzen Locken waren elegant hochgesteckt und sie trug Hedda, Nukritas' Tochter, auf ihrem Arm. Ihre Augen leuchteten, als sie den Lichtritter erblickte und erleichtert rief sie: „Nukritas, du bist wieder da! Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht..."

Dem angesprochenen Paladin selbst lief es eiskalt den Rücken herunter. Er hatte dank der ganzen anderen Gedanken und Probleme in seinem Kopf seine Frau und sein Kind vollkommen vergessen. Nicht nur vergessen, er hatte noch nicht einmal daran gedacht, sie zu informieren und hatte es auch nach ihrer kleinen Besprechung nicht vorgehabt. Ihn überfiel ein schlechtes Gewissen und er stand ein wenig verspätet auf, um Ophelia zu begrüßen. Seine Frau schien ihm einen Kuss geben zu wollen, doch Nukritas wich dem aus; er schaffte es nicht, ihr derartige Liebesbekundungen zukommen zu lassen, denn seine Gefühle für Ophelia basierten auf rein freundschaftlicher Natur.

Er hatte versucht, sie zu lieben, doch seit der Geburt von Hedda hatte er eingesehen, dass er es einfach nicht konnte. Da war kein entfachtes Feuer in seinen Adern oder ein seltsames Kribbeln in seinem Bauch, wenn er sie ansah oder in ihrer Nähe war. Er mochte und respektierte sie als die intelligente, schöne und freundliche Frau, die sie war und konnte sie alleine schon dank des Umstands sehr gut leiden, weil sie Chivans Schwester war, doch mehr war für ihn einfach nicht möglich.

Und dabei hatte er es wirklich verzweifelt versucht, dennoch...

Ophelia bemerkte seine abweisende Reaktion und trat beinahe enttäuscht einen Schritt von ihm zurück, räusperte sich verhalten. Sie lächelte trotzdem und meinte: „Wir haben dich vermisst." Hedda streckte eine Hand nach ihm aus und Nukritas streichelte ihr liebevoll über den Hinterkopf.

„Es tut mir leid", antwortete er. „Es war weder meine Absicht, so plötzlich zu verschwinden, noch, dich zu verletzen. Ich habe neue Hinweise wegen Seth erhalten, und..."

„Ich verstehe", unterbrach Ophelia ihn und lächelte immer noch. Doch irgendwie wirkte es aufgesetzt und Nukritas wusste instinktiv, dass er seine Frau, die er zu lieben geschworen hatte, stark verletzte mit dem, was er gerade von sich gab.

„Speisen wir denn heute Abend alleine zusammen?"

Nukritas zuckte innerlich zusammen. Er hatte seit über einem Jahr keinen Abend mit Ophelia alleine verbracht und hegte nicht den geringsten Wunsch dazu, denn er wusste, worauf seine Frau hinauswollte. Er wusste, dass Ophelia enttäuscht sein würde, doch gleichzeitig... Ihre Hochzeit war rein politischer Natur gewesen und die junge Adelige hatte gewusst, worauf sie sich einlassen würde. Sie hatte dennoch zugestimmt, doch irgendwie schien sie... mehr von ihm zu erwarten, als er ihr geben konnte.

Bei Vojins flammender Hellebarde, Nukritas konnte ein weiteres Problem beim besten Willen nicht benötigen. Seth war ihm eigentlich schon genug, außerdem würde er bald ein Kommandant sein und die Aufgaben, die ihn dann blühten, verpassten ihm eine Gänsehaut.

„Das würde er sehr gerne", meinte Gregorius anstatt seiner, weil Nukritas selbst mit seiner Antwort viel zu lange gezögert hatte. Ophelia hingegen wich einen weiteren Schritt zurück und nun fielen ihre tapfer aufrechterhaltende Fassade und ihr Lachen in sich zusammen.

„Wenn der General schon sprechen muss, damit mein Mann Zeit mit mir verbringt, dann ist mir klar, dass Nukritas andere Pläne geschmiedet hat." Sie schlug den Blick nieder und wandte sich ab. „Ich möchte Nukritas nichts befehlen... Und ich entschuldige mich für die Störung. Auf Wiedersehen, die Herren." Ophelia drückte Hedda fest an sich und verschwand geschwind, während Nukritas ihr unglücklich hinterher sah. Eine Weile stand er so da, ehe sein Blick langsam zu Gregorius wanderte.

„Mir scheint es, dass du deine ehelichen Pflichten nicht gut erfüllst", meinte der General schließlich. „Ophelia ist eine gute Frau, Nukritas, und diese Behandlung hat sie nicht verdient."

„Aber ich liebe sie nicht", meinte der junge Lichtritter. „Ich mag sie. Und ich bin überglücklich, dass Hedda geboren wurde, aber ich kann mit Ophelia nicht..." Er hielt inne und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann einfach nicht", endete er dann mit schwacher Stimme und seufzte aus. „Und es tut mir selbst leid."

„Da braucht dir gar nichts leidzutun", mischte Tryson sich ein. „Es wäre schöner, wenn ihr glücklich verliebt wäret, aber Ophelia wusste von Anfang an, dass es genauso enden kann. Für sie sollte es keine Überraschung sein und sie sollte ihr Schicksal akzeptieren. Ich habe bisher keine politische Ehe erlebt, wo die beide Parteien glücklich bis an ihr Lebensende gewesen sind."

„Gegenüber Ophelia finde ich das sehr hart", erwiderte Gregorius. „Vor allem, weil es dein Plan gewesen ist."

„Damit das Thema überhaupt vom Tisch ist", verteidigte Tryson sich. „Du hast dem zugestimmt."

„Nachdem ich dich deswegen stark kritisiert hatte", erläuterte Gregorius das Verhältnis. „Du bist kein Heiliger, Tryson. Wenn Nukritas Ophelia nicht liebt, dann hätte er sie niemals heiraten sollen."

„Du tust ja gerade so, als hätte ich beide dazu angestiftet. Ophelia kam aus freien Stücken zu Nukritas und hat ihm den Antrag gemacht und er hat zugestimmt. Und die Probleme entstehen auf der fraulichen Seite. Damit ist wohl klar, wer mit der Situation nicht gut klarkommt."

„Hast du deine Frau damals auch so behandelt?", fragte Gregorius mit Bitterkeit in der Stimme. „Das war doch auch eine politische Ehe, oder nicht?"

„Ich habe meine Frau geliebt", presste Tryson, der plötzlich hochrot angelaufen war, hervor. „Und sie ist wenigstens nicht vor mir weggerannt wie Geneviere!"

Es wurde still im Raum. Gregorius war kalkweiß geworden und trat vor Tryson einen Schritt zurück.

„Das... ist nicht nötig gewesen, Tryson." Gregorius' Stimme klang kalt, schneidend... und verletzt. Der Kommandant, der sich so sehr in Rage geredet hatte, hielt erschrocken inne und seine Augen weiteten sich. Er öffnete den Mund und stammelte: „Greg... Gregorius, es... es tut mir Leid."

„Spar dir die Mühe", fauchte der sonst so ruhige General ihn an. Nukritas war so erschrocken über den plötzlichen Gefühlsausbruch, dass er einen Schritt zurücktrat und selbst Tryson drückte seinen Oberkörper in die Lehne seines Rollstuhls, wartete auf das, was noch kommen würde. Doch es kam nicht. Stattdessen seufzte Gregorius einmal schwer aus und wandte sich um. „Ich werde nach unserer Auserwählten schauen", brummte er, anscheinend nur, um irgendetwas zu sagen, was einen gewissen Grad an Normalität an den Tag legte. Dann verschwand er einfach und ließ Tryson mit Nukritas alleine.

 Belle und Cheva hatten sich aneinander gekuschelt und lösten sich nun langsam voneinander. Nukritas starrte auf seine leer gegessene Schale, dann fragte er zögernd: „Wer war... oder ist... Geneviere?"

Tryson, der wohl in seinen eigenen Gedanken versunken gewesen war, hob erstaunt den Kopf und blinzelte den fragenden Lichtritter ein paar Mal an. Dann antwortete er: „Sie ist... Gregorius'... Freundin gewesen. Liebschaft. So etwas in der Art."

Das waren Informationen, die Nukritas zum ersten Mal hörte und er bekam große Augen. „Ich habe nicht gewusst, dass..." Und hier endete er bereits auch schon wieder. Nie war ihm der Gedanke gekommen, Gregorius könnte eine Verflossene haben, die, aus welchem Grund auch immer, nun nicht mehr an seiner Seite weilte. Der General hatte nie über eine Frau gesprochen und auch nie den Gedanken geäußert, dass er sich eine in seinem Leben wünschte. Für Nukritas war Gregorius das Sinnbild eines Paladins gewesen, der Kirche treu ergeben und wahrscheinlich noch mit Zölibatsgelübde. Nun breitete sich in ihm ein schlechtes Gewissen aus, dass er nie an eine andere Möglichkeit gedacht hatte und der Paladin knetete seine Finger ineinander, bis er mit leiser Stimme fragte: „Und was genau ist passiert?"

„Das ist eine ziemlich traurige Geschichte", begann Tryson. „Eigentlich müsste Gregorius sie dir selbst erzählen, aber er reißt alte Narben nur ungern wieder auf."

Nukritas nickte. Er verstand das. Und dennoch wusste er, dass der Templerkommandant ihm die Antworten liefern würde, die er sich wünschte.

„Es ist schon einige Jahre her", begann Tryson schließlich und rollte sich selbst an den Tisch, um die Arme auf der hölzernen Platte abstützen zu können. „Es begann alles, als Gregorius zum General ernannt wurde, mit sechzehn Jahren."

Nukritas rechnete schnell zurück. Er war einundzwanzig Winter alt, Gregorius war bereits vor über vierzig Jahren zum General ernannt worden. Demnach war die Geschichte geschehen, als er noch nicht einmal geboren war, was auch offensichtlich der Grund war, wieso er noch nie etwas davon gehört hatte.

„Er hat eine Einladung zu einem kleineren, unbedeutenden Ball erhalten. Damals waren Kirchenmitglieder noch äußerst gern gesehene Gäste, auch wenn die Macht der Kirche damals schon schwand. Wie du weißt, waren unsere Lichtritter zu dem Zeitpunkt bereits seit einem Jahrzehnt tot."

Nukritas nickte schweigend. Er kannte diesen Teil der Geschichte inzwischen zu gut.

„Aus Höflichkeit, um seine Ernennung zu feiern, wurde Gregorius also eingeladen. Und er freute sich sehr darauf. Zwar hat er immer große Angst vor dem Versagen gehabt, aber er wusste auch, dass er, wenn er sich anstrengte, die Kirche retten würde. Und damals hat ihn die Adelswelt noch fasziniert. Geblendet von schicken Fracks, Westen, ledernen Hosen und eleganten Stiefeln, von Rüschenkleidern, Reifröcken und kunstvoll verzierten Frisuren... Gregorius besaß einen Hang zu dieser Welt, die ich immer gehasst habe. Aber ich schweife ab."

Auch das verwunderte Nukritas. Gregorius schaffte es zwar, sich äußerst wohlwollend und respektvoll auf einem Adelsball zu verhalten, doch der junge Lichtritter hatte nie den Eindruck gehabt, dass der General gerne auf solche Veranstaltungen ging. Was war nur passiert, dass sein Cousin sich so derart geändert hatte?

„Also ging er auf diesen Ball. Und dort lernte er Geneviere kennen. Sie war die Tochter eines niederen, äußerst gläubigen Adeligen, und war beeindruckt von der Tatsache, dass Gregorius der General unserer Kirche ist. Und er erlag sofort ihrem Charme und hat angefangen, um sie zu werben. Anfangs lief es auch sehr gut zwischen ihnen und Gregorius blühte regelrecht auf, knüpfte einige Kontakte in die Adelswelt und wurde von allen freundlich aufgenommen. Er war äußerst beliebt in ihren Kreisen, ein Umstand, der mir ebenfalls immer verwehrt worden ist." Tryson schnaubte abfällig aus. „Aber auch darum geht es nicht. Irgendwann hat ein reicher Händlerssohn angefangen, Geneviere ebenfalls zu umwerben. Gregorius sah in ihm keine Bedrohung... Um ehrlich zu sein tat das niemand. Im Gegensatz zu unserem General hatte er nichts vorzuweisen, außer seinem enormen Reichtum und seinen Einfluss. Er sollte das Imperium seiner Eltern erben und hat daher nie selbst auch nur einen einzigen Finger schmutzig gemacht. Sein Name ist Vincent Goldsteen gewesen."

„Ist er tot?", fragte Nukritas verwirrt.

„Nein", lautete die nüchterne Antwort. „Nach der Hochzeit hat er den Namen seiner adeligen Frau angenommen: Vincent von Arlan."

„Lautet Genevieres Name so?", hakte Nukritas nach, dem Übles schwante. Tryson nickte und erklärte: „Gregorius warb mehrere Jahre um Geneviere, ebenso wie Vincent. Und als unser General Geneviere anschließend um ihre Hand anhielt, war die Kirche bereits am Verfallen. Geneviere erkannte die Gefahr, in der die Kirche schwebte und verlangte von Gregorius, dass er seinen Posten als General aufgab, wenn er sie ehelichen wolle. Anfangs hielten ihre Eltern das für einen Skandal, aber dann fanden sie sich damit ab, da sie ebenfalls erkannten, dass die Kirche immer mehr an Einfluss verlor. Und das geschah im Übrigen verdammt schnell." Trysons Miene wurde mit jedem Wort, das er sagte, finsterer. „Niemand von uns hätte es Gregorius übel genommen, wenn er gegangen wäre. Aber er tat es nicht. Er sagte: Mein Platz ist in der Kirche der Götter, und das nicht als einfacher Paladin, sondern als General. Ich muss meinem Vater diesen Respekt erweisen. Geneviere war empört über seine Antwort und heiratete nicht einmal zwei Wochen später Vincent."

„Zwei Wochen?", wiederholte Nukritas entsetzt.

„Ja. Gregorius selbst war am Boden zerstört und hat nie wieder einen Ball besucht, auf den sie zugegen gewesen ist. Er wollte ihre glückliche Ehe nicht mit ansehen. Und als die Kirche unterging, waren solche Angelegenheiten sowieso keine Probleme der Kirche mehr. Gregorius ist... nie über Geneviere hinweg gekommen, wie seine Reaktion gerade gezeigt hat. Er hat sich in seine Arbeit gestürzt, hat ein Gelübde zum Zölibat abgelegt und hat nie wieder auch nur ein Wort über seine Beinah-Verlobte verloren. Selbst dann nicht, als uns die Nachricht von der Geburt ihrer Tochter von vor siebzehn Jahren erreichte und man Gregorius bat, ihr den Segen der Götter zu schenken."

„Das ist ein ziemlich morbider Gedanke", meinte Nukritas angeekelt.

„Das dachte sich Gregorius auch. Er schickte einen anderen Paladin anstatt seiner und erhielt einen wütenden Brief über diese unsagbare Beleidigung. Meines Wissens nach hat Gregorius bis heute nicht darauf geantwortet und wird es wohl auch nie tun. Aber die Sache mit Geneviere nagt an ihm und als du zu uns in die Kirche gebracht wurdest, hat er sich um dich gekümmert, als wärst du sein eigener Sohn. Wahrscheinlich hat er mit deiner Hilfe ein wenig von seinem Schmerz kompensieren können."

Nukritas schwieg. Er hatte nie geahnt, welche Lasten Gregorius mit sich rumschleppte und verstand nun, wieso der General so verbohren darauf war, dass zumindest Nukritas' eigene Ehe glücklich verlief. Dass Tryson dahingehend eine ganz andere Meinung besaß, war ebenfalls verständlich. Nukritas linste den Mann aus Augenwinkeln an und meinte: „Deine Ehe war ebenfalls... politisch?"

„Es wurde bei der Geburt von Serenity bereits beschlossen, dass ich sie heiraten sollte. Als Kinder haben wir uns gehasst und als sie ins heiratsfähige Alter kam, habe ich es dank meiner Alchemisten-Ausbildung geschafft, die Hochzeit um knapp zehn Jahre hinauszuzögern. Doch als es dann so weit war..."

Er zuckte schwach mit den Schultern und starrte zur Decke.

„...sie war halt einfach nicht mehr das nervige Kleinkind, sondern eine erwachsene, hübsche und intelligente Frau. Ich hätte mir keine bessere an meiner Seite vorstellen können."

Nukritas wusste, dass Trysons Frau aufgrund seines Status als Alchemist vor über zweihundert Jahre exekutiert worden war, ebenso wie seine Kinder. Doch der Templer schien halbwegs darüber hinweg gekommen zu sein, und wenn nicht, dann verbarg er es zumindest verdammt gut. Doch diese unterschiedlichen Geschichten zeigten Nukritas, dass er, auch wenn er Ophelia nicht von Herzen liebte, etwas für seine Frau übrig hatte. Und er wusste auch, dass er sich um sie kümmern musste, ebenso wie um seine Tochter, für die er bisher nur wenig Zeit erübrigen konnte. Es war nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen und Ophelia überzeugte ihn alleine schon mit ihrer einzigartigen Geduld. Nukritas hätte beinahe an engelshafte Geduld gedacht, doch die gab es nicht, wie Belle und Cheva immer wieder aufs Neue bewiesen.

Der junge Lichtritter stand auf und meinte: „Ich werde nach Ophelia schauen. Ich muss... mit ihr sprechen."

Tryson nickte vorsichtig und schien noch etwas sagen zu wollen. Nukritas wartete eine Weile, doch aus dem Mund des Kommandanten drang kein Laut, also verabschiedete er sich und machte sich an den Aufstieg der unzähligen Treppenstufen zu seinem eigenen Gemach.

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