25. Das Ritual

„Das ist ein Scherz, oder?" fragte ich erneut perplex und richtete mich auf dem Sofa auf, während Hera weiterhin im Raum stand und mich grinsend anschaute.
Warum sollte ich mit ins Reich der Sterne dürfen, nur weil ich Hera liebte? Das machte doch keinen Sinn...
„Nein, es ist mein vollkommener Ernst" sie schüttelte den Kopf und nun stand ich ebenfalls auf und ging zu Hera herüber. Ihre Harre leuchteten immer noch und es schien nicht aufhören zu wollen. Das sollte also ein Zeichen sein?
„Aber warum?" fragte ich. Ich wollte mir nicht zu große Hoffnungen machen, um dann enttäuscht zu werden.
„Weil ich dir die Wahrheit sagen durfte" meinte Hera erklärend.
„Bedeutet das, du wusstet die ganze Zeit lang, dass du irgendwann ein Zeichen bekommst, dass ich mit ins Reich der Sterne darf?" fragte ich nun empört. Hätte ich das gewusst, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen.
Und tatsächlich nickte Hera:
„Ja, aber ich durfte es dir bis zu diesem Zeichen nicht sagen. Es musste aus freien Stücken kommen"
„Und warum wusstest du, dass es passieren wird?"
„Polaris hat es mir mitgeteilt und gesagt, dass ich ein Zeichen bekommen würde, wenn es soweit sei. Und dass du dann Polaris Gast sein würdest"
So langsam realisierte ich, was das Sternenmädchen mir da gerade offenbarte und ich rieb mir über die Augen. Doch als ich sie wieder öffnete, war Hera immer noch da, es schien kein Traum zu sein.
„Ich darf also wirklich mit dir zu den anderen Lichtkinder?"
Die Vorstellung mit Hera dort hinzureisen war unglaublich und so unwirklich. Aber vielleicht würde das meinen Blick auf die Welt komplett umdrehen.
Sie nickte, trat an mich heran und gab mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
„Ich kann's nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert, Hera" flüsterte ich nach dem Kuss in ihr Ohr.
„Glaub mir, ich habe auch nicht dran geglaubt, dass es wirklich passieren würde" antwortete sie leise und drückte sich herzlich an mich. Es war seltsam so nah an ihr zu sein, doch ich hatte das Gefühl, dass das meinem Körper sehr guttat.
„Wann können wir denn dorthin reisen?"
„Im Prinzip jetzt"
„Jetzt!?" ich blinzelte ein paar Mal überrascht und Hera schloss kurz ihre Augen und hielt sich mit der Hand die Stirn, als würde sie Kopfschmerzen haben.
„Hey, ist alles okay mit dir?" fragte ich sie besorgt.
Sie stöhnte kurz, dann schien aber alles wieder in Ordnung zu sein, denn sie öffnete die Augen und ein goldener Schimmer schien in ihrer Pupille zu sein.
„Ja, ich hab nur gerade etwas gesehen"
„Was denn?" ich runzelte mit der Stirn.
„Ich weiß jetzt wie das Ritual funktioniert, damit wir ins Reich der Sterne kommen" erklärte sie.
„Ritual? Und wie kommt es, dass du es jetzt weißt, wusstest du es etwa nicht vorher?"
„Nein, ich wusste es vorher nicht und jetzt ist es einfach in meinem Kopf"
Plötzlich löste sie sich von mir und ging zu ihrem Fenster hinüber und zog die Vorhänge zur Seite. Draußen prasselte immer noch der Regen gegen das Glas und die Wolken bedeckten den Himmel lückenlos.
„Heute werden wir keine Sterne sehen, aber es wird trotzdem funktionieren" murmelte sie vor sich hin und öffnete das Fenster, sodass kalter Wind hereinzog und die Ärmel meines Hemdes flatterten. Auch die Vorhänge wehten wie Gespenster zur Seite. Einige Tropfen fielen auf Heras Laminat, doch es schien sie nicht zu stören.
„Müssen wir jetzt ein Ritual vorbereiten, um ins Reich der Sterne zu kommen?" fragte ich das Lichtkind vorsichtig, weil das eher nach Voodoo, als nach irgendeiner Lichtkind-Stern-Magie klang.
Doch zu meiner, naja eine Überraschung war es dann irgendwie auch nicht mehr, nickte sie:
„Ja, kannst du bitte Mehl aus der Küche holen. Ich hole inzwischen Kerzen"
„Okay" antwortete ich nur, weil ich nicht verstand, wofür wir jetzt Mehl brauchten. Gesagt getan ging ich zurück in die Küche und suchte die Schränke nach Mehl ab. Letztendlich fand ich eine durchsichtige Plastikdose mit passender Aufschrift, die ich herausnahm. Es waren allerdings nur noch ein Drittel drin, hoffentlich würde das reichen.
Ich ging zurück in Heras Wohn- und Schlafzimmer, wo sie bereits sieben Kerzen auf dem Boden platziert hatte. Allerdings schienen die Kerzen einen bestimmten Platz zu haben, den sie verrückte eine um wenige Zentimeter.
Ich legte meinen Kopf ein wenig schief und fragte nachdenklich:
„Ist das der große Wagen?"
„Nein, der kleine und der hier oben ist Polaris" erklärte sie mir und deute auf die Kerze, die ganz links war und das Schlusslicht bildete. Und jetzt erkannte ich es auch.
„Und rechts daneben ist Yildun" murmelte ich wissend.
„Genau, Yildun ist auch kein normales Lichtkind. Er ist immer an Polaris Seite und kommt nicht wie wir auf die Erde"
„Faszinierend" konnte ich nur antworten. Dann fiel mir wieder ein, dass ich immer noch das Mehl in der Hand hielt: „Und wo soll das jetzt hin?"
Sie nickte dankend: „Das streust du zwischen die Kerzen, sodass man das Sternbild erkennt. Am besten lässt du keine Lücke"
„Ich geb mein Bestes" antworte ich schulterzuckend und fing an das Mehl in möglichst gerade Linien und lückenlos zu verteilen. Das Fenster war zwar noch geöffnet, aber der Wind hatte aufgehört zu wehen. Durch meine Sorgfalt brauchte ich für den Prozess allerdings einige Minuten. Hera beobachtete mich währenddessen und ihre Haare und Augen leuchteten weiterhin in golden Tönen.

Als ich fertig war, stand ich wieder aus der Hocke auf und klopfte mir Mehlreste von meiner Weste ab.
„Bevor wir weitermachen, solltest du wissen, dass die Zeit dort anders verläuft. Ist ein bisschen schwer zu erklären. Aber es wird sich für dich anfühlen, als wären wir nur eine Stunde da, in Wirklichkeit ist es aber ein ganzer Tag auf der Erde. Du solltest vielleicht jemanden Bescheid sagen, dass du eventuell erst am Dienstag wieder da bist"
„Verstehe, dann schreibe ich Arthur eben eine Nachricht" ich nickte und holte mein Handy aus meiner Hosentasche hervor.
„Gut, ich sage meine Schicht für Montag auch ab" sagte sie und ging zu einem zugeklappten Laptop herüber. Nach dem Anschalten begann sie direkt loszuschreiben.
Schnell tippte ich eine Nachricht an Arthur ein und schickte sie ab. Ich sagte ihm nicht, warum ich erst Dienstag wieder zur Uni kommen würde, aber da ich wusste, dass mein Studienfreund sehr tolerant war und meine Privatsphäre achtete, deswegen glaubte ich nicht, dass ihn dies stören würde.
„Ich bin fertig" sagte Hera plötzlich und ich nickte „Ich auch"
„Sehr gut, also machen wir weiter"
Von ihrem Schreibtisch holte das Mädchen eine Schere, nahm eine Strähnen zwischen die Finger und schnitt gut zehn Zentimeter der goldenen Haare ab. Als hätte sich ein Schalter umgelegt, hörten Heras Haare schlagartig auf zu leuchten und waren nun wieder natürlich blond. Nur die Strähne zwischen ihren Fingern leuchtete weiterhin. Der Anblick ohne ihre goldene Pracht war sehr ungewohnt, weil ich mich die letzten Minuten überraschend schnell daran gewöhnt hatte.
„Gehört das auch zum Ritual?" fragte ich sie, als sie die Strähne auf den Boden neben unser selbstgemachtes Sternbild legte.
„Ja, dieser Punkt braucht keine Kerze und symbolisiert mich. Also HR 8832. Die realistische Darstellung ist wegen der Entfernung nicht möglich, aber der Wille zählt" erläuterte sie und zeigte auf die Kerzen.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass hier gleich irgendetwas Magisches passieren soll" gab ich zu und spielte an meinem Nasenpiercing herum.
Hera lachte leise: „Das kann ich total nachvollziehen. Für mich ist es auch komisch"
„Na dann bin ich ja nicht alleine" lachte ich ein wenig.
„Froy, du wirst auch gleich nicht alleine sein. Ich bin immer an deiner Seite und du brauchst keine Angst haben"
„Das hab ich auch nicht" antwortete ich und es stimmte. Ich hatte keine Angst vor dem Ungewissen, inzwischen war ich einfach nur noch neugierig. Auch wenn ich wusste, dass mir niemand meine Erzählungen danach glauben würde.
„Sehr gut, als nächstes brauche ich auch noch ein paar Haare von dir"
„Von mir?" sagte ich perplex.
„Tatsächlich ja, aber nicht viel. Versprochen" sie hob die Hand „Wo soll ich am besten schneiden?"
„Uff" ich wuschelte mir durch meine weiterhin ungestylten Haare: „Am besten wohl oben eine Strähne, das fällt nicht so auf"
Heras abgeschnittene Strähne sah man in ihren langen Haaren schon gar nicht mehr.
„Alles klar" meinte sie und ich duckte mich ein wenig herunter, sodass sie einfacher meine Haare schneiden konnte. Nach ein paar Sekunden hielt sie eine kurze Haarsträhne von mir in den Händen. Direkt legte sie meine dunklen Haare auf ihre und drehte sich dann wieder zu mir um und meinte dann ein wenig ernster:
„Kannst du Blut sehen?"
„Kommt auf die Menge an" antwortete ich und schluckte einmal. Musste wir jetzt ein Opfer darbringen, um das Ritual durchführen zu können?
„In Ordnung. Froy, setzt dich bitte aufs Sofa, ich will nicht, dass etwas Unerwartetes geschieht und dich dann trifft"
Ich ging ihrer Bitte sofort ohne Widerrede nach, sie war schließlich die Expertin. Dann drehte sich Hera wieder um, sie hielt weiterhin die Schere in ihrer Hand.
„Mein Blut symbolisiert meine menschlichen Körper, meine goldenen Haare den Sternenkörper und deine Haare die Liebe des Magneten. Bleib wo du bist, Froy, egal was gleich passiert" wies sie mich erklärend an und ich nickte nur stumm.
Mit Schrecken sah ich an, wie Hera sich die Scherenspitze in die Hand rammte und das Blut herausquoll. Ich sah ihren schmerzverzerrten Blick, doch sie machte weiter und ließ ein paar Tropfen auf unser Haarbündel fallen. Dann ging sie ruckartig einen Schritt zurück und ich beobachtete mit offenem Mund, wie unsere Haare und Heras Blut sich vereinten und zu einem seltsamen leuchtenden Ding wurden, was gar keine Form mehr hatte. Außerdem gingen wie von Zauberhand alle Kerzen im Sternzeichen des kleinen Wagens nach der Reihe an.
Die Gefühle, die in meinem Körper herumtobten, waren genauso chaotisch, wie damals als ich Hera in ihrer goldenen Engelsgestalt gesehen hatte. Ich war fasziniert, überfordert, aber unglaublich dankbar so etwas sehen zu dürfen.
Plötzlich schossen die Flammen nach oben und Hera schrie kurz überrascht auf.
Doch sofort beruhigten sie sich wieder, aber ein seltsamer Rauch um waberte die Luft nur über dem Sternzeichen aus Mehl. Der Rauch war durchsichtig, aber schimmerte abundzu in bunten Farben. Außerdem wirkte er irgendwie dickflüssig, ich wollte es so gerne berühren.
Ich merkte wie ich aufgestanden war und langsam auf den Rauch zu ging, bis mich Heras Arm entschieden aufhielt. Sie legte ihre Hand auf meine Brust:
„Warte Froy, ich muss vorher noch etwas tun"
Ohne den Rauch zu berühren, tauchte Hera ihren Zeigefinger in das Wachs der Polaris Kerze, ohne sich zu verbrennen.
„Es könnte ein wenig wehtun" meinte sie entschuldigend und nahm meine rechte Hand und drehte sie so, dass die Innenseite nach oben zeigte. Dann drückte sie das heiße Wachs auf meine blauen Adern. Ich zuckte kurz zurück, doch das Wachs kühlte sofort ab und verfärbte sich in ein mir bekanntes Gold.
Den gleichen Prozess machte sie mit meiner linken Hand.
„Du bist jetzt mit mir verbunden und das Wachs gibt dir die Möglichkeit durch das Portal zu reisen"
„Aber wo ist das Portal?"
„Dieser Dampf über den Kerzen, wenn du ihn berührst, reist du ins Reich der Sterne"
„Was ist, wenn ich das Wachs dort verliere?" fragte ich besorgt und schaute auf die zwei goldenen Punkte.
Hera schüttelte den Kopf „Das ist nicht schlimm, raus kommst du immer. Also solange das Portal geöffnet ist, es schließt sich nämlich, wenn ich das Reich verlasse. Du musst als wirklich immer bei mir bleiben"
„Ich verstehe" ich nickte und schaute dann nochmal an mir herab „Kann ich denn wirklich so dorthin gehen?"
„Wie meinst du?" fragte Hera verwundert.
„Naja mit diesem Outfit?" meinte ich und Hera musste wieder leise Lachen:
„Froy, du lernst doch nicht meine Eltern kennen. Das Reich der Sterne ist ein Universum der Diversität, du wirst dort Lichtkinder in Menschgestalt sehen, die nicht mal im Ansatz so aussehen wie du oder ich. Niemand wird sich um dich kümmern oder dich schief angucken"
Ich seufzte und musste dann aber auch wegen meines blödsinnigen Gedankens lächeln: „Na schön. Ich bin bereit"
Hera lächelte mich an, nahm meine Hand und drückte sie ganz fest.
„Lass bitte erstmal nicht los"
„Werde ich nicht, wenn du mich nicht alleine lässt" erwiderte ich.
„Ich verspreche es dir" schwor sie mir und grinste dann: „Bereit für eine andere Welt?"
Ich nickte.
„Na dann los" sagte sie optimistisch und ging mit mir in einem großen Schritt hinein in den bunten dickflüssigen Rauch. In das Portal ins Reich der Sterne.

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